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Kurz vor der Bundestagswahl wird über Programme, Köpfe und Koalitionen diskutiert – aber kaum darüber, wie Politik eigentlich entsteht. Philipp Cartier und sein Team bringen mit der Gestaltungszentrale Politik Designmethoden in politische Prozesse ein, um Entscheidungen explorativer zu machen. Bundestagsabgeordneter Armand Zorn kooperiert mit der Initiative. Ein Gespräch über die Frage, warum Politik Design braucht.

Interview von Stephan Ott

Wiebke Dorfs und Sema Keleta aus dem Büro des Bundestagsabgeordneten Armand Zorn (Mitte) mit Philipp Cartier (zweiter von rechts) und Robert Schröter von der Gestaltungszentrale Politik | © Gestaltungszentrale Politik e.V.
Philipp Cartier von der Gestaltungszentrale Politik / Foto: Martha Frieda Friedel 
Armand Zorn, MdB, SPD | Offizielles Pressefoto

Philipp, Du hast die Gestaltungszentrale Politik mitgegründet. Was steckt dahinter, und wie bist Du auf die Idee gekommen?

Philipp Cartier: Die Gestaltungszentrale Politik ist eine Initiative, die sich mit Gestaltungsprozessen in der Politik beschäftigt. Im Design ist es gängig, dass wir Entwurfsprozesse genau analysieren und verändern – in der Politik hingegen steht meist das Ergebnis im Fokus, weniger der kreative Prozess dahinter. Während meiner Masterarbeit habe ich das genauer untersucht, unter anderem durch eine teilnehmende Beobachtung: acht Wochen in der Hamburger Bürgerschaft und drei Wochen im Bundestag. Dabei wurde mir klar, dass es in politischen Entscheidungsprozessen oft Defizite gibt, wenn es darum geht, Themen zu erkunden und neue Ansätze zu entwickeln. Gleichzeitig gibt es spannende internationale Beispiele, wie das Helsinki Design Lab, das gezeigt hat, wie Designmethoden Politik bereichern können. Daraus entstand die Idee, Gestaltung, wie wir sie im Design verstehen, und Politik gezielt zusammenzubringen – und politische Prozesse nicht nur zu beobachten, sondern aktiv als Gestalter zu intervenieren.

Armand, wie kam die Zusammenarbeit mit Philipp zustande, und wo siehst Du in der Politik den größten Bedarf für Verbesserungen?

Armand Zorn: In der Politik gibt es eine Vielzahl an Prozessen – einige sind gesetzlich festgelegt, andere haben sich informell über die Jahre etabliert. Viele dieser Abläufe funktionieren. Aber weil sie nie hinterfragt werden, gibt es oft unnötige Ineffizienzen. Als jemand, der sechs Jahre in der Unternehmensberatung gearbeitet hat, ist mir das sofort aufgefallen. Ich habe mich gefragt: Wie viel effektiver könnten wir arbeiten, wenn wir bestimmte Prozesse anders gestalten würden? Als einzelner Bundestagsabgeordneter stößt man aber schnell an Grenzen. Deshalb war es ein Glücksfall, dass Philipp und ich uns kennengelernt haben. Bei unserer Zusammenarbeit geht es aber nicht nur um Effizienz. Politik soll nicht nur schneller arbeiten und bessere Ergebnisse liefern, sondern auch Akzeptanz schaffen und Entscheidungsprozesse transparenter machen. Genau hier setzt unsere Zusammenarbeit an: Durch die Verbindung von Designmethoden und politischer Praxis wollen wir Prozesse nicht nur optimieren, sondern auch qualitativ verbessern.

Philipp, Du hast bei Deiner teilnehmenden Beobachtung festgestellt, dass politische Entwürfe oft nur auf einem DIN-A4-Blatt stattfinden, während Design ganz anders mit Entwurfsprozessen umgeht. War das ein entscheidender Ansatzpunkt für Ihre Arbeit?

