Geschichte entsteht nicht von selbst. In Deutschland hat Gert Selle, Kunstpädagoge und später Professor für ästhetische Erziehung, seit den bewegten Siebzigerjahren tatkräftig an einer fundierten Designgeschichte mitgeschrieben. Zu Selles 90. Geburtstag zeichnet einer seiner ehemaligen Studenten wichtige Stationen und Positionen des Weges des Designhistorikers nach.
Von Gerd Ohlhauser
Als sich der Kunsterzieher Gert Selle 1968 von einem Frankfurter Gymnasium als Zeichenlehrer an die Werkkunstschule auf der Mathildenhöhe in Darmstadt versetzen ließ, traf er dort auf eine orientierungslos schlingernde Ausbildungsstätte. Ein autoritärer Direktor versuchte sich hartnäckig gegen die von den 68er Studierenden geforderten demokratischen Beschlussgremien und Prozesse zu halten. Das alte Werkkunstkonzept samt der formalistischen Grundlehre wurde von revolutionären Zellen attackiert. Der Städel-Absolvent Selle aber war schon beim zweisemestrigen kunstpädagogischen Aufbaustudium an der Kunstakademie in Kassel mit der von Ernst Röttger reproduzierten Bauhaus-Vorlehre zusammengerauscht, hatte am neu gegründeten Liebig-Gymnasium in Frankfurt einen auf Intuition und subjektive Erfahrung gerichteten Kunstunterricht aufgebaut und er hatte im Studienseminar mit Hermann K. Ehmer einen revolutionären Gesinnungsgenossen gefunden. Der spätere Herausgeber der epochemachenden Publikation „Visuelle Kommunikation. Zur Kritik der Bewusstseinsindustrie“ (1971), mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte, plädierte für eine Neuausrichtung des Kunstunterrichts, der die unterschwellige Manipulation durch die Bewusstseinsindustrie, das Produktdesign nicht ausgenommen, aufdecken und zu einem emanzipatorischen Medien- und Dinggebrauch befähigen sollte. Ein Konzept, das alsbald in die Rahmenrichtlinien für die hessischen Gymnasien einging, aber auch die traditionelle Gebrauchsgrafik-Ausbildung in Frage stellte.
Zeichnen als Visualisierung von Denkprozessen
Dieser Gert Selle mischte sich unmittelbar ein. Das Grundsatzprogramm der Hochschule für Design (März 1969) – „wir hatten uns für einige Monate eigenmächtig zur Hochschule ausgerufen“ – deutet sprachlich auf seine Mitarbeit. Er führte die Gespräche mit dem Kultusminister darüber an. Er wurde Mitglied der Prüfungskommission, ließ sich absichtsvoll zum Personalrat wählen. Der abstrakt-formalen Grundlehre setzte er eine zeichnerische Vorlehre entgegen, die zusammen mit Darstellender Geometrie und Technischem Zeichnen unversehens auch den Fetisch Modellbau relativierte, auch wenn der vielerorts bis heute die heilige Kuh des Industriedesigns geblieben ist. Selles Zeichenunterricht schloss warenästhetische Anbiederung kategorisch aus. Entwurfszeichnen hieß für ihn Visualisierung von Denkprozessen. Darstellen und Durchdenken des Entwurfs wurden eins. Seine Ausstellung beispielhafter Unterrichtsergebnisse, puristisch auf Wellpappe präsentiert, wollte einen programmatischen „Beitrag zur Diskussion einer didaktischen Konzeption, die der Problematik des Designs der Gegenwart gerecht zu werden versucht“, leisten, wie es im begleitenden knapp 70-seitigen Katalog „Darstellungsmethodik“ hieß. Selle (2007): „Ich habe nie etwas vom illusionistischen Zeichnen gehalten, es war eigentlich immer ein analytisches und konstruktives Zeichnen […] eine Sprache, mit der die Industriedesigner sich erst mal selber verständigen.“ Er unterscheidet zwischen dem „präsentativen und dem findenden oder dem entwickelnden Zeichnen. Zeichnen als eine Art verlängertes Imaginationsvermögen.“ Das aus Amerika herüber schwappende illusionistische Rendering überlässt er Kollegen.
