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Green City, Teil 3: Großstädte mühsam begrünen? Oder das Land durch neue Gartenstädte retten? Ebenezer Howard entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts ein Stadtmodell, das angesichts von Klimawandel, Verkehrsinfarkt und Digitalisierung an Attraktivität gewinnt.

Von Thomas Wagner

„Die Tatsache, dass mehr als 50 % der Weltbevölkerung in Städten lebt, ist zum Vorwand dafür geworden, ländliche Gebiete zu ignorieren“, so der Architekt Rem Koolhaas 2020 in seiner Ausstellung „Countryside, The Future“. Mit Koolhaas zeigte sich einer der profiliertesten Theoretiker urbaner Transformation überrascht, wie massiv sich auf dem Lande alles verändert habe. Man kann Koolhaas‘ Überraschtsein über das Absterben der Dörfer und die Zersiedelung des Landes auch so zusammenfassen: unter dem Einfluss der Erderwärmung, des Massenkonsums und neuer Technologien saugen die wachsenden Städte das Land aus. 

Gartenstadt Countryside
Blick in die Ausstellung „Countryside, The Future“ am Guggenheim Museum in New York, die dringende ökologische, politische und sozioökonomische Fragen durch die Brille des Architekten und Stadtplaners Rem Koolhaas und Samir Bantal, Direktor von AMO, Think Tank des Office for Metropolitan Architecture (OMA), beleuchtete, © AMO, Foto von Laurin Ghinitoiu

Flugzeug und Gartenstadt leiten ein neues Zeitalter ein

Die ungebremste Expansion und die weitere Verdichtung der Städte, verbunden mit massenhafter individueller Mobilität, sind das Signum einer ökonomisch entfesselten Moderne. Unter Schlagworten wie „Smart City“ und „Green City“ sollen aktuell die schlimmsten Folgen korrigiert werden. Braucht es dazu mehr Bevormundung? Oder verspricht ein Wechsel der Perspektive mehr Erfolg? „Am Anfang des 20. Jahrhunderts“, so Lewis Mumford 1945 in seinem Vorwort zu Sir Ebenezer Howards „Gartenstädte von morgen“, „ereigneten sich vor unseren Augen zwei große neue Erfindungen: das Flugzeug und die Gartenstadt; beide leiten ein neues Zeitalter ein: Das Flugzeug gab dem Menschen Flügel, und die Gartenstadt versprach ihm eine bessere Heimstätte, wenn er wieder auf die Erde herunterkommen würde.“ Mittlerweile hat die Mobilität nicht nur in der Luft in atemberaubender Weise zugenommen. Was die „Heimstätte“, Arbeiten und Wohnen angeht, so hat sich in vielen Weltgegenden am Wildwuchs der Metropolen und Megastädte wenig geändert. In Reaktion darauf soll der „ländliche Raum“ attraktiver werden. ob es um Arbeitsplätze und Entlohnung, eine bessere verkehrstechnische Anbindung oder eine bessere digitale Infrastruktur geht. Dem kommt entgegen, dass landwirtschaftliche und industrielle Produktion lange nicht mehr so grundverschieden sind wie vor mehr als hundert Jahren. Verblüfft stellt man fest: Einige der Aspekte finden sich in Ebenezer Howards Konzept „Gartenstädte von morgen“ aus dem Jahr 1898. Sie sind denn auch geeignet, die aktuelle Debatte um eine „Green City“ voranzubringen. 

Green City – die ndion-Reihe
Wir müssen Stadt neu denken: Wohnraumknappheit, Ausbau der E-Mobilität, Verödung der Innenstädte – Städte stehen vor großen Herausforderungen, was Nachhaltigkeit anbetrifft.
Wie können Stadtkonzepte in der Zukunft aussehen? Und wo wird finden sich bereits innovative Ideen, um Stadt neu zu denken? Das fragt die ndion-Reihe „Green City“. Wir werfen einen Blick zurück in die Vergangenheit, schauen auf Mobilitätskonzepte von morgen und auf die Gestaltung von Innenstädten.

Stadt und Land sind Magnete, die Menschen anziehen

Howard analysiert die Situation Ende des 19. Jahrhunderts und zieht daraus konkrete Schlüsse, ohne ein stadtplanerisches Konzept oktroyieren zu wollen. Der „praktischer Idealist“ (Mumford) beschreibt ein politisches und moralisches Problem, das bis heute nicht nur nicht gelöst ist, sondern sich durch Bevölkerungswachstum, Migration und Klimawandel weiter verschärft hat. Die Pointe: Howard betrachtet Stadt und Land als „Magnete“, denen er einen dritten, Stadt-Land, hinzufügen möchte. Um das Wachstum der Städte zu bremsen und den Niedergang des Landes zu stoppen, schlägt er deshalb die Gründung neuer, symmetrischer, in sich selbst vollständiger und überschaubare Städte von begrenzter Größe vor.

