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Prof. Timo Rieke im Interview

RAL Colour Feeling 2021+ ist ein Werkzeug für Gestalter. Prof. Timo Rieke erklärt, warum es statt nur einer Trendfarbe einen kompletten Farbraum gibt, was es mit den RAL Farbtrends 2021 „reThink“ und „Create“ auf sich hat, und weshalb es wichtig ist, dass Farbforscher historisch denken.

Interview von Thomas Wagner.


Nachgefragt: Im Gespräch mit Prof. Timo Rieke.

RAL Colour Feeling 2021+ reThink und Create
RAL Colour Feeling 2021+ reThink und Create © RAL/IIT

Herr Prof. Rieke, Farbe ist ein faszinierendes Phänomen mit zahllosen Facetten. Sie haben gemeinsam mit RAL unter den Stichworten „reThink“ und „Create“ im Rahmen von Colour Feeling 2021+ bewusst keine Trendfarbe propagiert, sondern einen Farbraum entwickelt. Wo liegen die Vorteile?

Professor Timo Rieke im Zoom Interview.
Professor Timo Rieke im Zoom Interview. Foto: ndion © Timo Rieke

Prof. Timo Rieke: Farben werden ja selten allein und aufgrund ihrer Prägnanz eingesetzt. Die Reihe RAL Colour Feelings ist als Werkzeug für Designerinnen und Designer, Architektinnen und Architekten konzipiert – und damit dieses optimal genutzt werden kann, muss es in der Lage sein, sich den verschiedenen Arbeitsweisen anzupassen. Wer gestaltet, möchte ja nicht nur eine Narration von anderen übernehmen, er möchte einen Kontext gestalten, einen Zusammenhang herstellen – mit der Umgebung, mit der Architektur, dem Produkt, der eigenen Markensprache und so weiter. Und das ist mit einem Farbraum eher möglich als mit einzelnen Trendfarben. Hier liegt der Unterschied: Der Farbraum als Ganzes ist ein Tool.

Wie sind gerade diese Farben zustande gekommen? Sie sammeln ja zunächst eine enorme Menge Dinge, Daten und Keywords ein – wie schaffen Sie es, diese zu einem Farbraum zu verdichten?

Das Thema reThink und Create wurde von RAL mit dem Institut International Trendscouting IIT und einem internationalen Team von Gestalterinnen und Gestaltern entwickelt. Die Basis legt zunächst ein Trendscouting-Workshop an der Fakultät Gestaltung der HAWK in Hildesheim. Dabei werden rund 20.000 Bilder von Messebesuchen, aus Design-Blogs, Zeitschriften und Magazinen gesichtet und analysiert. Diese Insights werden dann, gekoppelt mit Informationen zu Megatrends und gesellschaftlichen Phänomenen, nach Farb- und Stilwelten geordnet und zu Clustern kombiniert. Das ist ein intensiver kommunikativer Prozess. Früher haben wir das händisch gemacht, jetzt machen wir das über digitale Lösungen. Das Ganze läuft bereits seit mehr als zehn Jahren zwei Mal im Jahr – und das gibt uns ein ziemlich präzises Gefühl für die Entwicklungen am Markt und darüber hinaus. Konkret heißt das: Die für den Trendreport gewählten Farben basieren auf fundierter Beobachtung und der Auswertung gesellschaftlicher, technologischer und gestalterischer Trends. Wichtig dabei ist, dass der Beobachtungszeitraum nicht nur die unmittelbare Gegenwart, sondern die letzten 50 Jahre einschließt. Würde man Trendscouting ohne eine solche Erfahrungsbasis betreiben, wäre es längst nicht so aussagekräftig. Wertvoll wird es erst in der Wiederholung.

RAL Colour Feeling 2021+ Farben
RAL Colour Feeling 2021+ Farben © RAL/IIT

Hat der Übergang von der Beobachtung zur Empfehlung nicht etwas Geheimnisvolles, gar Mystisches? Wie kommt der entscheidende Schritt zustande?

