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In einer Zeit, die ihre Produktionsweisen dekarbonisieren, grundlegend verändern und neu gestalten muss, sind Kunstgewerbemuseen wertvolle Impulsgeber. Das Grassi Museum in Leipzig, das in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiert, gehört zu den großen Museen Europas. 

Von Thomas Wagner

Das GRASSI Museum aus der Vogelperspektive | © GRASSI Museum für Angewandte Kunst

Kunstgewerbemuseen werden gerne als Depots für verstaubte und überholt geltende Objekte belächelt. Dabei sind sie funktionstüchtige Zeitmaschinen und geistige Energiequellen der besonderen Art. Sie bewähren sich als Institutionen wachen historischen Bewusstseins ebenso wie als Orte der Begegnung mit Artefakten, die in kulturellen Entwicklungszyklen eine herausragende Rolle gespielt haben – und im Diskurs der Gegenwart oder der Zukunft wieder spielen können. Ein Museum, an dessen Geschichte sich der Wandel vom Handwerk zum Design, von der individuellen Fertigung zur standardisierten Massenproduktion ablesen lässt, ist das Grassi Museum für Angewandte Kunst in Leipzig, das in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiert. 

Das Museum als historische Echokammer

Ein ähnlich tiefgreifender Wandel, wie er heute mit Schlagworten wie Digitalisierung, Klimakrise, Disruption und Transformation beschrieben wird, lässt sich im 19. Jahrhundert beobachten. Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrotechnik, generell die Entstehung  einer auf industriellen Prozessen basierenden Gesellschaft (inklusive der damit verbundenen ökonomischen, ökologschen und sozialen Folgen), hat damals die Lebens- und Produktionsbedingungen grundlegend verändert. Wer heute über die Aufgaben des Designs bei der Dekarbonisierung, über die Notwenigkeit eines fundamentalen Wandels im Denken wie im Handeln debattiert, der findet in Resonanzräumen wie dem Grassi Museum die historischen Echokammern, um Rupturen in der eigenen Gegenwart besser deuten zu können. Als Reaktion auf die Industrialisierung entstanden im 19. Jahrhundert nicht nur Kunstgewerbeschulen als innovative Stätten einer handwerklich-künstlerischen Ausbildung, sondern auch Kunstgewerbemuseen als Orte der Geschmacksbildung (die häufig mit den Kunstgewerbeschulen verbunden waren). Ähnliche Kooperationen im Bildungssektor kann man sich heute nur wünschen. 

Eines der bedeutendsten Häuser seiner Art in Europa

In einem Haus wie dem Grassi Museum, das mit seinen rund 230.000 Objekten (allein in der Dauerausstellung sind über 5.000 Objekte zu sehen) zu den umfassenden Sammlungen seiner Art in Europa zählt , lässt sich die Entwicklung von Handwerk und Kunsthandwerk über zahlreiche Brüche, Umschwünge, Gegen- und Ausgleichsbewegungen bis hin zum heutigen Design am besten studieren. Wenn heute von Cross-over, von hybriden, sich aus verschiedenen Bereichen speisenden Transformationen die Rede ist, dann sprudeln an Orten wie dem Grassi Museum all jene Inspirationsquellen, die es braucht, um erfolgreich von  der Vergangenheit in die Zukunft zu gelangen. Mehr noch: In der wechselvollen Geschichte des Museums spiegeln sich im Design auch die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche in Ost und West der letzten hundert Jahre.

Vom Kunstgewerbe zum Design

Begründet wurde das Haus 1874 als zweites Kunstgewerbemuseum Deutschlands (nach Berlin). Der Name Grassi Museum leitet sich von Franz Dominic Grassi (1801 bis 1880) ab, einem Leipziger Kaufmann italienischer Herkunft, der seiner Heinatstadt nach seinem Tod ein Vermögen von mehr als zwei Millionen Mark vermachte, mitdem zahlreiche Bauvorhaben, Parkanlagen und Denkmäler gefördert und realisiert wurden. So entstand zwischen 1892 und 1895 auch das alte, von Hugo Licht erbaute Grassi Museum, das ursprünglich das Museum für Völkerkunde und das Kunstgewerbemuseum beherbergte. (Heute befindet sich in dem Gebäude die Leipziger Stadtbibliothek.)

Daueraustellung „Jugendstil bis Gegenwart“, Design-Klassiker | © GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig.

