Am kommenden Donnerstag feiert der Rat für Formgebung in der Frankfurter Paulskirche sein 70-jähriges Bestehen mit der Veranstaltung „Creating Community“. Was bedeutet gutes Design in Zeiten großer Veränderungen? Welche Aufgaben gilt es aktuell zu meistern? Wir haben mit Lutz Dietzold, dem Geschäftsführer des Rat für Formgebung, über nachhaltige Prozessketten, KI-generierte Gestaltung und die zentrale Rolle des Designs bei der Transformation von Industrie und Gesellschaft gesprochen.
Interview: Thomas Wagner
Herr Dietzold, was reizt Sie an den vielen Facetten des Gestaltens?
Die permanente Veränderung. Man hat es ständig mit neuen Themen und Konstellationen zu tun hat. Und das Zusammenspiel in immer wieder neuen Kontexten. Man kann sagen – der Rat für Formgebung hat genau das in der DNA. Auf der einen Seite ging es schon bei der Gründung darum, Unternehmen dabei zu helfen, durch gutes Design wirtschaftlich erfolgreicher zu werden. Auf der anderen Seite bestand die Aufgabe darin, Verbraucher*innen für gute Gestaltung zu sensibilisieren. Bei beidem wurde viel erreicht. Die Zeiten ändern sich natürlich – das eine oder andere geht auch wieder verloren. Aber es bleibt immer spannend und es entstehen immer wieder neue Herausforderungen, an denen es zu arbeiten gilt.

Permanente Themenwechsel und neue Herausforderungen gibt es auch in anderen Bereichen – in der Kunst, in der Politik, im Management. Was unterscheidet den Designbereich, was macht seine Besonderheit aus?
Das Spezifikum besteht darin, dass Design immer angewandt ist, dass es in der Industrie praktische Folgen zeitigt. Es geht – unabhängig von Branche und Geschäftsmodell – immer um die Frage: Welchen Kundennutzen erfülle ich mit meinem Produkt und wie kann ich es erfolgreich platzieren? Und dabei geht es nicht nur um physische Produkte. Auch die öffentliche Hand will ja Veränderung platzieren. Im Moment, um ein Beispiel zu nennen, wird viel über Mobilität diskutiert; möglichst viele sollen aufs Fahrrad umsteigen. Das muss gestaltet werden – und Design ist dabei einer der großen Hebel, mit denen sich etwas bewegen lässt. Wenn ich das Radfahren attraktiv machen möchte, dann brauche ich nicht nur irgendeinen Radweg. Es kommt auch darauf an, wie ist der Radweg und wie ist das Fahrrad gestaltet, damit ich Lust habe, mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zu fahren.
Seit der Gründung des Rat für Formgebung 1953 hat sich vieles verändert. Wenn Sie die Entwicklungen Revue passieren lassen, wo sehen Sie die Stärken einer Designförderung? Sind die Fragen im Prinzip dieselben geblieben oder haben sich die Rahmenbedingungen von Grund auf verändert?
Die Gründung war ja politisch motiviert. Natürlich gab es, vom Werkbund ausgehend, starke Kräfte, das Thema Design auf die Agenda von Staat und Regierung zu setzen. Und das hat der Rat von Anfang an auch sehr erfolgreich gemacht. Bereits 1954 gab es die ersten offiziellen Beteiligungen an der Triennale in Mailand. Deutsches Design international zu promoten, ihm eine Bühne zu bieten, dafür war der Rat prädestiniert. Im Rahmen der Debatten über die „gute Form“ war das bis in die 1960er Jahre zwar sehr produktorientiert, aber es ging dabei im Kern ja um Industriedesign – also auch um Maschinen und Werkzeuge. Was sich verändert hat ist, dass wir heute nicht mehr allein Produkte und Dienstleistungen auszeichnen, sondern auch die Prozesse und Geschichten einbeziehen, wie etwas entstanden ist.
Ohne Prophet spielen zu müssen: Wo geht die Reise hin? Was wird sich in den kommenden Jahren am stärksten verändern – und welche Rolle spielt das Design dabei?
Wenn allenthalben über einen permanenten Change-Prozess gesprochen wird, dann kommt dem Design eine zentrale Aufgabe zu: die Transformation zumindest mitzugestalten und die Gesellschaft und die Menschen auf diesen Weg mitzunehmen. Vor allem die Verbindung von Design und Innovation, davon bin ich überzeugt, wird immer wichtiger werden – nicht nur, wenn es darum geht, Innovationen sichtbar zu machen. Oft sind es Techniken und Methodiken aus dem Design, die helfen, zu anderen und besseren Ergebnissen zu kommen.