ReThink ist aus dem Gedanken heraus entstanden, dass Menschen im Zuge der Krise nach Lösungen suchen, die Probleme der Welt reflektieren. ReThink meint dabei keineswegs nur eine Reaktion, es ist auch als Appell gemeint, die Welt neu zu gestalten – und was Farbe angeht, liegt das ja sogar im Bereich des Machbaren. Aber natürlich gibt es innerhalb des Prozesses diesen geheimnisvollen Punkt, den wir in unserer Methode als Fusion bezeichnen. Das Ganze entsteht ja aus einer kommunikativen Teamleistung; und dazu braucht es kreatives Potenzial und Erfahrung. Wir beschäftigen uns eben schon sehr, sehr lange mit dem Thema, weshalb wir zuversichtlich sind, dass wir die richtigen Schlüsse ziehen. Den quasi mystischen Aspekt werden wir bei alledem vermutlich – und hoffentlich – nie los, sonst könnten wir das Ganze auch von irgendeiner künstlichen Intelligenz errechnen lassen. Wenn wir das Gespür für solche Dinge verlieren, dann sind wir, glaube ich, in einer Welt, die wir nicht mehr wollen.

Wieso empfehlen Sie keine leuchtenden Farben, sondern eher dezente Pastell- und Erdtöne? Folgt das aus Ihrer Analyse, aus Krisen, Umbrüchen, Neubewertungen? Ist die Gegenwart also auf andere Weise grell als beispielsweise die 1970er Jahre, wo Kunststoffe in leuchtenden, grellen Farben für Aufmerksamkeit sorgten?

Das ist ein tolles Beispiel dafür, wie der Zusammenhang von gesellschaftlicher und technischer Entwicklung zu bestimmten Farben und Farbspektren führt. Natürlich haben wir heute eine ganz andere gesellschaftliche Situation, nehmen Dinge anders wahr und stehen vor anderen Herausforderungen – dementsprechend sind die Farbtöne, die wir ausgewählt haben, Ergebnisse unseres Scouting-Prozesses. Selbstverständlich existieren am Markt nach wie vor auch hochbunte Farbwelten. Uns schien aber gerade der unaufgeregte Zusammenklang in die Zukunft zu weisen. Farbe wird ja oft mit Buntheit verwechselt; und Farben, die gerade keine Künstlichkeit vermitteln, gibt es schon sehr, sehr lange. Sie sind oft beliebter als die exaltierten Farben, die sich vielleicht eher für Werbung oder Marketing empfehlen. Dass sich die Avantgarde heute in Zurückhaltung übt, ist relativ neu. Aufmerksamkeit, das merken auch die Marketingabteilungen, ist nicht alles; wir wollen auch Inhalte sehen.

Das klingt recht optimistisch.

Unsere Farbwelt ist natürlich keine Kompensation für das, was wir der Natur antun; wir wissen ja alle, was wir da tun. Sie versteht sich aber als Aufforderung, bewusst zu gestalten und zu entwerfen.

Bei Megatrends wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz stoßen Sie aber auf eher abstrakte Welten, die stark in den Vordergrund drängen. Wie stellt sich dieses Spannungsverhältnis in der Diskussion über Trendfarben dar?

Um überhaupt zu begreifen, was Farbgestaltung bedeutet, sprechen wir viel über die Gesellschaft. Farben auszuwählen ist vergleichsweise einfach. Dass man damit aber auch eine Botschaft senden und eine Haltung vermitteln kann, das ist etwas, was man lernen muss. Aktuell ist es die Kombination natürlicher Töne mit sehr, sehr starken Akzenten, eine Kombination, in der sich auch Ambivalenzen und die Ambiguitäten unserer Zeit offenbaren. Hier die Natur, die wir zu verlieren fürchten, dort die Technik, die enorme Chancen bietet. Wie sollen wir uns da entscheiden? Können wir beides in unser Handeln integrieren? Sind wir gezwungen, innezuhalten? Oder stehen wir am Beginn einer neuen Renaissance?

RAL Colour Feeling 2021+ Farben+Schattierungen
RAL Colour Feeling 2021+ Farben+Schattierungen © RAL/IIT

Was bräuchte es für eine solche Renaissance?

