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Das rechte Buch zur richtigen Zeit? Ganz zweifellos ist Künstliche Intelligenz eines der heute dominierenden Themen, gerade auch der letzten Wochen. Und insofern ist die Frage nach dem Verhältnis von Gestaltung und KI für die Disziplin und uns Gestalter*innen wesentlich.

Von Jochen Denzinger, ohne Chat GPT

Alle haben wir inzwischen gelernt, was ‚large language models‘ (LLM) und ‚prompts‘ sind, ebenso wie DALL•E und Chat GPT funktionieren (oder eben auch nicht). Wir konnten sehen, dass große Player wie Microsoft getreu dem Motto „ask forgiveness, not permissionganze Ethik-Teams gefeuert haben. Täglich werden neue AI-Tools vorgestellt, Chancen wie Gefahren breit und kontrovers diskutiert. Manche*r sieht in den letzten Entwicklungen bereits den ersten „Zündfunken einer ‚Artificial General Intelligence‘“ (AGI) bzw. starken KI, während zeitgleich Silicon-Valley-Helden wie Steve Wozniak und Elon Musk ein sofortiges Moratorium für KI-Systeme fordern.

Erschienen im Herbst 2022 thematisiert „Design und künstliche Intelligenz“ das Verhältnis von Design zu KI und, so der Untertitel, „Theoretische und praktische Grundlagen der Gestaltung mit maschinell lernenden Systemen“. Die beiden Autoren versprechen den richtigen Hintergrund: Marc Engenhart ist Kommunikationsdesigner mit eigenem Büro in Stuttgart, Sebastian Löwe ist Professor für Designmanagement an der Mediadesign Hochschule Berlin und promovierte zum Thema Kitsch. Beide haben 2020 gemeinsam die Konferenz „Designing with Artificial Intelligence (dai)“ durchgeführt.

Das gut 200-seitige Buch ist in fünf Teile gegliedert. Nach einer Einführung werden zunächst technisch-konzeptionelle Grundlagen künstlich-intelligenter Systeme dargestellt und einige zentrale Ansätze beschrieben – dies sind (1.) Artificial Neural Networks (ANN), (2.) Convolutional Neural Networks (CNN), (3.) Recurrent Neural Networks (RNN) sowie (4.) Generative Adversarial Networks (GAN). Dabei wird auch kurz auf die sogenannten ELSI (Ethical, Legal, and Social Issues) eingegangen. Das dritte Kapitel widmet sich der „Gestaltung mit und für intelligente Systeme“. Hier wird zunächst ein Designprozess als Grundlage genommen, um AI-basierte Werkzeuge vorzustellen, die in den einzelnen Prozessschritten Anwendung finden können: Design mit intelligenten Systemen. In einem zweiten Teil des Kapitels wird auf den Komplex des Design für intelligente Systeme – „Intelligence Experience“ – eingegangen. Schließlich werden noch Auswirkungen auf die Domäne der Gestaltung behandelt. Im vierten Kapitel werden sechs „Case Studies“ aus verschiedenen gestalterischen Anwendungsbereichen – Kommunikationsdesign, Mode, Interface-Design, Medienkunst, Architektur und Interaktionsdesign – mit zahlreichen Abbildungen vorgestellt. Das letzte Kapitel schließlich will einen praktischen Einstieg geben und greift nochmals das Thema „mit intelligenten Systemen gestalten“ im Sinne von „How-to“ nochmals auf. Ein Fazit oder Ausblick fehlen.

Das Buch wird begleitet von einer Website, die die AI-Tools, nicht aber die weiteren Referenzen des Buches bereitstellt.

Zu viel vorgenommen

„Design und künstliche Intelligenz“ nimmt sich viel vor. Zu viel. Und es scheitert daran. Es fehlen die großen Linien, Tiefenschärfe und Fokus – was ist das Wesentliche, das Spezielle an der Beziehung von AI und Design? Vieles dessen, was so gesagt wird gilt für jegliche Art digitaler Produkte und der Kern des Themas wird so nicht erfasst.

