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Investigative Living: Die amerikanische Künstlerin Andrea Zittel untersucht in ihren Arbeiten, wie es sich jenseits üblicher Schemata wohnen und leben lässt. Als Erbin der Reformbewegung zielt sie auf eine selbstbestimmte und nachhaltige Lebensform.

Von Thomas Wagner

Die Formlosigkeit unserer Zeit fordert Tribut. Wie soll, wo jede Tradition obsolet geworden ist, jemand leben und arbeiten, wie sitzen, kochen, essen, schlafen, träumen? Anders gefragt: Wie kann man sich im Alltag einrichten, wenn man sich auf keine Verbindlichkeiten mehr stützen kann? Kann Wohnen unter solchen Bedingungen gelingen? Bestimmt umgekehrt die Art, wie wir wohnen, Struktur und Ordnung unseres Lebens und Denkens? Beeinflussen die Räume und Gehäuse, in denen sich jemand aufhält, seine Praktiken und Handlungsweisen? Bleibt allein die Anpassung durch Konsum irgendeines industriell vorgefertigten Lifestyles? Oder gibt es Alternativen?

Wer Distanz zum Üblichen gewinnen, über die verfestigten Parameter des Wohnens nachdenken will, der findet in den Arbeiten der amerikanischen Künstlerin Andrea Zittel überraschende Anregungen. Sie erproben, ob und wie sich Lebensformen jenseits des Mainstreams gestalten lassen, und was – ästhetisch ebenso wie ethisch und sozial – daraus resultiert. Gerade erst hat Zittel unter dem Titel „Planar Composition for Esters Garden House“ in Krefeld im Garten und im Sommerhaus des von Mies van der Rohe erbauten Haus Esters gezeigt, wie das aussehen kann. Auch dabei überschreitet die 1965 im kalifornischen Escondido geborene Künstlerin bewusst die Grenzlinien zwischen Kunst, Design und Architektur.

Dialoge mit dem Erbe der Moderne

Die Kunstmuseen Krefeld hatten Zittel bereits 2019 eingeladen, eine permanente ortspezifische Installation für das Fertig-Gartenhaus der Deutschen Werkstätten Hellerau im Garten von Haus Esters zu entwickeln. Der erste Teil im Innenraum wurde noch im selben Jahr im Rahmen der Bauhaus-Jubiläumsausstellung „Anders Wohnen“ realisiert. Es entstanden Tische, Bänke, Hocker und ein Teppich für eine Sitzbank.

Andrea Zittel
Andrea Zittel, 2018, Foto: Sarah Lyon

2022 hat die Künstlerin ihre Arbeit nun vervollständigt und für das Gartenhaus minimalistische, aus farbigen Paneelen zusammengesetzte Möbel-Skulpturen geschaffen. Deckenleuchten, Bowls, Tabletts und weitere Hocker komplettieren nun den Innenraum. Auf der Rasenfläche vor dem Gartenhaus sind ferner prägnante Bank-Skulpturen hinzugekommen. Die fünf rechtwinkligen Bänke sollen dazu einladen, bewusst verschiedene Perspektiven auf Architektur und Garten einzunehmen. Seit Oktober letzten Jahres ist zudem im Haus Esters Zittels Einzelausstellung „Personal Patterns“ zu sehen, die den Dialog der Künstlerin mit dem Erbe der Moderne fortsetzt.

Institute of Investigative Living

Seit langem dient Zittel ein aus ihren Initialen gebildetes Namenszeichen als Label. Auf ihrer Website bezeichnet sie „A-Z“ als „institute of investigative living“: „Das Unternehmen A-Z umfasst alle Aspekte des alltäglichen Lebens. Möbel, Kleidung, Lebensmittel – sie alle werden zu Untersuchungsobjekten in dem ständigen Bemühen, die menschliche Natur und die soziale Konstruktion von Bedürfnissen besser zu verstehen.“ In den Blick genommen wird das Wechselverhältnis zwischen materiellen Dingen und immateriellen Strukturen. Auf der einen Seiten stehen Normen, Werte, gesellschaftliche Anreize und Konventionen, auf der anderen persönliche Bedürfnisse, Wünsche und Gewohnheiten. Zittel versteht sich als Forscherin und Testperson, befragt, was im Alltag vermeintlich selbstverständlich erscheint. Wobei sie als Amateurin und als „bricoleur“ (im Sinne von Claude Lévi-Strauss) bewusst die Professionalität von Designer*innen und Ingenieur*innen unterläuft. Ihren Ansatz hat sie selbst 2003 so beschrieben: „Im Prinzip versuche ich zu verstehen, wie wir als Menschen mit der Welt in Beziehung stehen und wie sich diese Beziehung in den von uns geschaffenen Objekten und Umgebungen widerspiegelt.“

