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„Das neue Neu. Chance oder wishful thinking?“ Stephan Ott, Director des Institute for Design Research and Appliance, sprach zu diesem Thema anlässlich des World Industrial Design Day 2020 im Kunstverein Familie Montez in Frankfurt am Main. Anhand von drei Phänomenen ging er auf die Frage ein: Was braucht es für „das neue Neu“ im Kontext von Gestaltung?

Von Stephan Ott.


Bei der Vorbereitung habe ich lange überlegt, was ich mir unter der Frage nach dem Titel des heutigen Abends Das neue Neu. Chance oder wishful thinking? vorzustellen habe. Und je länger ich darüber nachgedacht habe, desto häufiger sind mir drei Phänomene in den Sinn gekommen, die im Grunde nicht neu sind, die mir aber für das Neue – für dessen Beurteilung wie für dessen Gestaltung – relevant erscheinen.

1. Jedem System unterliegt eine Struktur

Wir erleben derzeit, wie ein kleiner struktureller Organismus namens Corona nahezu allen Systemen, die in unserem Alltag eine Rolle spielen, ihre Grenzen aufzeigt. Das ging und geht so weit, dass wir systemrelevante Bereiche im Gesundheitswesen, im Verkehr und in der Wirtschaft definieren müssen, die des Schutzes und der Unterstützung bedürfen, damit sie nicht in kürzester Zeit kollabieren.

Dass wir Menschen überhaupt eine Überlebenschance haben, verdanken wir bisher weniger Systemen als vielmehr in erster Linie der Tatsache, dass unser Körper in der Lage ist, auf strukturelle Art und Weise auf Viren zu reagieren. Wären wir tatsächlich mit einem von uns oft so genannten Immunsystem ausgestattet, würden wir seit Generationen ausgestorben sein. Neben der strukturell funktionierenden Immunreaktionen unseres Körpers bewältigen wir darüber hinaus die derzeitige Situation mit relativ niederkomplexen Infrastrukturmaßnahmen: Abstandhalten, Händewaschen, Lüften und das Tragen von Masken.

Häufig sind es Krisen – Unfälle, Krankheiten, Naturkatastrophen –, die uns die Unzulänglichkeiten von Systemen vor Augen führen. Krisen sind die Momente, in denen Systeme infolge der ihnen eigenen Selbsterhaltungstendenz die Diskrepanz zur jeweils unterliegenden Struktur offenlegen. Wir sprechen dann zwar gerne von einer Strukturkrise, aber in erster Linie haben wir es mit einer Systemkrise zu tun.

Einer, der sich sehr intensiv mit dem Verhältnis von Strukturen und Systemen auseinandergesetzt hat, ist der Philosoph Heinrich Rombach. In seiner Strukturontologie schreibt er: „Die Häufung bestimmter Unfälle an einer Stelle des Systems beweist, daß das System dort nicht der verborgenen Struktur (dem „Verkehrsfluß“) entspricht. Der Unfall korrigiert das System nicht, aber er gibt Anlaß und Hinweis für eine mögliche Korrektur des Systems.“ (Heinrich Rombach, Strukturontologie – Eine Phänomenologie der Freiheit, Freiburg, München, 1988, S.170)

Dass wir Menschen überhaupt eine Überlebenschance haben, verdanken wir bisher weniger Systemen als vielmehr in erster Linie der Tatsache, dass unser Körper in der Lage ist, auf strukturelle Art und Weise auf Viren zu reagieren.

Ein gutes Beispiel für die von Rombach angesprochene Korrektur nach einem Unfall ist der (endgültige) deutsche Ausstieg aus der Atomenergie unmittelbar nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011. Interessant ist, dass das Aus aufgrund einer politischen Entscheidung erfolgte, die zwar von Umweltschützern jahrzehntelang gefordert worden war, die aber von rein technisch Argumentierenden einerseits und rein ökonomisch interessierten Konzernvertretenden andererseits bis heute heftig kritisiert wird.

Entscheidend ist nach meinem Dafürhalten, dass Innovationen, die den Namen verdienen, weder auf monodisziplinären Entscheidungen beruhen, noch nur dem Vorteil einiger weniger folgen dürfen, sondern allen Menschen – heute wie zukünftig lebenden – verpflichtet sind, so schwierig das auch sein mag. Ziel von Innovationen – und das wäre mein erster Vorschlag zum neuen Neu – sollte also in erster Linie nicht die Fixierung durch monokulturelle Systeme – in Form von Regeln, Gesetzen, Normierung, Bedeutungsfestlegungen etc.– sein, sondern zunächst immer die Durchdringung der zugrundliegenden Struktur sein.