Digitalisierung, Mobilität, Kreislaufwirtschaft, Klimaschutz – vieles ist in Bewegung. In welchem Bereich werden die Veränderungen besonders tiefgreifend ausfallen?
Vieles lässt sich unter dem Begriff der Nachhaltigkeit zusammenfassen. Er betrifft die Prozesskette in allen Bereichen. Ausgehend vom Material, bei dem Designer*innen zunehmend eine Rolle spielen. Wir sehen ja, was auf diesem Feld an den Hochschulen passiert, was da an neuen Materialen entsteht und in Produkte transferiert wird. Der zirkulare Aspekt ist dabei besonders wichtig. Hinzu kommt der ganze Bereich der Digitalisierung, inklusive KI – weil das auch die Disziplin selbst umwälzen wird.
Wie schätzen Sie die aktuelle Diskussion über KI ein? Mehr Chancen als Risiken?
Ich sehe das grundsätzlich chancenorientiert. Als Rat für Formgebung – der in unserer Eigenübersetzung als „German Design Council“ trotz internationaler Ausrichtung natürlich auch ein bisschen durch die deutsche Brille schaut –, müssen wir uns so einem Thema stellen. Wir werden uns natürlich mit KI-generierter Gestaltung auseinandersetzen müssen. Ich sehe aber nicht, dass dem Thema Design von dieser Seite Gefahr droht. KI wird zielgerichtet eingesetzt werden müssen, es braucht aber letztendlich immer noch die Disziplin – und da sind es am Ende die Menschen, die Entscheidungen treffen. Wir haben ja mal mit Microsoft Clip-Art angefangen – und viele haben gedacht, nun brauchen wir keine Grafikdesigner*innen mehr.
Ja, stimmt. (Beide lachen)
Am Ende entscheidet doch die Qualität. Das prägt übrigens auch unsere Design-Wettbewerbe. Auch dabei geht es darum, diskursiv herauszufinden: Was bedeutet Qualität? Was bedeutet gutes Design in Zeiten großer Veränderungen?
Sie sehen im Rat also auch eine Plattform, auf der aktuelle Veränderungsprozesse begleitet und moderiert werden können?
Ja, natürlich, das macht uns aus. Und da wir ja kein Berufsverband sind, sondern ein Industrieverband, haben wir hier einen entscheidenden Vorteil. In unserem Mitgliederkreis finden sich branchenübergreifend produzierende Unternehmen und die sind an diesen Themen dran und schlagen Lösungen vor. Diese zu diskutieren und zu zeigen gehört zu unseren Kernaufgaben.
Gibt es aus Anlass des siebzigjährigen Bestehens des Rat für Formgebung konkrete Projekte zu all den Themen der Transformation?
Konkret packen wir das in unseren Nachwuchsprojekten an, ob das jetzt die Newcomer des German Design Award sind oder die German Design Graduates, die wir ja seit letztem Jahr in der Trägerschaft haben. Das wird unter dem Blickwinkel weiter geschärft: Was ist eigentlich deutsches Design – und wie wird es international. Besonders was die internationale Vernetzung angeht, werden wir uns zukünftig noch stärker in den Diskurs einbringen.
„Beim Design geht es nicht nur um die Gestaltung von physischen Produkten, sondern von Erlebnissen, Interaktionen, Handlungen.“
— Lutz Dietzold
Klimakrise, Digitalisierung, Mobilität, Materialwende, Bildungswesen – an Bereichen, in denen etwas umgestaltet, neugestaltet und verbessert werden muss, herrscht kein Mangel. Welche gestalterischen Fähigkeiten sind nötig, um auf all diesen Feldern Innovationsprozesse erfolgreich anstoßen, vorantreiben und vermitteln zu können? Anders gefragt: Was prädestiniert Designer*innen für so wichtige Aufgaben?
Wenn über Design diskutiert wird, besteht die Krux oft darin, dass gefragt wird: Ist der Designer kulturnah oder ist er industrienah? Tatsache ist: Er trägt beide Seiten in sich. Und es ist letztendlich eines der fundamentalen Assets, die das Design hat, beides miteinander zu vermählen. Aktuell hat die „Purpose“-Diskussion ja sehr hohe Relevanz – im Grunde ist das aber bereits in der Disziplin Design angelegt. Der kulturelle Faktor wird für das wirtschaftliche Überleben von Unternehmen doch immer wichtiger. Es werden mehr Fragen gestellt – und die Fragen müssen überzeugend beantwortet werden. Auch was die Produkte angeht, wird hinter die Fassade geguckt.