Kritik an den unsichtbaren Abhängigkeiten der Industrieform
Dem eklatanten Mangel an theoretischer Grundlegung im Design begegnete er mit Seminaren zur „Designgeschichte und Ästhetik“. Erhalten ist ein 75-seitiges Skript „Politästhetik des fotografischen Sehens“ (1971). Man darf davon ausgehen, dass das darin angekündigte Folgeseminar „Der Fetischcharakter von Designobjekten und die Fungibilität von Designutopien (Versuch einer designtheoretischen Metakritik)“ die Grundlage seines ersten, bald danach erschienen Buches „Utopie und Ideologie des Design“ (Köln 1973, Neuauflage Wien 1997) bildete. Er sezierte darin die unsichtbaren Abhängigkeiten der Industrieform, ihre ideologischen Überhöhungen und utopischen Überfrachtungen. Zur weiteren Klärung und zur Selbstfindung des Fachs initiierte er einen „Modellversuch zur Neuorganisation der Studiengänge im Bereich Design“, der die inhaltliche Ausrichtung und Verfassung der circa 40 einschlägigen deutschen Ausbildungsstätten erfasste und analysierte. Selle schrieb den ersten Zwischenbericht (1974), war aber schon am zweiten (Frühjahr 1975) nicht mehr beteiligt und distanzierte sich ausdrücklich vom Abschlussbericht (Herbst 1975), nachdem er durch seinen Wechsel auf den Lehrstuhl für Kunst und Visuelle Kommunikation an der PH Braunschweig (1973/74) den „ideologischen“ Zugriff verloren hatte. Mit Bernd Meurer, einem Ulmer, den er nach Darmstadt gelotst hatte, entwickelte Selle jedoch eine Entdeckung des Modellversuchs fort: Sie schlugen den Kommunaldesigner als neues Berufsbild vor (Kommunaldesigner – ein Vorschlag aus Darmstadt, 1973). Die HFG Ulm hatte während der Umbruchphase in Darmstadt und anderswo übrigens erstmal keine Vorbildrolle gespielt.
Die Darmstädter Mathildenhöhe als Schaltstelle
Für Selle war die Mathildenhöhe nicht einfach Jugendstil, sondern ein „wagnerianischer Designhügel“, Anschauungsort geballter Designgeschichte und Schaltstelle der Einflussnahme. Hier hatte er seinen Arbeitsplatz in einem vom Kriegsbombardement verschonten Annex der als „Großherzogliche Lehr-Ateliers für angewandte Kunst gegründeten Werkkunstschule“. Hier hatten das „Institut für neue technische Form“ und der „Rat für Formgebung“ ihren Sitz. Mit einem „Sit in“ mit Studierenden forderte man die Jury des Bundespreises „Gute Form“ ultimativ auf, ihre Kriterien offenzulegen (1971). Im Atelierhaus der Künstlerkolonie logierten nacheinander auch das Bauhaus- und Werkbund-Archiv mit dem Büro des Generalsekretärs des Deutschen Werkbunds, gleichzeitig Gert Selles zweiter Arbeitsplatz. Hier machte man gemeinsam Bücher und über dessen Organ „Werk und Zeit“ verfocht Selle seine Thesen zur Designausbildung. Am 1908 fertiggestellten Hochzeitsturm hatte Olbrich bereits exemplarisch mit Licht, Farbe, Formen, Materialien, Struktur und Oberflächen das Vokabular der Moderne durchbuchstabiert. Bereits angelegt in den umliegenden Häusern der Künstlerkolonie, namentlich in dem von Peter Behrens erbauten, dem Pionier des Industriedesigns und Corporate Identity, in dessen Berliner Büro der Bauhausgründer Gropius, Mies van der Rohe und Le Corbusier gleichzeitig in die „Lehre“ der Moderne gegangen waren. (Nicht für den Jugendstil, sondern für das Einläuten der Moderne erhielt die Mathildenhöhe 2021 den Welterbe-Status.)
Auch erschlossen die Ausstellungshallen auf der Mathildenhöhe, auftragsgemäß ein Ort der Erforschung, Präsentation und Vermittlung von Kunst und Kultur seit 1900 mit besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Kunst, regelmäßig neue Aspekte der Gestaltung.
Auf der Mathildenhöhe residierte auch der Kulturdezernent Darmstadts, der Schriftsteller und spätere Oberbürgermeister Sabais, der Schule und Selle sehr verbunden war. Der Verlust der Hauptstadtfunktion an Wiesbaden nach dem Kriege sollte durch massive Investitionen in Kultur kompensiert werden. Ein Neubau der Schule stand bereits im Rohbau. (Poststempel: In Darmstadt leben die Künste.) Nicht zu vergessen die Ströher-Sammlung im nicht weit entfernten Hessischen Landesmuseum mit der seinerzeit größten Kollektion amerikanischer Pop-Art mit allein 38 Werken von Warhol und dem monumentalen Block Beuys. Selles Buch „Betrifft Beuys. Annäherung an die Gegenwartskunst“ (Unna 1994) dürfte hier seine Wurzeln haben. Die Hochschule Darmstadt, in der die Werkkunstschule als Fachbereich Gestaltung nach Inkrafttreten des Fachhochschulgesetzes Anfang der 1970er Jahre schließlich aufging, bewirbt den Fachbereich heute als die Design-Ausbildungsstätte mit den meisten Auszeichnungen in Deutschland. Ein Student gründete aus dem Studium heraus schon 1972 die „Funktion“, Darmstadts führendes Einrichtungshaus für modernes Design bis heute. Beispiele für die Aufbruchstimmung, zu der Selle nicht unerheblich beitrug.