Die Vorteile von Stadt- und Landleben vereinen

In solchen Städten auf dem wiederbelebten Land glaubte er einen Magneten gefunden zu haben, der die Vorteile des Landlebens mit denen des Stadtlebens vereint und die Nachteile beider ausschließt. Dieser Magnet, so Howard, würde die Menschen anziehen. Hatte Howard im Überschwang seines Idealismus Stadtmagnet und Landmagnet fälschlicherweise als gleich stark darstellt, was seiner eigenen Annahme widersprach, die Großstadt sauge das Land aus, so haben sich die Anziehungskräfte mit Klimawandel und Digitalisierung seitdem grundlegend verändert. Dass Howards Zeitgenossen, so Julius Posener, offenbar „nicht mit der gleichen Kraft frische Luft“ begehrten, mit der sie „Gin-Paläste und die vielen anderen städtischen Annehmlichkeiten“ wollten, scheint sich, vorsichtig gesagt, verändert zu haben. Der Nachweis, in einer Gartenstadt zu leben sei ebenso vielseitig, abwechslungsreich und aufregend wie das in der überfüllten Metropole, lässt sich heute u. a. auch ökonomisch führen. Zumal Howards Konzept auf der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des neuen Typus von Stadt basiert. Hinzu kommt: Anders als smarte Steuerungsmaßnahmen wie Verkehrslenkung und temporäre Einfahrtsverbote in die City, wird hier nichts „von oben“ verordnet.

Gartenstadt
Zusammen mit dem Bau der Hellerauer Möbelwerkstätten entstand 1909 nach den Plänen von Richard Riemerschmid die Gartenstadt Hellerau, Foto: Frank Exß (DML-BY)

Die Neuverteilung der Bevölkerung und das Entstehen stärker in die Natur eingebetteter Gemeinschaften funktioniert nur, wenn sich die Gartenstadt als attraktiver erweist als das Leben in urbanen Ballungsräumen. Grüngürtel, die der Ausdehnung der Stadt Grenzen setzen, sind dabei nur ein Nebeneffekt. Howards Prinzip war durchaus erfolgreich. Dafür sprechen nicht nur die beiden Stadtgründungen in England – Letchworth (1903) und Welwyn (1919). Allein in Deutschland, wo es in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eine aktive Gartenstadtbewegung gegeben hat, wurden mehr als ein Dutzend Gartenstädte gegründet, oft aber nur als Vorstädte.

Gartenstadt von Welwyn (England), Foto von Knella Green, 1958, © Welwyn Garden City Heritage Trust archive

Eine Stadt, kein Dorf

Dass es Howard darum zu tun war, Stadt und Land zu versöhnen, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass eine Gartenstadt eine Stadt und kein Dorf sein soll: Der „Kristallpalast“ im Zentrum ist als Ort der Begegnung ebenso ein städtisches Element wie die „Große Avenue“, die das Wohngebiet in einen inneren und einen äußeren Gürtel teilt, eine von Reihenhäusern umgebene urbane Anlage ist. Zu glauben, Howard habe das Land in eine riesige Schrebergartenanlage verwandeln wollen, missversteht seine Intention. Inwieweit einzelne realisierte Gartenstädte seiner Idealvorstellungen entsprechen, steht auf einem anderen Blatt. Frederic Osborn, seit 1912 Sekretär der Howard Cottage Society in der von Howard gegründeten „Letchworth Garden City“, hat nicht nur die formlose Monstrosität der Großstädte, sondern auch die Vorstellung einer gut durchgrünten und belüfteten Unwirtlichkeit entsetzt. In seinem Vorwort zur Ausgabe von 1946 besteht er deshalb darauf, streng zwischen „Gartenstadt“ und „Gartenvorort“ zu unterscheiden.