Das Buch will zeigen, wie man mit KI-basierten Tools gestaltet und wie man für KI nutzende Anwendungsdomänen gestaltet. Es will die „Fragen des Designs mit KI systematisieren und in eine theoretische Ordnung überführen und aus der Sicht des Designs umfassend wissenschaftlich diskutieren“ und dabei gleichermaßen technische Grundlagen vermitteln, Auswirkungen darstellen und noch die Praxis abdecken. Zwar wird in der Einleitung ein Fokus „vor allem auf die visuelle Gestaltung“ angekündigt, dieser in der Folge aber verlassen und u.a. über HCI und UX, Mode, Gaming, Investitionsgüter, Medienkunst oder Architektur und Stadtplanung gesprochen.

Bereits die Struktur des Buches spiegelt diese Problematik: Die zentralen Themenkomplexe – Design mit AI, Design für AI sowie die Auswirkungen durch AI – finden sich in einem einzigen Kapitel. Die AI-Tools werden ausführlich in Kapitel 3.2 dargestellt und finden sich dann in 5.4 nochmals. Andere zentrale Themen wie die ethischen Fragen sind über das Buch verteilt. Themen wie Ethik, Arbeit, rechtliche Fragen, die Auswirkung auf die Designausbildung oder Wertschöpfung sind zwar erwähnt, aber substanzlos.

Die KI-basierten Werkzeuge[1] sind auf Basis eines Designprozesses strukturiert, der auf eine einzelne Quelle zurückgeführt wird. Und der dann in dieser genannten Referenz nicht vorkommt [sic!][2].
Die manifestierte Linearität dieses Designprozesses wirft in Zeiten agiler Entwicklung ebenso Fragen auf, wie die dargestellten Prozessphasen selbst.

Taxonomie der intelligenten Gestaltungssysteme, aus: Design und künstliche Intelligenz, © Marc Engenhart, Sebastian Löwe

Die Darstellung der Werkzeuge spiegelt primär deren technologisches Nutzungsversprechen: Alles geht. Es findet keine Reflexion oder Überprüfung der Tools auf ihren wirklichen Nutzwert in der Praxis hin statt. Was uns die Tools jenseits von Effizienzgewinnen wirklich bringen? Wo noch offene Fragen sind? Es wird leider auch bei den später dargestellten Praxisbeispielen nicht klar.

Zentrale Linien des aktuellen Diskurses bleiben unerwähnt. So wird zwar immer wieder eher metaphorisch auf die „Augmentation“ durch KI verwiesen. Der Begriff bezieht sich dabei aber zu keinem Zeitpunkt auf das Forschungsfeld der „Augmented Intelligence“ und dessen Historie[3], das auf ein partnerschaftliches Verhältnis von Mensch und KI zielt und für die Mensch-Maschine-Kommunikation aktuell wohl eines der wesentlichen Paradigmen darstellt[4]. Im Kontext der HCI und des Designs gleichfalls wichtige Ansätze wie „Explainable AI“, „Human-in-the-Loop“ oder „Transparent AI“ sucht man vergebens. Und das zentrale Anwendungsfeld der Recommender- und Entscheidungsunterstützungssysteme ist allenfalls stiefmütterlich behandelt.

Alles neu?

Das Buch folgt dem Narrativ, dass AI die Dinge intelligent mache und per se neu sei.

Karl Klammer, ein KI-Konzept aus den 1990er Jahren, © Microsoft

Und so werden aus gemeinen Interfaces eben „Intelligent User Interfaces“ (IUI). Dabei ist der Begriff der „Intelligent User Interfaces“ für Interfaces von AI Systemen weder neu noch meines Erachtens in der Debatte zielführend: Das Konzept kam vor über zwanzig Jahren auf. Als eines der prominenten Beispiele gilt „Clippy“. Der MS Office Assistent, eine animierte Büroklammer von toxischer Fröhlichkeit und eher eingeschränktem Nutzwert, wurde bereits 2003/2004 von Microsoft in Rente geschickt.

