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Seit 1923 gibt es regelmäßigen Rundfunk in Deutschland. Einige Unternehmen schufen durch die innovative Formensprache ihrer Geräte Meilensteine des Designs. Eine Ausstellung und eine Tagung im Mannheimer Technoseum widmen sich in diesem Jahr dem Radio als Medium und Phänomen. Grund genug auch für uns, das Radio und sein Jubiläum zu würdigen.

Von Gerrit Terstiege

100 Jahre Rundfunk Museum Angewandte Kunst Köln
Die Radiosammlung des 20. Jahrhunderts im Museum für Angewandte Kunst Köln zeigt amerikanische und europäische Rundfunkempfänger von den 1930ern bis heute, © Gerrit Terstiege

Klangvolle Namen der deutschen Wirtschaftsgeschichte: AEG, Blaupunkt, Braun, Graetz, Grundig, Loewe, Nordmende, Saba, Schaub-Lorenz, Siemens, Telefunken, Wega. Doch kaum eines dieser Unternehmen, so es denn überhaupt noch existiert, dürfte heute nennenswerte Umsätze mit der Herstellung und dem Verkauf von Radios machen. In vielen Haushalten sind die Geräte, die unsichtbare Wellen in Klänge verwandeln, aus dem Alltag verschwunden. Das Radio, das die meisten von uns heute nutzen, ist flach, quadratisch und hat abgerundete Ecken. Die Rede ist natürlich von Apps wie „Simple Radio“, „FM Radio“, „radio.de“ oder „radioplayer“ auf unseren Smartphones. Wunderbar reichhaltig ist etwa auch die „Deutschlandfunk Audiothek“. Tippt man mit dem Finger auf App-Icons von „WDR5“, „SWR2“, „br2“ oder „Byte FM“, eröffnen sich hörbare Welten, die verdeutlichen, dass die Umwandlung vom Analogen ins Digitale das Beste war und ist, was dem Rundfunk „als Idee“ passieren konnte. Via Podcasts werden heute viele selbst zu Produzenten akustischer Inhalte – mit den sozialen Medien als Feedback- und Resonanzraum.

Übrigens hatte schon Bert Brecht das Radio als interaktives Medium angedacht und seine Vision so formuliert: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“1 Überraschend zeitgemäße Gedanken!

Technoseum Mannheim Auf Empfang
Leuchtkasten „ENB FP 11“ mit Glas-Dia „Universaltestbild“, 1950er Jahre, © TECHNOSEUM Mannheim, Klaus Luginsland

Das Radio als T-Shirt

Ein Hoch also auf das digitale Radio – aber wer an Gestaltung und Designgeschichte interessiert ist, wird zweifellos dem Charme historischer Geräte erliegen, von denen zahlreiche Exemplare immer noch senden – wenn auch viele Mittel- und Langwellensender verschwunden sind. Manche Radio-Klassiker, wie das von Dieter Rams entworfene RT20 (produziert ab 1961), werden heute auf Plattformen wie Pintrest und Etsy rein als Kultobjekte gefeiert, man kann das grafisch nachempfundene Layout seiner Front als Poster kaufen, es gibt das berühmte Rund seiner Lautsprecher-Perforationen als Motiv auf Kaffeetassen und T-Shirts – von Postings aus aller Welt auf Instagram ganz zu schweigen. Manche versuchen sich gar darin, den berühmten Entwurf aus Frankfurt komplett als 3-D-Rendering nachzubauen, samt der feintypografischen Aufteilung seiner Skala. Viele kennen das RT20 nur als digital reproduziertes Emblem und wissen nichts von seinem wunderbaren Klang – oder vom enormen Druck, den man mit dem Zeigefinger ausüben muss, um es überhaupt anzuschalten. Nur am echten Objekt versteht man, warum Dieter Rams die fünf Knöpfe mit tiefen Einbuchtungen versehen hat: Die Fingerkuppe sollte während des Drückens schlicht Halt haben und nicht abrutschen. Willkommen im Reich echter, analoger Radioerfahrungen! Wenn auch viele Exemplare des RT20 von Braun, genau wie das „Nocturne“ von Sparton, das „Toot-a-Loop“ von Panasonic oder das „Cubo TS 502“ von Brionvega den Weg in Museumsvitrinen gefunden haben, kann man mit etwas Glück noch heute einen solchen Designklassiker auf einer Auktion, Börse oder auf eBay finden und sich dann täglich an ihm erfreuen.