Jugendstil und Kunst-Industrie
Auf der Mathildenhöhe hatte Selle Designgeschichte geschrieben und aufgesogen. „Jugendstil und Kunst-Industrie. Zur Ökonomie und Ästhetik des Kunstgewerbes um 1900“ (Ravensburg 1974) war denn auch das erste designgeschichtliche Buch des Kunstpädagogen. Im Zuge dessen gab er mit einem umfangreichen Vorwort „William Morris: Kunde von Nirgendwo“ (Köln 1974) heraus, das mehrere Auflagen erlebte. Morris gilt als Begründer von „Arts and Crafts“, einer von England ausgehenden sozialen Reformbewegung. Ihre zentralen Merkmale, handwerkliche Produktion, Einfachheit in Form und Material, beeinflussten maßgeblich Jugendstil, Werkbund und Bauhaus, am Ende auch Selle selbst. 1978 dann veröffentlicht er die erste Auflage seiner „Geschichte des Design in Deutschland“, die bis zur letzten Auflage 2007 um ein Drittel auf bald 450 Seiten angewachsen und zum Standardwerk geworden ist. Auch nach seinem Weggang aus Darmstadt blieb er mit Vorträgen und Katalogbeiträgen und Stellungnahmen zu Design präsent. 2008 hielt er einen der beiden Leitvorträge zur Gründung der „Gesellschaft für Designgeschichte”. Vieles davon hat seine Designgeschichte befruchtet oder hat den Weg in „Eine andere Designgeschichte“ gefunden, wie der Arbeitstitel seines ebenfalls 2007 erschienen Buchs „Design im Alltag. Vom Thonetstuhl zum Mikrochip“ lautete. Sein erklärtermaßen letztes Buch „Im Haus der Dinge“ (Frankfurt/ Darmstadt 2015) ist ein weiterer Orientierungversuch in der Welt des Designs bei fortschreitender Digitalisierung.
Seinen „Schneewittchensarg“ hat er gleich verschenkt
Nach Braunschweig lehrte Gert Selle von 1981 bis zu seiner Emeritierung 1999 als Professor für „Theorie, Didaktik und Praxis ästhetischer Erziehung“ an der Universität Oldenburg. Seine subjektbezogene Kunstpädagogik hat bis heute Einfluss auf das Fach. Die „Selle-Otto-Kontroverse“, in der Selle die Verbindung von Kunst und Pädagogik generell in Frage stellte, ist unvergessen. Neben den einschlägigen publizierte er mehrere Bücher über das Leben und Wohnen mit den Dingen. Für den Designtheoretiker, Kunstdidaktiker und Bildermacher, der er nebenbei auch noch war, war unser Verhältnis zu den Dingen und deren Verhältnis zu uns das verbindende und gleichermaßen beargwöhnte Thema – so sehr, dass er mit diesen so wenig wie möglich zu tun haben mochte. Seinen „Schneewittchensarg“, die Ikone des Braun-Designs, schenkte er gleich einem seiner ersten Studenten. Nur wenige Designobjekte fanden in seine Wohnung, wie die funktionale techno-minimalistische Schreibtischleuchte „Daphine“ von Tommaso Cimini (Ingenieurdesigner und Firmengründer der Firma Lumina, Mitte der 1970er entworfen) – dafür aber gleich viermal. Egal wo sie stand, auf dem Schreib-, Ess-, Bücher- oder Nachttisch, er hatte den Gebrauch maximal standardisiert. Bilder machte er nur zum eigenen Gebrauch, zum kostenlosen Nießbrauch anderer oder zum Verbrennen, wenn sie überhandnahmen. Mit dem Kunstmarkt wollte er nichts zu tun haben.
Nach Erscheinen des letzten Buches „Im Haus der Dinge“ konzedierte der Herausgeber der Kulturzeitschrift „Merkur“, Christian Demand, in seiner Designkolumne „Theoriemüdigkeit“ (Heft 817, Juni 2017): „Selle ist eine der wenigen intellektuellen Größen [der Designtheorie]. Er schreibt seit Jahrzehnten informiert, reflektiert und dabei leicht zugänglich über Designfragen, hat populäre Standardwerke zur deutschen Designgeschichte vorgelegt und war mit seinen Vorträgen sowie als Autor von Katalogbeiträgen über lange Zeit omnipräsent.“ Wobei er beklagt, dass dessen intellektuelle Sorgsamkeit im Design nicht Schule gemacht hat. Mit dem korrespondiert freilich das laxe Leseverhalten der Smartphone-Generation. Heutigen Designstudierenden erscheint Selle als eine „Textmaschine“. Auf der Wikipedia-Seite findet sich eine komplette Aufstellung seiner Monografien. Er ist allerdings nicht, wie dort angegeben, 1933 in Saarbrücken, sondern in Breslau geboren. Heute, am 17. Dezember 2023, feiert er seinen 90. Geburtstag.
Gerd Ohlhauser, ein ehemaliger Student Selles, hat im Preface-Verlag (chronologisch und als solche durchaus zeitzeugenhaft) unter dem Titel „Gert Selle: Design Denken“ auf 400 Seiten (A4) eine autorisierte Auswahl von fast 40 Vorträgen und Aufsätzen über fünf Jahrzehnte zusammengestellt und kommentiert (erscheint in Kürze. ISBN 978-3-947428-07-6). Unter dem Titel „Selle Lesen“ bietet der Verlag vorab ein Taschenbuch mit 100 Seiten Leseproben daraus an. (ISBN 978-3-947428-06-9)
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