Mit Renaissance meine ich zunächst einen Rückbezug auf die Werte, die wir bereits entwickelt haben, aber auch ein Innehalten und Nachdenken über die Haltung, mit der wir Gestaltungsfragen angehen. Das betrifft Aspekte wie Sinnlichkeit, Langsamkeit, Bedächtigkeit, Natürlichkeit. Wer kontextuell gestaltet, muss historisch denken, was in der Architektur offensichtlicher ist als im Produktdesign, aber auch das entwickelt sich aus geschichtlichen Erfahrungen heraus. Auch eine rein technische Innovation muss sich in einen historischen Zusammenhang einfügen und in Produkte übersetzen lassen. Es gibt seit den 1950er Jahren kluge Beschreibungen, wie ein vernünftiges und nachhaltiges Leben aussehen kann. Zugleich sind wir in den vergangenen 50 Jahren extrem von der technischen Entwicklung getrieben – und jetzt müssen wir, glaube ich, ein wenig innehalten, nicht, um technikfeindlich zu werden, sondern um das vernünftig gestalten zu können.

Die fließenden Harmonien des Farbraums kann man sich in Architektur und Innenarchitektur gut vorstellen. Beim Produktdesign fällt das nicht so leicht.

Das ist richtig. Mit reThink sind wir bewusst in eine eher bedächtigere Richtung gegangen. Wir könnten jederzeit einen anderen Trendreport machen, der sehr viel mit digitalen Welten zu tun hätte und in dem die Innenraumgestaltung nahezu verschwinden würde. Die Wohnungen wären dann weiß, schwarz-weiß; was Farbe und Spannung in den Raum bringt, ist der Screen, all die fantastischen Welten, die aufploppen, wenn ich den Bildschirm anmache. Mein Umfeld darf mich da bitte nicht groß ablenken, von dieser tollen digitalen Welt! Das ist die andere Seite, eine Richtung, die stärker technisch und in Erlebniswelten agiert und die wahrscheinlich dazu führen wird, dass wir irgendwann tatsächlich in virtuelle 3D-Szenarien einsteigen und einen großen Teil unseres Lebens auch dort verbringen. Dazu setzen wir mit reThink einen Gegentrend, der ebenso relevant ist. Beides existiert gleichzeitig, woran sich abermals unsere Ambivalenz zeigt.

Sie sprechen bewusst von ‚re-think‘, von Überdenken, nicht von veränderten Gefühlen. Soll die Farbskala Emotionen eher dämpfen als wecken?

Dämpfen oder wecken, das ist immer so eine Frage. Ich glaube, richtiger wäre es, davon zu sprechen, was Farben unterstützen. Es geht darum, bestimmte Szenarien zu unterstützen und die Farben dienend einzusetzen. Farben sind kein Selbstzweck, sie wollen niemand zu irgendwas bringen. Es ist ein häufiges Missverständnis, dass ich, wenn ich meine Bürowände grün streiche, bei der Arbeit entspannter bin. Das ist ein Trugschluss, das funktioniert nicht, wenn nicht der ganze Kontext berücksichtigt wird, die Raumgestaltung und die Lichtgestaltung. Wir sehen im Allgemeinen, dass Arbeitsplatzumgebungen viel, viel wohnlicher werden, und das heißt eben auch: gedecktere Farben. Das betrifft auch Technik und Produktdesign, die dann ebenfalls eine, ich sage mal, menschlichere Farbigkeit bekommen. Etwa, wenn sich technische Geräte im Smart Home in der Farbigkeit in die Wohnlandschaften einpassen.

RAL Colour Feeling 2021+ Anwendungen
RAL Colour Feeling 2021+ Anwendungen © RAL/IIT

Was ist für Sie der wichtigste Aspekt der aktuellen Narration von reThink und Create?

Der wichtigste Aspekt ist das Create, wobei das reThink vorgeschaltet sein muss, um allererst einen sinnvollen Zusammenhang schaffen zu können. Es gilt, aus der Diskussion über historische und gesellschaftliche Zusammenhänge heraus eine Haltung zur Gestaltung der Zukunft zu entwickeln, die sich dann auch in Farbe und Material und Oberfläche ausdrückt. Ich hoffe, dass wir dabei Hilfestellung leisten können. Wir haben zum Beispiel versucht, Anwendungsmöglichkeiten auf Basis der Gedanken des Soziologen Andreas Reckwitz zum Wert kultureller Güter zu entwickeln. So bekommen wir am Ende maximal unterschiedliche und trennscharfe Farbprofile, die einen klaren Anwendungsbezug haben.