Einer der großen Museumsbauten der Weimarer Republik

Mit welcher Verve und wie zukunftsweisend sich die Gestaltung in der Moderne entfaltet und sich von ihren handwerklichen Wurzeln gelöst hat, zeigt sich auch in der Architektur des während der Weimarer Republik entstandenen Neubaus. Nicht nur zählt das zwischen 1925 und 1929 errichtete Haus zu den wenigen großen deutschen Museumsbauten der Weimarer Republik. Die vom damaligen Leipziger Stadtbaurat Hubert Ritter zusammen mit dem Architekturbüro Zweck und Voigt für das geschichtsträchtige Areal zwischen Altem Johannisfriedhof und Johannisplatz entworfene weitläufige Anlage lehnt sich im Grundriss einerseits an die Tradition des europäischen Schlossbaus an, verbindet in seiner Architektur aber eine funktionalistisch orientierte Formensprache mit expressiven Schmuckformen des Art déco. Weithin sichtbar ist die Dachbekrönung, die „goldene Ananas“. Herzstück sind die 1927 realisierte, den Raum zackenförmig dynamisierende Pfeilerhalle und die von der kühlen Rationalität des Bauhauses geprägten 18 hohen Glasfenster des Haupttreppenhauses, die Josef Albers 1926 entworfen hat. Anfang Dezember 1943 wurde der Museumskomplex durch Brand- und Sprengbomben schwer beschädigt. Zwar fanden schon ab 1949 wieder erste provisorische Ausstellungen statt, doch wurde zu DDR-Zeiten lediglich das Notwendigste zur Erhaltung des Gebäudes unternommen. Eine grundlegende Sanierung des Gebäudekomplexes (mit seinen Innenhöfen und dem angrenzenden parkähnlichen Alten Johannisfriedhof) erfolgte erst nach der Wende in den Jahren 2000 bis 2005. (Die Josef-Albers-Fenster wurden 2011 rekonstruiert.) Heute beherbergt das Haus – in der Verbindung einmalig in Deutschland – neben dem Grassi Museum für Angewandte Kunst auch das Grassi Museum für Völkerkunde und das Grassi Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig.

Pfeilerhalle im GRASSI Museum für Angewandte Kunst | © GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Leipzig.

Die Sammlungen im Wandel der Zeit

Die reichhaltigen Sammlungen sind hinsichtlich Materialien, Epochen und Herkunftsgebieten geradezu enzyklopädisch angelegt und erlauben einen faszinierenden Überblick über die Entwicklung vom Kunsthandwerk bis zur Industrieform. Im Jahr 2005 wurde das damalige Museum für Kunsthandwerk umbenannt in Grassi Museum für Angewandte Kunst; Ende 2007 eröffnete es mit einer neuen ständigen Ausstellung, die heute die Abteilungen „Antike bis Historismus“, „Asiatische Kunst. Impulse für Europa“ und „Jugendstil bis Gegenwart“ umfasst. Nicht nur das historische Panorama wirkt erhellend; Entwicklungen der Moderne werden ebenso erkennbar wie Parallelitäten des Designs in Ost und West. Um nur zwei Beispiele herauszugreifen: Den Dialog zwischen Design-West und Design-Ost belegt etwa Clauss Dietels Phono-Kombination „rk 3“ , entworfen 1966 für Heliradio – Gerätebau Hempel KG Limbach-Oberfrohna, zehn Jahre nach dem Braun „Phonosuper SK 4“ von Gugelot und Rams. Nah am Zeitgeist Ost wie West präsentiert sich sodann der Radio Empfänger „Stern-Club“, entworfen um 1968 im VEB Kombinat Stern-Radio Berlin – mit jugendlich ansprechender Beweglichkeit.


Aktuelle Veranstaltungen im Grassi Museum

Zum 150-jährigen Jubiläum finden auch in der zweiten Jahreshälfte zahlreiche Ausstellungen und Veranstaltungen statt. Neben dem „Grassi Open Air Sommer“ und dem „Grassi-Fest“ am 8. September ist noch bis zum 6. Oktober die von Robert Wilson raffiniert inszenierte Schau „A Chair and You“ zu sehen, die eine Auswahl von Stühlen zeigt, die von Künstler*innen, Designer*innen und Architekt*innen gestaltet wurden – von Ron Arad, Niki de Saint Phalle, Daniel Libeskind, Donald Judd, Frank Gehry, Franz West, Lawrence Weiner und Ettore Sottsass bis hin zu Robert Wilson selbst. Vom 25. bis 27. Oktober schließt sich die jährliche Grassimesse an, bei der über 140 Aussteller*innen an rund 80 Ständen aktuelle Arbeiten zum Kauf anbieten. Vom 9. November bis 5. Oktober 2025 präsentiert „Merci. Merci. Grazie. Hartelijk Dank“ eine Auswahl historischer und zeitgenössischer Objekte aus der Fülle der Neuerwerbungen der letzten Jahre. Ebenfalls im November beginnt die Sonderausstellung „Futures. Materialien und Design von morgen“, die sich mit der Faszination von Zukunftsvisionen und Szenarien an der Schnittstelle von Biologie, Design, Kunst und Industrie auseinandersetzt.


Über den Autor

Thomas Wagner, geb.1955, hat in Heidelberg und Brighton (Sussex) Germanistik und Philosophie studiert. Bereits während des Studiums arbeitet er als Kunstkritiker und freier Journalist. Ab 1986 schreibt er für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1991 bis 2007 als leitender Redakteur für Bildende Kunst und Design zuständig ist. Anschließend freier Autor, Kunstkritiker und Kolumnist. Für Stylepark baut er ein Online-Magazin auf. Er war Redakteur des Magazins designreport des Rat für Formgebung und ist derzeit Online-Redakteur bei ndion. Thomas Wagner hat als Vertretungs-, Gast- und Honorarprofessor gelehrt und war Gründungsmitglied der DGTF. Er war und ist Mitglied zahlreicher Jurys.

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