Verbirgt sich in der Frage nach einer nachhaltigen Industrie- und Produktkultur einiges von dem, was früher unter dem Namen „die gute Form“ propagiert wurde und neben wirtschaftlichen auch ästhetische, sittlich-moralische und politische Aspekte berührte?
Genau – und ich glaube, etwas davon muss wieder aktiviert und das Design als verändernde Kraft begriffen werden. Ebenso wichtig ist es, aus der Disziplin des Designs heraus noch stärker als bisher die Sprache der anderen zu lernen, die Sprache der Betriebswirtschaft, die Sprache der Ingenieure und viele andere mehr. Um mitreden und auf andere Perspektiven eingehen und im Konkreten kompatibel sein zu können.
Nur wer eine Sprache spricht, kann gemeinsam etwas bewegen?
Wir müssen die Sprache der anderen beherrschen, wenn wir sie von den alternativen Perspektiven überzeugen wollen, die ihnen das Design anbietet. Das hat viel mit strukturellen Fragen zu tun: Auf welcher Ebene ist Design im Unternehmen platziert? Habe ich eine Hausmacht oder bin ich der externe, für ein Projekt engagierte Gestalter, wie es bei vielen Unternehmen der Fall ist? Um eine größere Wirkmacht entfalten zu können, muss ich das Vokabular derer kennen, die mit am Tisch sitzen.
Bestimmen Ingenieure und Techniker noch immer über die wesentlichen Vorgaben – und erst dann kommen die Designer*innen dazu? Oder hat sich in dieser Hinsicht in den letzten 20 Jahren etwas geändert?
Wenn man Unternehmen heute danach fragt, wie die Zusammenarbeit organisiert ist, so stellt man fest: Viele haben erkannt, wie wichtig es ist, das Design von Beginn an einzubeziehen. Das gilt für viele Mitgliedsunternehmen des Rats, aber auch darüber hinaus. Oft ist die Zusammenarbeit mit Externen über Jahre gewachsen und ein iterativer Prozess von beiden Seiten entstanden. Ein entscheidender Vorteil bei der Zusammenarbeit mit einem externen Designer ist – er bringt Erfahrungen in das Projekt ein, die er in der Arbeit mit anderen Kunden gesammelt hat – durchaus auch in anderen Branchen. Solche Impulse sind wichtig. Aber nicht zuletzt die Digitalisierung hat zu einer deutlich höheren Wertschätzung für die Rolle des Designs beigetragen, die sich in ganz neuen Berufsbildern wie Service Design, UX Design und Experience Design zeigt. Beim Design geht es ja nicht nur um die Gestaltung von physischen Produkten, sondern von Erlebnissen, Interaktionen, Handlungen.
In der kommenden Woche erscheint auf ndion Teil 2 des Interviews mit Lutz Dietzold.
„70 Jahre Rat für Formgebung — 70 Jahre Designkultur“
Zum 70-jährigen Bestehen lädt der Rat für Formgebung am Donnerstag, dem 22. Juni 2023, zur international besetzten Veranstaltung „Creating Community. Dritte Deutsche Designdebatte“ in die Frankfurter Paulskirche ein. Im Fokus stehen Kollaborationen und interdisziplinäre Vernetzung, die für Designprozesse eine immer wichtiger werdende Rolle spielen. Herzlich eingeladen sind alle Bürger*innen, Designer*innen, Unternehmer*innen, Kultur- und Kunstschaffende, Studierende – alle Interessierten.
Jetzt anmelden und vorbeikommen!
Zur Anmeldung: www.gdc.de
Weitere Informationen zu den Speaker*innen und zur Veranstaltung erhalten Sie hier.
Wann: Donnerstag, 22. Juni 2023, 17 – 19.30 Uhr, anschließend Empfang
Veranstaltungsort: Paulskirche, Frankfurt am Main – Diese Veranstaltung ist kostenfrei
Einführung: Mike Richter, Präsident Rat für Formgebung; Lutz Dietzold, CEO Rat für Formgebung
Impulsvorträge:
David Kusuma, Präsident World Design Organization – The Importance of Design Towards a Better Tomorrow
Young Designers Circle, repräsentiert durch Kimia Amir-Moazami, Muhammed Khan und Pedro Sáez Martínez – Not There Yet
Designdebatte:
Hartmut Esslinger – Design for Industry
Francesca Bria – A Green and Digital Deal That Starts From Data Democracy and Citizens’ Participation
Sunny Dolat – Designing Identities: Building and Reclaiming Black African Narratives
John Maeda – Design and Artificial Intelligence: Hype? Or Hope?
Kate Crawford – Reality Machines: Politics of AI and Design
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