Gibt es Farben – oder Möglichkeiten, mit dem Farbspektrum umzugehen – die Sie besonders begeistern?

Ich bin immer wieder begeistert von der Farbmatrix und der Möglichkeit, Kombinationen herzustellen. Das ist das Spannende, sich komplette Farbgeschichten ausdenken zu können. Wenn ich nur eine Farbe vor mir habe, bin ich eher enttäuscht. Für einen Farbgestalter beginnt das Spiel erst mit einer zweiten Farbe – mit einer dritten wird es dann interessant. In einem konkreten Raum mit Licht und Schatten bekommt Farbe überhaupt erst einen Sinn und wird erlebbar. Der Farbton auf der Farbkarte oder die Farbe im Eimer, die kann eigentlich wenig; die sieht dort vielleicht schön aus, erlebbar wird sie aber erst im Kontext. Um diesen zu planen wiederum brauchen wir natürlich die Farbkarten und Farbdesigntools, um das machbare Spektrum an Farbtönen abzubilden.

Sie haben also keine Lieblingsfarbe?

Meine Lieblingsfarbe ist absolut kontextgebunden. Ein Blau kann an der einen Stelle wunderbar sein und an einer anderen völlig fehl am Platz. Was ich liebe sind farbige Situationen, geplant oder zufällig. Was ich mir aber wünsche, ist, dass wir mit reThink und Create einen Impuls zur bewussten Gestaltung unserer Umwelt geben können.

RAL Colour Feeling 2021+ Kombinationen
RAL Colour Feeling 2021+ Kombinationen © RAL/IIT

Welche Rolle hat für Sie die Zusammenarbeit mit dem Werkstoffhersteller Covestro gespielt?

Wir haben die Farbtöne frühzeitig mit Covestro geteilt, woraus Materialmuster entstanden sind. Es ist uns und RAL wichtig, neue Farbstandards auf unterschiedlichen Oberflächen, in verschiedenen Haptiken und Texturen am echten Material zu überprüfen. Indem Wissenschaft, Gestaltung, Farbstandardisierer und Industrie zusammenwirken, können wir allen, die bestimmte Werkstoffe verwenden, einen guten Service bieten. Wir liefern die Narration dazu und laden alle ein daran mitzuarbeiten.

Zusammengenommen bedeuten reThink und Create also: verantwortungsvoll und mit historischem Bewusstsein Neues gestalten.

Ja, das ist ganz, ganz wichtig. Hier zeigt sich das Thema der Verantwortung, auch des Vertrauens, das wir in dieser Serie beschrieben haben. In der Vorsilbe „re“ spiegelt sich unsere Haltung, Geschichte als einen Wissensschatz zu sehen, diesen zeitgemäß zu interpretieren und in die Zukunft zu reflektieren. Für mich als Hannoveraner bedeutet dieses „re“ kein Zurück, sondern – nach Kurt Schwitters – den Entwurf der Zukunft mitzugehen und zu erkennen, dass wir selbst an diesem Entwurf beteiligt sind.

Was hat Schwitters dazu gesagt?

Er hat Hannover gedeutet. Wenn man Hannover von hinten liest, kommt „re von nah“ heraus. Und wenn man unter „re“ mit „rückwärts“ übersetzt, ergibt sich als Übersetzung des Wortes Hannover von hinten: „Rückwärts von nah“. Also folgert Schwitters, das stimme insofern, als dann die Übersetzung des Wortes Hannover von vorn lauten würde: „Vorwärts nach weit“. Ich glaube, das kann ein gutes Motto sein – Vorwärts nach weit“. Bevor wir aber allzu ungestüm nach vorne preschen: über reThink und Create nachdenken.

RAL Colour Feeling 2021+ Leporello
RAL Colour Feeling 2021+ Leporello © RAL/IIT

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Erfahren Sie mehr über die Colour Feeling 2021+ auf der Website von RAL.


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