Auf der Suche nach einer Gemeinschaft

Wichtig ist zu sehen: Howard hat mehr als ein alternatives Stadtmodell entwickelt. Er hat versucht, das Wesen einer ausgewogenen Gemeinschaft darzustellen und daraus Schlüsse gezogen. Er hat gesehen, welcher Schritte es in einer in ihren Zielen widersprüchlichen (heute würde man hinzufügen: gespaltenen oder zerrissenen) Gesellschaft bedarf, um (innerhalb überschaubarer Einheiten) den Gemeinsinn zu stärken und, wenn möglich, eine vitale Gemeinde zu verwirklichen. Gab es zu Howards Zeit vor allem die überbevölkerte Weltstadt, die Zeit, Energie und Geld ihrer Einwohner verschwendet, weil Güter und Menschen über enorme Entfernungen in und aus der Stadt transportiert werden müssen, so haben sich solche Abhängigkeiten heute weiter verstärkt. Ob Schlafstädte an der Peripherie, zu sozialen Brennpunkten herabgesunkene Vorstädte, die Megastädte sind nicht nur weitergewachsen. Aufgrund des in ihnen manifesten sozialen Gefälles ebenso wie in ihrer Unwirtlichkeit tragen sie wenig dazu bei, dass sich in ihnen ein gemeinsames gesellschaftliches Leben entwickeln kann. Auch was die Verbesserung des Klimas innerhalb hochverdichteter Steinwüsten betrifft, bleiben Dach- und Fassadenbegrünung sowie vereinzeltes Urban Gardening bislang der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Dem Bild der Stadt als Steinwüste steht heutzutage häufig eine kitschige Instagram-Vorstellung gegenüber. Suggeriert wird, auf dem Land, so rückständig, zersiedelt und verarmt es auch sei, gebe es gute und frische Luft, intakte Natur, ewigen Sonnenschein über blühenden Wiesen, ruhige smogfreie Nächte, mithin alles das, was in den großen Städten vermisst wird. Tatsache ist: Die Landwirtschaft ist vom Dorf entkoppelt; einzelne Industrien und Lager zeugen von Zersiedelung; und auch hier mangelt es oft an menschlicher Gemeinschaft und gemeinsamer Unternehmung. 

Gartenstadt Ebenezer Howard
Das erste Gartenstadt-Konzept von Ebenezer Howard, 1902: Wohnstädte sind ringförmig um die Kernstadt angeordnet und mit ihr sternförmig durch Straßen, Eisenbahn und U-Bahn vernetzt sowie untereinander ringförmig verbunden. © Wikimedia Commons

Überschaubare, selbständige Einheiten

Howards Originalität zeigt sich in den folgenden Vorschlägen: In einem unbebaut bleibenden Land- oder Grüngürtel, der landwirtschaftlich genutzt, zugleich aber ein Teil der Stadt sein soll, deren Ausbreitung er begrenzt und der Übergriffe anderer Städte von außen her verhindert. Ferner soll das gesamte Stadtgebiet der Gemeinde selbst gehören, und zwar dauerhaft. Die Gemeinde gibt dieses Land lediglich durch Pacht in private Hand. Erfahren die städtischen Grundtücke eine Wertsteigerung, soll sie der Stadt selbst zugutekommen. Darüber hinaus soll die Anzahl von Einwohnern beschränkt bleiben, die von vornherein für das Gebiet der Stadt vorgesehen war. Innerhalb des Geländes der Stadt sollen Industrien angesiedelt werden, die imstande sind, dem überwiegenden Teil der Einwohnerinnen und Einwohner eine Lebensbasis zu geben. Und last but not least: Sobald die Böden und die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Gründung ausgelastet sind, sollen neue Städte gegründet werden. Kurz: Howard suchte das gesamte Problem der Stadtentwicklung zu erfassen, nicht nur das Wachstum der Stadt im Raum. Sein Ziel war es, dem städtischen Leben neue Kraft und dem Leben auf dem Lande geistige und gesellschaftliche Impulse zu geben. Indem er Land und Stadt als ein einziges Problem betrachtete, war er seiner Zeit weit voraus. 

Individualität und Gemeinsinn stärken

Für Howard besteht der Hauptunterschied „zwischen unserem Plan und den meisten der sozialen Reformpläne, die man bisher vorgeschlagen oder auch schon zu verwirklichen versucht hat“, in folgendem: „Alle jene Pläne suchten die Individuen in eine große Organisation zu zwängen – Individuen, die sich noch nicht zu kleineren Gruppen vereinigt hatten oder die beim Eintritt in die größere Gemeinschaft aus den kleineren Gruppen ausscheiden mussten. Mein Plan dagegen wendet sich nicht nur an Einzelpersonen, sondern ebenso an Genossenschaften, Fabrikanten, philanthropische Gesellschaften und andere, die der Organisation kundig sind und sich schon als Leiter von Organisationen betätigt haben, und sichert ihnen Bedingungen, die ihnen keine neuen Beschränkungen auferlegen, sondern eher größere Freiheiten garantieren.“ Es kann der aktuellen Diskussion über eine „Green City“ nicht schaden, sich das Konzept vieler kleiner Gartenstädte noch einmal anzuschauen – nicht zuletzt, um Individualität und Gemeinsinn zu stärken.


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