Philipp Cartier: Es war auf jeden Fall ein Ansatzpunkt. Während meiner acht Wochen als teilnehmender Beobachter fiel mir auf, dass in der politischen Arbeit fast ausschließlich auf hochkant beschriebenen DIN-A4-Papier gearbeitet wird – es gibt kaum andere Formate. In meiner eigenen Arbeitsweise nutze ich beispielsweise Notizbücher in verschiedenen Größen, digitale Räume oder Wände mit Ideen und visuellen Skizzen, um Themen zu strukturieren und weiterzuentwickeln.

Besonders auffällig war, dass politische Entwürfe immer mit einem Text beginnen: Erst entsteht ein Eckpunktepapier, dann ein Positionspapier, danach ein Referentenentwurf, und schließlich wird ein Gesetz daraus. Am Ende muss es immer Text sein, das ist klar. Aber warum von Anfang an in Textform gearbeitet werden muss, war mir nicht klar. Diese Erkenntnis hat sich auch in der Zusammenarbeit mit Armand bestätigt.

Armand Zorn, Philipp Cartier, Sema Keleta und Wiebke Dorfs (v.l.n.r.) vor einer Wand voller Ideen und Gestaltungsansätze | © Gestaltungszentrale Politik e.V.

Armand, ist es tatsächlich so, dass Politik vor allem auf Papier und Text beruht?

Armand Zorn: Ja, das stimmt. Aber ich finde das nicht grundsätzlich problematisch. Text ist für viele – insbesondere Jurist*innen – das präziseste Arbeitsmittel, gerade bei komplexen Themen. Doch was ich aus der Zusammenarbeit mit Philipp mitnehme, ist die Idee, die Optionen zu erweitern. Es geht darum, für jede Situation die richtigen Werkzeuge zu wählen – ob Text, visuelle Hilfsmittel oder andere Methoden. Viele politische Prozesse sind repetitiv und zielgerichtet, da funktioniert das traditionelle Vorgehen gut. Aber es gibt auch offene, unklare Fragestellungen, bei denen neue Lösungsansätze gefragt sind. Hier kann ein breiteres Spektrum an Gestaltungsmethoden helfen, um Perspektiven zu erweitern und reflektierter zu arbeiten.

Durch die Verbindung von Designmethoden und politischer Praxis wollen wir Prozesse nicht nur optimieren, sondern auch qualitativ verbessern.


– Armand Zorn

Sowohl Politik als auch Design gestalten – aber auf unterschiedliche Weise. Du sagst: Politik entscheidet, Design entwirft. Wie kam es zu dieser Erkenntnis, und was bedeutet das für Eure Arbeit?

Philipp Cartier: Diese Unterscheidung war ein wichtiger Ausgangspunkt. Design arbeitet mit Entwürfen. Wir probieren aus, entwickeln Varianten und lernen aus jedem Schritt. Die gesamte Gestaltungszentrale Politik ist letztlich ein fortlaufender Entwurf, der sich weiterentwickelt. Politik hingegen trifft Entscheidungen, wählt aus vorhandenen Möglichkeiten die beste aus. Das ist eine Fähigkeit, die im politischen Betrieb intensiv trainiert wird. Unsere Idee ist, mehr Sensibilität für die Entwurfsprozesse in der Politik zu schaffen, also eine größere Vielfalt an Möglichkeiten zu erarbeiten, bevor Entscheidungen getroffen werden. Politik gestaltet bereits, aber sie könnte noch stärker davon profitieren, wenn sie sich mehr Raum für das eigentliche Entwerfen und Erkunden neuer Ansätze nimmt. Hier setzen wir an.

Kann Design dazu beitragen, bessere Entscheidungsgrundlagen in der Politik zu schaffen, indem es nicht sofort Lösungen vorgibt, sondern durch iterative Prozesse verschiedene Entwürfe entwickelt?