100 Jahre Rundfunk – Braun RT20
Ein Radio-Klassiker: Das von Dieter Rams entworfene RT20 von Braun, © Gerrit Terstiege
100 Jahre Rundfunk Nocturne Sparton
Das Nocturne von Sparton, 1935, im Museum für Angewandte Kunst Köln © Gerrit Terstiege
100 Jahre Rundfunk
„Cubo TS 502“ von Brionvega, 1964 von Richard Sapper und Marco Zanuso entworfen
100 Jahre Radio Toot-a-loop
Das Toot-a-Loop von Panasonic, 1971, © Creative Commons

Eine seltsame Inkongruenz von Inhalt und Form

Das ist dann wie eine Zeitreise zu machen, denn man nutzt ja eine alte Technik noch auf genau die Weise, wie sie einst angedacht worden war. Das ist vergleichbar damit, einen Oldtimer zu fahren – mit dem Unterschied allerdings, dass ein solcher bei guter Pflege den Wohlklang eines historischen Motors besitzt, die Rundfunkgeräte vergangener Dekaden nun aber die oft beunruhigenden News und Sounds von 2023 von sich geben. So entsteht dann eine seltsame Inkongruenz von Inhalt und Form, der man nur beikommen kann, indem man – und das stellt technisch kein Problem dar – mit dem entsprechenden Adapter einen modernen Bluetooth-Sender beispielsweise an das RT20 anschließt. In diesem Fall ist es wiederum möglich, selbst zu bestimmen, in welches Jahr, Jahrzehnt oder Jahrhundert man sich musikalisch versetzen möchte: Noch nie waren diverse Vergangenheiten derart problemlos abrufbar. Kein Wunder auch, dass neue Radios heutzutage besonders gerne in Retro-Aufmachung daherkommen, im nostalgischen Zombie-Design vergangener Dekaden. Da ist dann alles plötzlich wieder da an Kitsch, Chrom und textilen Lautsprecher-Hüllen, was ab Mitte der 1950er Jahre von den Braun-Brüdern, Fritz Eichler, Hans Gugelot und Dieter Rams über Bord geworfen worden war.  

Die Gegenwart der Vergangenheit

Man gebe nur einmal „Retro-Radio“ in der Google-Bildersuche ein – was sich hier zeigt, ist vielfach Augenwischerei: brandneue Radios in alter Wuchtigkeit, die mit dunklem Furnier und golden glänzenden Zierleisten aus Messing oder lackiertem Kunststoff glauben machen, es habe die ästhetischen Errungenschaften letzten 70 Jahre nicht gegeben. Formal zitieren indes kann man auf kitschige, wie auch auf kluge Weise. Selbst der bislang letzte Radio-Renner, der sich aufgrund seines starken UKW-Empfangs lange großer Beliebtheit erfreute und von vielen heute noch geschätzt wird, greift die sechziger Jahre ästhetisch auf: Das „Tivoli Audio Model One“, war vor gut 20 Jahren ein Must-have. Es basiert auf einem Entwurf des amerikanischen Ingenieurs und Tüftlers Henry Kloss (1929-2002) und sein Basis-Modell will bis heute nicht mehr sein, als ein simples Radio mit ausgezeichnetem Mono-Klang und einem markant großen Knopf zur Sendersuche. Niemand vermisst hier so etwas wie „automatischen Sendersuchlauf“ oder eine Digitalanzeige, die eingespeicherte Sender listet. Schließlich hat man ja ohnehin meist nur einen oder zwei Lieblingssender – und wenn man sich auf den Weg macht vom einen zum anderen, hört man bruchstückhaft für Sekunden die schrecklichsten Radio-Spots lokaler Möbelhäuser oder Musik, von der man gar nicht wusste, wie sehr man sie verabscheut! Ja, das Radio ist mitnichten ein Medium, das durchgängig Wohlgefallen auslöst. Manchmal muss man ihm auch einfach den Strom abdrehen.

Das „Tivoli Audio Model One“ will bis heute nicht mehr sein, als ein simples Radio mit ausgezeichnetem Mono-Klang und einem markant großen Knopf zur Sendersuche, © Tivoli

Daher wurde verstärkt ab den 1990er Jahren das Branding bei Sendeanstalten so wichtig: Die trennscharfe akustische Fokussierung auf Zielgruppen stellt nun sicher, dass die Programme und Musikrichtungen in den jeweiligen Segmenten breiten Anklang finden. Der Preis für so viel Deckungsgleichheit mit den diversen Geschmäckern ist wohl, dass Überraschungen und musikalische Entdeckungen seltener werden. Zumindest beim Hören des Lieblingssenders. Aber wer verschreibt sich heute noch allein einem Sender? Beim Kochen daheim oder auf langen Autofahrten locken Podcasts (auch mittlerweile 30 ndion-Folgen), kuratierte Playlists, tausende Hörbücher und Sender aus aller Welt: vom obskuren studentischen Piratensender bis zu den 101 Folgen der „Theme Time Radio Hour“ des Literatur-Nobelpreisträgers Bob Dylan.


100 Jahre Rundfunk Technoseum

Am 2. und 3. Juni findet die Jahrestagung der Gesellschaft für Designgeschichte mit dem Titel „100 Jahre Rundfunk“ im Mannheimer Technoseum, dem Landesmuseum für Technik und Arbeit, statt. Das Haus ist Kooperationspartner der Tagung und vereint die Sammlungen des Rundfunkmuseums Berlin, des Südwestfunks sowie der WEGA-Werksammlung.
Noch bis zum 12. November 2023 ist im Technoseum die Ausstellung „Auf Empfang! Die Geschichte von Radio und Fernsehen” zu sehen, die von einem lesenswerten Katalog ergänzt wird.


1 Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks; Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks; Radio – eine vorsintflutliche Erfindung? Alle in: Werke, Bd. 21, Schriften I, Berlin u.a. 1989.


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