Der Lack am deutschen Design blättert, vor allem bei den Zugpferden des einstigen Exportweltmeisters: den Luxuskarossen. Kritiker*innen mokieren sich über grimmige Kühler und wuchtige Karosserien. Und während chinesische Elektroautos mit fließender Eleganz überraschen, dominiert hieruzulande der Eindruck lähmender Stagnation. Steckt der Designstandort Deutschland wirklich in der Krise? Was steckt hinter der Fundamentalkritik?
von Oliver Herwig

Einen differenzierteren Blick auf das gestalterische Selbstverständnis hinter „Made in Germany“ wirft eine aktuelle Studie der Strategieberatung Sturm und Drang, die in Zusammenarbeit mit Serviceplan und dem Meisterkreis entstanden ist. Sie zeigt: Der internationale Respekt ist ungebrochen, aber die nationale Wahrnehmung ist tief gespalten. Die Krise, wenn es denn eine gibt, liegt vor allem im Bild, das „deutsches Design“ zur Mitte der 2020er-Jahre abgibt.
Was die Studie an Zahlen zutage fördert, ist äußerst aufschlussreich: Während 39 Prozent der internationalen Konsument*innen das Image von „Made in Germany“ sogar positiver wahrnehmen als früher, sehen 42 Prozent der Deutschen eine Verschlechterung. Diese Diskrepanz verweist auf eine tiefe Verunsicherung. Deutschlands Selbstbild wankt angesichts deutlicher Systemmängel: Aktenordner prägen noch immer das Bild der öffentlichen Verwaltung, der Neubau des Berliner Flughafens geriet zur Lachnummer und täglich zeigt sich der jämmerliche Zustand vieler Straßen und der Deutschen Bahn. Dazu passt, dass die vertraute Exportwelt auseinanderfällt und Trump mit dem Vorschlaghammer auf die Globalisierung einschlägt.
Die Wucht der Designkritik ist also nicht bloß ästhetisch motiviert. Sie ist ein Symptom für Zweifel an deutscher Innovationsfähigkeit und für die Angst vor dem Bedeutungsverlust einer Industrienation. Wenn Technik nicht mehr überlegen ist und nicht mehr begeistert, stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem kulturellen Mehrwert: Was steckt hinter dem Produkt? Zugespitzt: Wo verbirgt sich seine Seele?



„Während 39 Prozent der internationalen Konsument*innen das Image von ,Made in Germany‚ sogar positiver wahrnehmen als früher, sehen 42 Prozent der Deutschen eine Verschlechterung.“
Design ist mehr als Styling
Die „German Design Angst” hat noch andere Gründe. Noch immer hält sich zwischen Ems und Isar der Mythos, Design sei nur die schöne Hülle der eigentlichen Innovation, die von Ingenieurinnen und Entwicklern stammt. Nichts könnte falscher sein. Design ist keine nachträgliche Aufhübschung, sondern integraler Bestandteil jeder Produktentwicklung. Wenn Autos heute in Wolfsburg, Ingolstadt oder Zuffenhausen montiert werden, ist Design der Universalkleber globaler Logistikketten. (Marken)-Design muss Produkte zusammenhalten und verkaufbar machen. Und was ist überhaupt das „Deutsche“ am Design? Seine Perfektion? Oder doch nur der Ort, an dem etwas gestaltet wird? Da waren wir schon weiter. Bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert wurde der Ur-Golf, immerhin Vater einer ganzen Fahrzeugklasse, von Giorgetto Giugiaro entworfen. Die Globalisierung und steigende Normen brachten eine weitgehende Internationalisierung und – ja: Angleichung – der automobilen Designsprache mit sich, übrig blieben Stereotype wie „Gute Form“, „Vorsprung durch Technik“ oder kalter Perfektionismus.
Design ist mehr als Styling, es ist längst Zentralbaustein unserer Gesellschaft und Treiber der Wirtschaft. Es sorgt dafür, dass wir Dinge des Alltags überhaupt handhaben können (Interface Design), es garantiert, dass viele unterschiedliche Menschen die gleichen Services nutzen können (Universal Design) oder untersucht mögliche Zukünfte (Speculative Design). Das sind keine Buzzwords, sondern Belege, wie sehr Gestaltung heute Lebensqualität, Teilhabe und Zukunftsfähigkeit prägt. Der entwerfende Blick auf das große Ganze ist das Eigentliche. Nicht das Stück Blech, das sich über einem Motor und einigen Passagieren beult. Und auch das ist gar nicht so neu: Schon die Ulmer Schule verstand Gestaltung als Beitrag zu einer besseren Gesellschaft.
Von der Perfektion zur Emotion
Ein Blick auf konkrete Beispiele zeigt, wie sich deutsches Design derzeit neu justiert, und zwar ebenso leise wie wirkungsvoll:
- Occhio aus München etwa inszeniert Licht als sinnliche Erfahrung und kulturellen Mehrwert. Obwohl das Unternehmen nicht in Deutschland fertigt, ist die Designentwicklung fest an der Isar verortet. Das steht exemplarisch für eine neue Selbstverständlichkeit im Umgang mit globalen Wertschöpfungsketten mit lokalem Markenkern, wie es Apple etwa seit Jahren vormacht: „Designed in California.“
- Phoenix Design, einst klassisches Produktdesignbüro, entwickelt längst systemische Nutzererlebnisse – etwa für Hansgrohe, wo nicht mehr die Armatur im Fokus steht, sondern das Erlebnis „Bad“. Technik, Raum und Emotion verschmelzen zu einem Gestaltungskonzept, das ganz im Sinne der HfG Ulm steht: radikal funktional, aber zugleich menschnah.
- Möbel- und Objektgestaltung ist im Wandel: Stefan Diez etwa verbindet in seinen Entwürfen für Unternehmen wie Midgard Nachhaltigkeit mit Funktionalität. Seine Leuchtenserie „AYNO“ verzichtet auf Gelenke und ermöglicht durch ein flexibles Fiberglasgestänge eine ressourcenschonende Konstruktion. Studio Œ (Lisa Ertel und Anne-Sophie Oberkrome) geht noch weiter: Ihre Arbeiten hinterfragen traditionelle Herstellungsprozesse und setzen auf spekulative, sozial reflektierte Designansätze – oft mit einem Hauch subtiler Ironie.
- Mercedes-Benz denkt längst über das Auto hinaus. Unter dem Leitmotiv „Design beyond the car“ entstehen Yachten, Architekturkonzepte, Interieurs – und eine Streetwear-Kollektion mit Moncler. Nicht alles ist originell – aber vieles strategisch clever: Eine starke Marke wird gedehnt, solange es eben geht.