Lassen Sie mich das an meinem zweiten Punkt verdeutlichen.

2. Technik wird immer verfügbarer

Die Entwicklungsgeschichte des Menschen ist seit jeher von technischem Fortschritt und dessen Folgen geprägt. Was sich massiv geändert hat, ist die Innovationsgeschwindigkeit und, was mir noch wichtiger erscheint, die damit einhergehende höhere Taktung, in der Menschen Innovationsentscheidungen treffen müssen. Hinzu kommt, dass selbst hochkomplexe Technik im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer verfüg- und handhabbarer geworden ist.

Dieses Phänomen führt unter anderem dazu, dass spezialisierte Unternehmen häufiger von branchenfremden Start-ups überholt werden, wenn sie mir die Metapher erlauben. Paradebeispiel ist die Automobilindustrie, die derzeit komplett auf den Kopf gestellt wird. Während hierzulande noch über mangelnde Reichweiten und fehlende Ladeinfrastrukturen diskutiert sowie über Spaltmaße gelästert wird, können Sie mit einem Tesla schon seit ein paar Jahren von Hammerfest bis Syrakus elektrisch fahren. Wohlgemerkt, aus meiner Sicht ist auch die Elektromobilität keinesfalls der Weisheit letzter Schluss. Zu groß sind und bleiben auch hier die unbewältigten Folgen, etwa der Ressourcenbelastung bei der Produktion, während des Betriebs und am Ende des Nutzungszyklus.

Erlauben Sie mir hinsichtlich der Folgen zur Verdeutlichung folgenden Vergleich:

Die Erfindung von Wurfspeeren vor ca. 300.000 Jahren bildete die Grundlage des im Lauf der Geschichte dann perfektionierten, technischen Ferntötens. Von den daraus erwachsenden kulturellen, psychologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen hat vor 12.000 Generationen kein Mensch auch nur eine Ahnung haben können. Am 28. September 2020 hat nun die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) die potenziellen Standorte für die finale deutsche Atommülldeponie bekannt gegeben. Die damit zusammenhängende Zahl ist schwindelerregend: Gesucht wird eine für 1 Million Jahre sichere Lagerstätte. Es bedarf dafür also einer Entscheidung, die für ca. 40.000 Generationen Gültigkeit behalten beziehungsweise menschengerecht sein soll. Das ist, bei allem Respekt vor dem Potenzial der heutigen Wissenschaft, menschenunmöglich, oder anders gesagt, hier kann nur, wie auch immer sie ausfallen mag, eine in allen Aspekten unmenschliche Entscheidung getroffen werden.

Mit jeder technischen Innovation stellt sich die Frage nach ihrer Konsequenz, natürlich nicht immer in der Dimension wie bei der Atomenergie, aber jede dieser Innovationsentscheidungen übt einen Einfluss aus, der inhaltlich, zeitlich, gesellschaftlich und vor allem natural weit über den rein technischen Aspekt hinausreicht. Es wäre deshalb aus meiner Sicht für das neue Neu entscheidend, die Technologie nicht nur als Wissenschaft und Lehre der jeweils möglichen Technik zu betrachten, sondern die potenziellen Konsequenzen in den Innovationsprozess einzubeziehen. Andernfalls sollten wir von Innovation gar nicht mehr sprechen.

Mit jeder technischen Innovation stellt sich die Frage nach ihrer Konsequenz, natürlich nicht immer in der Dimension wie bei der Atomenergie, aber jede dieser Innovationsentscheidungen übt einen Einfluss aus, der inhaltlich, zeitlich, gesellschaftlich und vor allem natural weit über den rein technischen Aspekt hinausreicht.

Ich komme zu meinem dritten und letzten Punkt:

3. Die Gegenwart verschwindet

Wir alle beschäftigen uns jeden Tag – privat und beruflich – auf verschiedene Art und Weise mit der Zukunft: mit der Zukunft unserer Arbeit, der Mobilität, des Klimas, des Designs und so weiter und so fort. Ebenso widmen wir der Vergangenheit unsere Aufmerksamkeit, in Ausstellungen, Publikationen oder auch fiktional, in Filmen und Serien. Beiden Zeiten – Zukunft wie Vergangenheit – ist ein spekulatives Moment gemein: Niemand weiß konkret, was die Zukunft bringen oder wie diese aussehen wird. Und je weiter eine Vergangenheit zurückliegt, desto mehr Details können verloren gehen; sie werden vergessen, manchmal werden sie aber auch absichtlich unterschlagen, geklittert oder collagiert.