Vehikel für kleine Fluchten

Zittels Skulpturen und Installationen spielen mit ihrer Nähe zu Einrichtungsobjekten. Sie stellen Bezüge her zu Arbeiten von Anni und Josef Albers, Margarete Schütte-Lihotzky, Richard Buckminster Fuller sowie Charles und Ray Eames, untersuchen Wohnmodelle, das Erbe des Bauhauses und anderer moderner Bewegungen. Bekannt geworden ist Zittel hierzulande durch ihre 1997 bei der documenta X in Kassel gezeigten „Escape Vehicle“, kleine Aluminiumkapseln, die inspiriert waren von der Symbolik und Ästhetik der in den USA weit verbreiteten „mobile homes“. Bei den „Skulptur Projekte Münster 1997“ setzte sie im selben Jahre auf den Kanonengraben der Stadt zehn Fiberglasinseln. Die „A-Z Deserted Islands“, unregelmäßige und weiße Gebilde, waren mit gepolsterten Sitzen ausgestattet; das mit roten und blauen Streifen versehene Logo der fiktiven Firma „A–Z“ auf der Außenseite verwies auf einen seriell produzierten, aber persönlich nutzbaren Gebrauchsgegenstand zum Rückzug und zur Erholung.

Minimale Mittel, maximale Lebensfreude

Zittels künstlerische Laufbahn beginnt nicht allein mit dem Entwurf von Möbeln. Zu ihren stationären „living structures“ gehören auch Kleidungsstücke und Teppiche; und in mobilen „living arrangements“ thematisiert sie den Traum von Freiheit. Ihre modularen Möbel sparen in den beengten Wohnverhältnissen New Yorks Platz und entsprechen somit ihren eignen Bedürfnissen. „Als Gegenstück zum offiziellen Lifestyle, der Gewinnsucht und Geld propagiert“, stellte Jan Avgikos mit Blick auf ihre Anfänge fest, „steht der ,A-Z‘-Lifestyle für die puristische Haltung ,minimale Mittel für maximale Lebensfreude‘. Gesundheit und Glück, Komfort und Genuss, dies ist der Kern der ,A-Z‘-Kosmologie. Ebenso wie Kreativität, Produktivität und Effizienz. Bevorzugt wird das Ökonomische gegenüber dem Exzessiven, die Einheitlichkeit gegenüber dem Eklektizismus. In manchen Fällen werden herkömmliche Gegensätze bewusst aufgehoben – Utopie und Utilitarismus, Privatraum und Arbeit, Kunst und Leben – und neue Verbindungen werden denkbar. Insgesamt gesehen beherrschen Logik und Ordnung die Weltsicht von ,A-Z‘.“ Die Ordnung der Dinge ist nicht naturgegeben; es bedarf einer permanenten Reflexion (oder eines Tests), um sie bewusst zu gestalten. Ungewöhnliche, manchmal irritierende und befremdende Vehikel und Einrichtungen verleihen dem Wunsch Ausdruck, einen standardisierten Lifestyle hinter sich zu lassen. Je mehr Freiheiten entstünden, desto selbstbestimmter ließe sich leben, in einer angenehmen Umgebung, die, so Avgikos, „Schutz bietet vor der brutalen Realität und entfremdenden Wirkung des massenkulturellen Konsumspektakels“.