Armand Zorn: Ja, das würde ich so sagen. Philipp hat es gut auf den Punkt gebracht: Wir haben viel voneinander gelernt. Designer*innen haben oft einen Hang zur Perfektion, während Politiker*innen meist rational und lösungsorientiert denken und möglichst schnell zu einer Entscheidung kommen wollen. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen können sich gut ergänzen.

Interessanterweise hätten wir viele der Themen und Prioritäten wohl auch ohne den Designprozess gefunden. Der eigentliche Gewinn lag aber darin, wie wir andere Leute einbezogen haben und welche neuen Perspektiven dadurch sichtbar wurden. Wir haben Dinge erfahren, die uns vorher nicht bewusst waren, und das allein war ein großer Erkenntnisgewinn.

Team-Mitglieder der Gestaltungszentrale Politik e.V. im Gespräch | Foto: Martha Frieda Friedel 

Dürft Ihr konkreter über Euer gemeinsames Projekt sprechen?

Philipp Cartier: Ja, als gemeinnütziger Verein müssen wir sogar transparent arbeiten. Das Projekt drehte sich um digitale Kompetenzen in der Gesellschaft. Ein Thema, das Armand als Digitalpolitiker beschäftigt. Die Frage war: Wie können wir Menschen besser auf die digitalen Herausforderungen im Alltag vorbereiten?

Wir haben das Thema durch Workshops und Interviews erfasst und bearbeitet. Die größte Herausforderung war die Zeit: Das Projekt lief über anderthalb Jahre mit langen Pausen, etwa wegen der Landtagswahlen in Hessen. Am Ende haben wir vier bis sechs konkrete Ideen erarbeitet: Mit denen kann sich das Büro von Armand jetzt in die politische Aushandlung einbringen und weiß, welche Inhalte kommuniziert werden sollten und wie bestehende Ansätze ergänzt werden können.

Wie geht es jetzt weiter? Wird das Projekt in einen Gesetzentwurf einfließen?

Armand Zorn: Die Ergebnisse fließen in unsere politischen Forderungen ein. Nach der Bundestagswahl wollen wir – je nachdem, wie sie ausgeht – einige Vorschläge umsetzen. Das Projekt hat sich also absolut gelohnt.

Ein wichtiger Mehrwert war die Einbindung relevanter Akteure, die bereits an dem Thema arbeiten. Dadurch entstand eine größere Akzeptanz und bessere Vernetzung. Jetzt gehen wir getrennte Wege, da Philipp und die Gestaltungszentrale Politik neue Erfahrungen sammeln wollen. Das ist auch wichtig.

„Es geht weniger um eine strikte Methodik, sondern um eine flexible, intuitive Herangehensweise, fast schon eine Art naive Neugier. Man beobachtet, stellt Fragen, folgt Prozessen – ohne vorher genau zu wissen, was dabei herauskommt.“


Philipp Cartier

Team-Mitglieder der Gestaltungszentrale Politik e.V. | Foto: Martha Frieda Friedel 

Viele verschiedene Akteure waren in den Prozess eingebunden. Hat das Design aus Eurer Sicht den interdisziplinären Prozess qualitativ verbessert?

Philipp Cartier: Die Zusammenarbeit von Design und Politik alleine war bereits trans- und interdisziplinär. Der Prozess darüber hinaus aber auch, ein Beispiel: Beim letzten Workshop haben wir eine größere Runde aus Zivilgesellschaft und Initiativen versammelt. Zwei Teilnehmende waren sogar zum zweiten Mal dabei. Die Gruppe war sehr gemischt – Vertreter*innen von AWO, von Digitalinitiativen, aus Wissenschaft und Praxis. Disziplinäre Grenzen verschwammen schnell, jeder arbeitete zusammen. Natürlich hängt das von den Leuten ab, aber in unserem Fall hat es gut funktioniert.