In Zeiten schnell wieder verschwindender Instagram-Storys ist auffällig, dass wir die Gegenwart, die Zeit also, mit der wir uns nicht spekulativ, sondern sehr konkret aus eigener Erfahrung beschäftigen können, immer kürzer halten wollen. Es geht sogar so weit, dass wir uns wünschen, bestimmte Ereignismomente komplett zu eliminieren, dann etwa, wenn Kunden vor ihrer Bestellung beliefert, Krankheiten vor ihrem Ausbruch therapiert oder das Börsengeschäft Mikrosekunden vor Aufschwung oder Absturz abgeschlossen werden sollen. Ich nenne dieses Phänomen Rücksprung, und ich glaube, dass dieser Rücksprung, dem wir mithilfe der Technologie immer näherkommen, schon längst den Vorsprung durch Technik abgelöst hat. Dieses Entgleiten der Gegenwart stellt uns alle vor enorme Herausforderungen, denn trotz allem entbindet es uns nicht davon, begreifen zu müssen, was gegenwärtig ist. „Das, was ist, ist immer zugleich die gesamte Geschichte seines Gewordenseins und Werden-Könnens.“ So formuliert es der Dichter und Philosoph Dieter Leisegang.

Im Unterschied zur geplanten Obsoleszenz, bei der die Lebenszeit des Gegenstands künstlich verkürzt wird – Günther Anders hat das in Die Antiquiertheit des Menschen brillant analysiert – wird beim Rücksprung die Lebenszeit der Gegenwart verkürzt. Zwangsläufig finden dann immer weniger Gegenstände in unserer Gegenwart einen gebührenden Platz. Es entsteht ein Verdrängungswettbewerb, der Unternehmen vor große Herausforderungen stellt und mit dem sich auch Designende aller Branchen tagtäglich konfrontiert sehen. Das Resultat ist übrigens bisher nicht, dass weniger produziert würde. Vielmehr erhöht sich auch hier die Taktung, mit der Folge, dass wir als Konsumierende in einem Zustand der Dauererregung gehalten werden, der mit unserer Gegenwart als Menschen immer weniger Berührungspunkte hat.

In Zeiten schnell wieder verschwindender Instagram-Storys ist auffällig, dass wir die Gegenwart, die Zeit also, mit der wir uns nicht spekulativ, sondern sehr konkret aus eigener Erfahrung beschäftigen können, immer kürzer halten wollen.

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen:

Was braucht es für das neue Neu?

Wenn wir uns heute Abend die Frage nach dem neuen Neu stellen, dann ist die Antwort – oder zumindest der Ansatz einer Antwort – nach meinem Dafürhalten auf drei Feldern zu suchen:

Für eine allen Menschen gerecht werdende Gestaltung bedarf es einer eingehenden, grundlegenden Strukturanalyse (1). Monodisziplinär motivierte und fixierte Systeme werden den komplexen Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht werden.

Wir sollten die Erforschung und Vermittlung von technischem Know-how nicht allein der Technologie überlassen, sondern ihr eine Techno(philo)sophie (2), also eine geisteswissenschaftlich orientierte Erforschung und Vermittlung von Technik zur Seite stellen. Das passiert, wenn überhaupt, bisher zu wenig.

Wir benötigen, neben Geschichts- und Zukunftsforschenden, dringend kompetente Gegenwartsautoritäten (3). Relevante Zukunftsprognosen und eine Resistenz gegenüber historischen Klitterungsversuchen gelingen nur aus einer klaren Strukturanalyse (in) der Gegenwart.

Designende haben mit ihrer an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Arbeit, ihrem transdisziplinären Ansatz sowie ihrer auf die und in der Gegenwart wirkenden Tätigkeit nicht die schlechtesten Voraussetzungen, auf allen drei Feldern einen Beitrag zu leisten. Vielen scheint das aber noch nicht bewusst zu sein. Deshalb plädiere ich dafür, Strukturanalyse, Techno(philo)sophie und Gegenwartsexpertise explizit in das Curriculum jedes Studiengangs, nicht nur dem des Designs, aufzunehmen.


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