Umgestalten

Wer dem Konsumspektakel entkommen will, muss laut Zittel die täglichen Abläufe des eigenen Lebens umgestalten. Es gilt, sie so zu re-strukturieren, dass sie ein Gegengewicht zu den aktuellen Lebensbedingungen (gesteigerte Mobilmachung, Plattform- und Netzwerkkapitalismus) bilden können. „Mit der ‚Living Unit‘“, so die Künstlerin, „wollte ich die Einschränkungen in meinem Leben so umgestalten, dass sie zum Luxus wurden. Kriterien wie Platzmangel und große Unordnung in meiner Umgebung wurden durch die ‚Living Unit‘ in Eleganz und Sicherheit verwandelt“. Es folgten die „Comfort Units“, die das Bett in den Mittelpunkt der Konstruktion rückten und durch „Service Units“ wie Schreibtisch oder Toilettentisch erweitert werden konnten. Der kommerzielle Erfolg der Moduleinheiten führte zur Gründung der „A-Z ­Administrative Services“, die sich um die Vermarktung kümmerten.

Andrea Zittel A-Z West
A-Z West, © Andrea Zittel, Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Sprüth Magers, Foto: Lance Brewer

A-Z West, Joshua Tree

Andrea Zittel Wagon Stations
A-Z Wagon Stations: Second Generation, 2012–heute, © Andrea Zittel, Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und Sprüth Magers, Foto: Lance Brewer

Um das Jahr 2000 begann Zittel, in Kalifornien ein Pendant zu dem bestehenden „A-Z East“ in New York zu entwickeln. Der Wechsel zurück an den Ort ihrer Kindheit markierte einen neuen Lebens- und Arbeitsabschnitt und führte zum Ausbau eines ganzheitlichen Lebenskonzeptes. Sie kaufte fünf Acres (etwa zwei Hektar) Land in der Mojave Wüste, zu denen 2011 noch einmal 35 Acres hinzukamen. Das Areal, das sich etwa zweieinhalb Autostunden südöstlich von Los Angeles befindet, liegt am Rand des Straßendorfs Joshua Tree und grenzt direkt an den Joshua Tree National Park. Mit „A -Z West“ hat Zittel das Konzept des „showroom / testing ground“ unter veränderten Bedingungen fortgesetzt und sowohl ihr eigenes Haus (eine renovierte Homestead Cabin), als auch das umgebende Areal (in Zusammenarbeit mit befreundeten Künstler*innen und Mitarbeiter*innen) mit Artefakten aus ihrer eigenen Produktion ausgestattet. Um Künstlerkollegen, Freunden und Besuchern eine Unterkunft zu bieten, entwickelte sie 2003 die „Wagon Stations“, kompakte, modular aufgebaute und individuell gestaltbare Wohneinheiten aus einem mit Holzpaneelen verkleideten Stahlgerüst mit einem Bett, einer Ablage und einem Campingkocher.

Jenseits üblicher Routinen

Aus der Perspektive professioneller Designer*innen überrascht, wie konsequent es Zittel gelingt, eingeübte (Wohn-)Routinen zu testen und aufzuzeigen, wie man ihnen konzeptionell entkommen kann. Paradoxerweise, so eine Erkenntnis, entstehen Freiheiten aus Begrenzungen und Reduktionen. Entscheidend ist dabei weniger der singuläre Entwurf, auch wenn er es ist, in dem Zittels Konzept zuallererst sichtbar wird. Als späte Erbin der Reformbewegung geht ihre Ambition weiter und zielt höher: Was sie entwirft, ist (ähnlich wie es Donald Judd vor allem im texanischen Marfa vorgemacht hat) nicht weniger als eine Lebensform, in der Kunst, Design und Verhalten (soziale Plastik, social und human centered design), in der Ästhetik und Ethik zusammenwirken. Dazu passt: Ihre Kunst findet nicht nur mitten im Leben statt und wird wie ein Alltagsgegenstand benutzt, in ihrem Konzept vermischen sich auch die Rollen der Privatperson, der Künstlerin, der Forscherin und der Unternehmerin. Zittels Strukturen loten mittels Hybriden aus Möbel und Skulptur mehr aus als das wohnende Verhältnis des Menschen zur Welt: Die Erfahrung von Begrenztheit und Freiheit nährt den Optimismus, was geworden ist, lässt sich auch umgestalten. Womöglich zum Besseren.


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