Armand Zorn: Ja, absolut. Unser Prozess war langsamer, weil wir nicht sofort eine Lösung festgelegt, sondern immer wieder hinterfragt und das Thema breiter betrachtet haben. Philipp und die Gestaltungszentrale Politik haben darauf geachtet, dass wir nicht zu schnell voranschreiten – und im Nachhinein hat das alles Sinn ergeben. Hätten wir stattdessen ein Positionspapier geschrieben, wäre es nur kommentiert worden – entweder vollständig abgelehnt oder punktuell angepasst. Doch weil wir uns nicht schon früh auf ein erstes Bild festgelegt haben, konnten wir offen diskutieren, Denkverbote vermeiden und neue Perspektiven einbeziehen. Normalerweise frage ich immer: Ist das politisch umsetzbar? Doch diese Frage durften wir nicht stellen. Das hat einen großen Unterschied gemacht.

Philipp, ist das für Dich der entscheidende Unterschied?

Philipp Cartier: Nicht der entscheidende, aber auf jeden Fall ein großer. Genau wie es für Armand ein Experiment war, war es das auch für uns – wir hatten vorher ja keine Blaupause und haben auch viel dabei gelernt. Ein wichtiges Learning war, dass die Ideen gar nicht so weit von dem entfernt sind, was Armand und sein Team sich schon gedacht hatten. Das ist für uns eine Rückmeldung an den Prozess, beim nächsten Mal wollen wir noch stärker neue Denkrichtungen erkunden. Entscheidend waren auf jeden Fall die intensive Auseinandersetzung und die Art, wie sie stattfand. Es geht weniger um eine strikte Methodik, sondern um eine flexible, intuitive Herangehensweise, fast schon eine Art naive Neugier. Man beobachtet, stellt Fragen, folgt Prozessen – ohne vorher genau zu wissen, was dabei herauskommt.


Dieses Gespräch fand statt am 31. Oktober 2024 im Rahmen des GDG-Talks „Von der Forschung in die Anwendung“ im Museum Angewandte Kunst Frankfurt, moderiert von Stephan Ott, Leiter des Institute for Design Research and Appliance – IfDRA. Anschließend wurde es transkribiert und zusammengefasst.

Das Team der Gestaltungszentrale e.V. | Foto: Martha Frieda Friedel 

Philipp Cartier, Gründer der Gestaltungszentrale Politik

Philipp Cartier ist Designer, Mitgründer der Gestaltungszentrale Politik und einer der Gewinner der German Design Graduates 2024. Nach einem Bachelorstudium in Industriedesign an der Hochschule Hannover absolvierte er seinen Master an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HFBK). Seine Masterarbeit trug den Titel Gestalten unter sich. Teilnehmende Beobachtungen eines Designers im Politikbetrieb. Im Jahr 2023 gründete er gemeinsam mit Bekannten die Gestaltungszentrale Politik e.V., eine überparteiliche Organisation, die die Schnittstelle von Design und Politik erforscht und politische Akteur*innen in Gestaltungsprozessen unterstützt. Seit Januar 2025 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und arbeitet dort im Forschungsprojekt „Redesign Democratic Representation“.

Armand Zorn, Mitglied des Deutschen Bundestages

Armand Zorn ist seit 2021 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Frankfurt am Main I. Er hat vier akademische Abschlüsse in Politikwissenschaft, Geschichte, Wirtschaftsrecht und International Economics, die er unter anderem in Halle, Paris und Konstanz erworben hat. Vor seinem Einzug in den Bundestag war er sechs Jahre in der Unternehmensberatung tätig und sammelte zuvor politische Erfahrung in der französischen Nationalversammlung und im Bundesministerium der Finanzen. Als Abgeordneter liegt sein Schwerpunkt auf Digitalisierung und Finanzpolitik, er ist Mitglied im Finanzausschuss sowie im Ausschuss für Digitales.

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