Eine Herleitung, Einordnung oder kritische Diskussion des Konzepts? Eine Erörterung, was IUI-Design von der Gestaltung tradierter multimodalen Interfaces unterscheide und inwiefern diese Unterscheidung für uns Gestalter*innen relevant wäre? Fehlanzeige. Dabei zeigt sich im Ansatz der Intelligent User Interfaces das Problem, dass hier das Interface und die Benutzungsoberfläche mit der Logik und dem Systemverhalten vermischt werden. Entsprechend agieren jetzt auch die Interfaces im Buch – sie „verfügen über ein Verständnis der Aufgabe, die Nutzer*innen erledigen möchten sowie über die Situation, in der sie sich befinden“, „erkennen und verarbeiten Basisemotionen“ und „schlussfolgern sinnvoll“.

Gestaltung

So manifestiert sich ein allzu einfaches Verständnis von Design: Erst mit KI-Systemen ziehe das Moment der Vorhersage in die Welt des Designs ein. KI erhöhe die gestalterische Freiheit, da erst sie es erlaube sich von Referenzen in der Wirklichkeit zu entkoppeln und Dinge zu visualisieren, die es so noch nicht gibt. Was, so fragt man sich, machen Gestalter*innen denn heute, wenn nicht Zukünfte zu antizipieren – also vorherzusagen – und diese Vorhersagen greifbar zu machen – also ­­­­zu visualisieren und in Modelle zu fassen?

AI erlaube es mehr Designvarianten zu erstellen und so gewinne der Designprozess an Qualität.

AI ermögliche es Nutzer*innenanforderungen auf Datenbasis zu erfassen, Entscheidungen zwischen den Alternativen zu treffen und so bessere Produkte zu erzeugen.

Fragen der Komplexität von Designentscheidungen, des Verhandelns unterschiedlicher Stakeholder-Interessen, auch der unterschiedlichen Handschrift von Gestalter*innen spielen in der Betrachtung so allenfalls eine periphere Rolle. Die Tatsache, dass Daten nur für bestehende Produkte vorliegen und die Frage, wie aus solchen Daten radikale Innovationen möglich sind? Bleibt, wie so vieles, offen.

Fazit

Das Buch will „Grundlagenwerk“ sein und „KI-Schnittstellenwissen für Designern*innen“ bereitstellen. Das Beantworten der Fragen, wie sich das Verständnis von Kreativität und Gestaltung durch KI verändere und welche neuen Fähigkeiten Gestalter*innen angesichts der sich abzeichnenden Herausforderungen benötigen sei ein „Desiderat der Designforschung“.

Diesem Bedarf kann ich uneingeschränkt zustimmen.

Allein, dieses Buch füllt diese Lücke nicht.

Offenbar haben, um im Bild zu bleiben, zentrale Trainingsdaten gefehlt.


KI
Design und künstliche Intelligenz, © Birkhäuser

Design und künstliche Intelligenz

Theoretische und praktische Grundlagen der Gestaltung mit maschinell lernenden Systemen
Marc Engenhart, Sebastian Löwe

2022
208 Seiten
Deutsch
48 Farbige Abbildungen
Birkhäuser Verlag GmbH
54,00 Euro


[1]Auch dies ist kein neues Konzept – Douglas Engelbart, u.a. der Erfinder der Maus, hat es bereits 1962 in seinem Aufsatz „Augmenting Human Intellect: A Conceptual Framework“ skizziert.

[2] Stattdessen wird kurz auf das kaum verbreitete Konzept „kognitiver Orthesen“ aus dem Jahr 2015 verwiesen (110).

[3] Für mich zugegebenermaßen der uninteressanteste Teil des Buches, da er bedingt durch die Taktung der Entwicklung schnell obsolet wird.

[4] Ein sehr entspannter Umgang mit Quellen, der sich an anderen Stellen leider ähnlich zeigt. So werden bspw. die Aussagen einer Studie, die explizit für den Entwurf im Bereich „Fashion Design“ getroffen werden ohne weitere Begründung auf den gesamten Bereich der Gestaltung generalisiert (69).


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