Das Bauhaus ist als Schule der Moderne weithin bekannt, das Neue Frankfurt als konkretes städtebauliches und gesellschaftliches Laboratorium kennen noch immer zu wenige. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums erinnert das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt mit zwei Ausstellungen an die Gestaltungsmoderne am Main.
von Thomas Wagner

Die Ausgangslage war alles andere als rosig. Dunkle Schatten lagen über Deutschland. Der Erste Weltkrieg hatte zwar nicht im eigenen Land gewütet, die Niederlage aber lastete schwer. Körper und Seelen waren versehrt; Demütigung, Isolation und Mangel lähmten ein Land, in dem es gärte: Novemberrevolution, Abdankung des Kaisers, das Aufbegehren radikaler Kräfte von Links und Rechts gegen den Versailler Vertrag, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise – die Stichworte sind bekannt. Armut, Wohnungsnot und soziale Spannungen verlangten in der jungen Demokratie der Weimarer Republik nach praktikablen Lösungen. Preiswerte Wohnungen mussten gebaut, staatliche Strukturen modernisiert, ein neues Gemeinschaftsdenken gestiftet werden. Mitte der 1920er Jahre brach eine Zeit neuer Freiheiten an. Anstelle aufwallender Expressionen regierte nun die kalte Logik der „Neuen Sachlichkeit“. Der „Neue Mensch“ und die „Neue Frau“ kündeten ebenso von Fortschritt wie die Neuerungen beim Bauen und Wohnen. Vom Telefon bis zum Automobil und Flugzeug, in Typografie, Fotografie, Reklame, Film und Musik, aber auch in der Organisation des Haushalts und der Gesellschaft, wollten die Lebensbedingungen neu gestaltet werden.

Der Weg zu einer weltoffenen Metropole
Mitte der 1920er Jahre war eine gewisse wirtschaftliche Stabilität erreicht. Im Oktober 1924 wurde Ludwig Landmann in Frankfurt am Main zum Oberbürgermeister gewählt; im Folgejahr berief er den Architekten Ernst May zum Stadtbaurat. Die Stadt sollte sich zu einer weltoffenen Metropole entwickeln. In den Zentren entstand, wie Siegfried Kracauer einmal bemerkt hat, ein homogenes „Weltstadtpublikum“, das „vom Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenotypistin eines Sinnes“ war. May und sein Team aus ehrgeizigen Architekt*innen, Techniker*innen und Designer*innen widmete sich nicht nur der drängenden Wohnungsfrage. Zupackend verfolgten sie einen umfassenden Gestaltungsanspruch, der in den folgenden Jahren an vielen Stellen des städtischen Lebens sichtbar wurde. In erstaunlich kurzer Zeit wurde realisiert, was als neu, modern und sozial galt – und für notwendig befunden wurde. Die städtebaulichen Konsequenzen sind bis heute erkennbar: Die Innenstadt sollte primär dem Handel und Büros dienen, Wohnraum in Trabantensiedlungen mit Grünflächen geschaffen werden, ohne Arbeiten und Wohnen allzu strikt zu trennen. Was unter dem Stichwort „Das Neue Frankfurt“ zusammengefasst wird, gilt bis heute in vielem als Vorbild, dachten Ernst May und seine Mitstreiter*innen wie Martin Elsaesser, Adolf Meyer, Ferdinand Kramer oder Margarete Schütte-Lihotzky doch nicht in isolierten Einheiten, sondern planvoll, organisatorisch, ökonomisch, sozial und ästhetisch zugleich. So gelang es, eine Dynamik zu entfesseln, aus der mehr als eine neue öffentliche Infrastruktur entstand.

100 Jahre Neues Frankfurt
„Das Neue Frankfurt“ feiert in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Für das Frankfurter Museum Angewandte Kunst ergeben sich daraus jede Menge gute Gründe, an den Aufbruchsgeist und die zentralen Projekte der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zu erinnern, sich von diesen anregen zu lassen und über sie hinaus bis in die Gegenwart zu blicken. Zwei von Grit Weber kuratierte Ausstellungen fächern die Gestaltungsmoderne am Main auf: „Was war das Neue Frankfurt?“ fasst die wichtigsten historischen Aspekte noch einmal zusammen, versteht sich zugleich aber als „Initialraum“, um weiterzudenken, was im Neuen Frankfurt angelegt war. Personen, Initiativen und Aktionsfelder werden anhand von Fragen dokumentiert, illustriert von Texten, Fotografien, Plakaten, Infografiken, einigen Objekten aus der Zeit, Filmen und eingesprochenen Originalzitaten. Zu den erfolgreich realisierten Projekten im Wohnungsbau gehören die Wohnsiedlungen Römerstadt (1927-28), Praunheim (1926-30), Bornheimer Hang (1926-30) oder Westhausen (1929-32), um nur einige Beispiele zu nennen, wie es gelang, innerhalb von nur fünf Jahren rund 12.000 Wohnungen zu schaffen. Damit aber nicht genug: Befeuert vom Aufbruchsgeist entstanden Schulen, Kindergärten und Bibliotheken, Hans Poelzigs IG-Farben-Haus (heute Campus Westend der Universität), ein Altenheim, ein Elektrizitätswerk, die (heute in den Bau der Europäischen Zentralbank integrierte) Großmarkthalle, Kliniken, Kirchen, das Waldstadion mit dem Stadionbad sowie öffentliche Grün- und Sportanlagen.


Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl
Die zweite Ausstellung widmet sich unter dem modisch zeitgeistigen Titel „Yes we care“ jenen gesellschaftlichen Bereichen, in denen das Gemeinwohl gestärkt und gefördert wurde. Welche Institutionen, Initiativen und Konzepte gab es vor 100 Jahren in Bildung, Haushalt, sozialer Fürsorge und Gesundheit? Wie haben sie den Alltag bereichert? Lassen sich womöglich Ideen und Maßnahmen entdecken, die einer gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken und bei der Lösung der aktuellen Krise in den Care- und Pflegeberufen helfen können? Hier soll Historisches mit Aktuellem verknüpft, eine Debatte über „den Wert einer sozialen Stadtgesellschaft“ angestoßen, „positive Impulse“ gegeben werden. Das Spektrum reicht von einer Neuorientierung des Erziehungs- und Bildungssystems, die reformpädagogische Ansätze aus der Vorkriegszeit aufgreift, über neue Kindergartenkonzepte, Freiflächen- oder Pavillonschulen bis zur Volksbildungsbewegung mit dem Ziel einer umfassenden Demokratisierung von Wissen – ob in Volkshäusern oder Volkshochschulen. Es ist nobel, den damaligen Geist des Gemeinwohls zu beschwören. Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass manches am neuen Gemeinschaftsgefühl nicht frei von Taylorismus war und sich später vom Nationalsozialismus völkisch instrumentalisieren ließ.
Während es Gropius über den Umweg USA gelungen ist, aus dem Bauhaus einen Mythos zu machen, findet das Neue Frankfurt bis heute nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit.
Das Bauhaus war die Schule, das Neue Frankfurt das Labor der Moderne
In den 1920er Jahren haben viele gegen den Stuck der Gründerzeitfassaden polemisiert, wie Bruno Taut „Tod allem Muffigen“ gerufen und das Klare, Durchsichtige, Reine hochleben lassen. Das Neue Bauen wurde in Frankfurt nicht erfunden. Auch Gropius und dem Bauhaus ging es um eine Erneuerung der Lebensformen. Da die meisten Wohnhäuser, Siedlungen und öffentlichen Gebäude des Neuen Frankfurt bis heute bewohnt und genutzt werden, lässt sich der Aufbruchsgeist in diesem Laboratorium der Moderne aber besonders gut studieren. Hier ging die Moderne tatsächlich in Produktion, hier wurde gehandelt, nicht geträumt; es wurden Standards festgelegt und „Normenblätter“ publiziert. Während es Gropius über den Umweg USA gelungen ist, aus dem Bauhaus einen Mythos zu machen, findet das Neue Frankfurt bis heute nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit. Umso wichtiger erscheint es, über die eng gezogenen Fachgrenzen von Architektur- und Designgeschichte hinaus weiter bekannt zu machen, was dieses Erneuerungsprogramm konkret geleistet hat. Daraus allein erwächst schon ein Appell für die Gegenwart. Der Brückenschlag zu Klimakrise, aktuellem Wohnungsmangel und neuer sozialer Spaltung bleibt gleichwohl herausfordernd. Die Wege zu tatsächlich nachhaltigem Wirtschaften und kreislauffähigem Bauen bleiben beschwerlich. Welche Ansätze man auch favorisiert, sie bleiben fromme Wünsche, solange nicht konkret zu werden vermag, wie sich jeder einzelne Vorschlag unter den gegebenen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen realisieren lässt.
Ob und inwieweit Aktivitäten und Projekte der World Design Capital Frankfurt RheinMain 2026 Ansätze des Neuen Frankfurt zu aktualisieren vermögen, bleibt abzuwarten. Fest steht: Nirgendwo sonst zeigt sich der Geist der Erneuerung so zupackend und optimistisch, wurde eine Reform der Gesellschaft und ein neuer Umgang mit Dingen, Prozessen und Strukturen so praxisbezogen und umfassend in Politik, Wirtschaft, Kultur und Forschung verankert wie im Neuen Frankfurt. Bis der Nationalsozialismus und die Vertreibung oder Ermordung der die Stadt prägenden jüdischen Unternehmer, Politiker und Intellektuellen dem Aufbruch ein Ende bereitet hat.



Museum Angewandte Kunst
Frankfurt am Main
10. Mai 2025 – 11. Januar 2026
In den kommenden Monaten feiern rund 150 Veranstaltungen das „Neue Frankfurt“. Der Katalog wird im Juni präsentiert.

Über den Autor
Thomas Wagner, geb.1955, hat in Heidelberg und Brighton (Sussex) Germanistik und Philosophie studiert. Bereits während des Studiums arbeitet er als Kunstkritiker und freier Journalist. Ab 1986 schreibt er für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1991 bis 2007 als leitender Redakteur für Bildende Kunst und Design zuständig ist. Anschließend freier Autor, Kunstkritiker und Kolumnist. Für Stylepark baut er ein Online-Magazin auf. Er war Redakteur des Magazins designreport des Rat für Formgebung und ist derzeit Online-Redakteur bei ndion. Thomas Wagner hat als Vertretungs-, Gast- und Honorarprofessor gelehrt und war Gründungsmitglied der DGTF. Er war und ist Mitglied zahlreicher Jurys.
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