Das alles verbindet sich mit einem Trend, den auch die Studie benennt: Design bietet immer mehr „transformierende Lösungen und beziehungsreiche Lebenswelten.“ Das isolierte Produkt weicht einer ganzheitlichen Perspektive, angetrieben durch die digitale Vernetzung. Diesen Wandel haben viele deutsche Designstudios und Unternehmen vollzogen, da ein vermeintlicher USP wegfällt. Die formale Strenge und technische Raffinesse deutscher Gestaltung – einst weltweit bewundert – haben Konkurrenz bekommen. Minimalismus können heute viele, ließe sich überspitzt sagen. Chinesische Unternehmen fertigen inzwischen mit ebensolcher Präzision. Wenn sich das Was und das Wie also angleichen, gewinnt das Warum an Bedeutung. Fragen wie: Was erzählt ein Produkt? Und welche Werte transportiert es? Eingangs zitierte Studie betont die wachsende Bedeutung „immaterieller Qualitäten, den kulturellen, ökologischen und sozialen Mehrwert. 33 Prozent der Konsument*innen weltweit bevorzugen Marken, die ihre Herkunft klar kommunizieren. „Designed in California“ ist längst eine Marke. Warum also nicht „Gestaltet in Deutschland“ – aber mit einem neuen Dreh?
„33 Prozent der Konsument*innen weltweit bevorzugen Marken, die ihre Herkunft klar kommunizieren.“
Was bleibt von „Made in Germany“?
Ob deutsches Design international noch strahlt, ist also gar nicht die Frage. Es geht darum, es neu aufzuladen mit Werten. Einer neuen Mischung aus Ingenieursverstand, sozialen Werten, Ökologie und kultureller Intelligenz wie etwa Stefan Diez sie seit Jahren verkörpert.
Die eigentliche Herausforderung für deutsches Design besteht darin, das Technische mit dem Menschlichen zu verbinden, Systeme zu schaffen und Atmosphären zu gestalten. Zu lange galten Minimalismus und Perfektion als alleinige Messgrößen. Sobald andere ebenso präzise fertigen, zählen Antworten auf Fragen, wie das Produkt eigentlich gefertigt wurde und wie stark Menschen und Umwelt dabei belastet wurden. Denn immer mehr Menschen wollen nicht nur wissen, was ihnen ein Gegenstand persönlich bringt, sondern welchen (Mehr-)Wert er für die Gesellschaft hat.
Wir brauchen kein deutsches Design-Sommermärchen, sondern einen frischen Blick darauf, wie sich Design unter dem Label „Made in Germany“ verändert. Statt kühler Perfektion kann Nachhaltigkeit – und zwar in ihrer sozialen wie ökologischen Dimension – glaubwürdig gegen technologischen (USA) und produktionstechnischen (China) Fortschritt ins Feld geführt werden. Dass es dabei nicht um die Herstellung minderwertiger Produkte und Dienstleistungen geht, liegt auf der Hand. Aber es geht nicht um das Styling von Kühlergrills. Design ist noch lange nicht am Ende – es ist in Bewegung. Und das ist, bei aller Kritik, gut für alle, die in Form bleiben wollen.
Quelle:
DIE ZUKUNFT VON „MADE IN GERMANY“. Narrativstudie. Das wandelnde Image- und Bedeutungsbild von „Made in Germany“ in internationalen B2C Konsummärkten. Eine Studie von STURMundDRANG in Zusammenarbeit mit Serviceplan und Meisterkreis.

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Über den Autor
Dr. Oliver Herwig, Journalist und Moderator. Designexperte für AD, FR, FAZ QUARTERLY, nomad, ndion, NZZ und SZ; Designtheoretiker an der Kunstuniversität Linz sowie der HfG Karlsruhe. „Karl-Theodor-Vogel-Preis für herausragende Technik- Publizistik“, COR Preis „Wohnen und Design“. Arbeitsstipendien in England, USA und Norwegen. Wissenschaftsjournalist in Tübingen, Gastredakteur bei *wallpaper in London, Editor-at-Large von nomad. Autor von rund drei Dutzend Büchern zu Architektur und Design, darunter zu Michele De Lucchi, fliegenden Bauten und Entertainment-Architektur.