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Von Thomas Wagner.

In Japan ist man sich seit Jahrhunderten bewusst, dass die gewohnte Ordnung abrupt zerbrechen kann: Die sehenswerte Ausstellung „Disaster Design“ in Darmstadt präsentiert rund 150 Produkte, die bei der Prävention, Evakuierung und in Notunterkünften zum Einsatz kommen, und kombiniert sie mit Arbeiten von Studierenden aus Japan und Deutschland.

Plötzlich ist sie da: die Katastrophe. Von einem Moment zum anderen wendet sich das Blatt, nimmt etwas Verheerendes seinen unaufhaltsamen Lauf. „Gerade war es noch so nett, mein Herr“, ruft uns noch schnell der Dichter zu, „jetzt splittert das Parkett, mein Herr“. Nirgendwo ist das Bewusstsein für das abrupte Zerbrechen der gewohnten Ordnung so ausgeprägt wie in Japan. Die Lage der Inselgruppe in einem geologisch höchst instabilen Teil der Erde, in dem Kontinentalplatten aneinanderstoßen und mehr als hundert aktive Vulkane gezählt werden, konfrontiert die Menschen permanent mit Naturkatastrophen. Keine andere Industrienation hat so viele desaströse Erdbeben, Erdrutsche, Tsunamis, Taifune, heftige Schneefälle und Vulkanausbrüche erlebt. Allein das große Kanto-Edo Beben von 1923 in Tokio forderte 140.000 Todesopfer und legte die Stadt in Schutt und Asche. Und doch dauerte der Wiederaufbau Tokios nur ganze sieben Jahre.

Katastrophen prägen Alltag und kulturelles Leben

Japaner leben nicht in dem unbestimmten Gefühl einer Katastrophe ohne Ereignis. Für sie sind Katastrophen allgegenwärtig. Dass sie eintreten werden, ist den Menschen im Alltag jederzeit bewusst und mittels Notfallplänen in der Organisation des gesellschaftlichen Lebens verankert. Und so haben Katastrophen auch die kulturelle Entwicklung begleitet und mitgeprägt. Wie aber kann man sich konkret zu etwas verhalten, das die gewohnte Ordnung unweigerlich zerreißen, alles von einem zum nächsten Moment verändern wird?

Die Ausstellung „Disaster Design“ präsentiert im Designhaus Darmstadt bis zum 15. März 2020 rund 150 Produkte, die bei der Prävention, Evakuierung und in Notunterkünften in Japan zum Einsatz kommen. Sie lenkt den Blick darauf, wie diese gestaltet sind, und wie sie privat oder in öffentlichen Zusammenhängen genutzt werden können. Ergänzt werden die Produkte durch Entwürfe von Studierenden der Kyushu Universität Fukuoka und der Hochschule Darmstadt, die im Sommersemester 2019 im Rahmen einer Kooperation entstanden sind und den Zugang der Studierenden zum Thema „Disaster Design“ veranschaulichen.

Blick in die Abteilung „Evakuierung“ mit diversen Falthelmen, einer Rettungstrage aus Karton und einem Poncho für Mutter und Kind. Foto: Tino Melzer

Ausstellung in Darmstadt: Im Disaster Center

In Japan, das wird dem Besucher rasch klar, existiert eine ganze Disaster-Industrie. Aus der Villa auf der Darmstädter Mathildenhöhe ist denn auch vorübergehend eine Art „Disaster Center“ geworden. Der Eingang führt durch einen dunklen Korridor, sämtliche Fenster sind verschlossen, zum Teil von Kästen aus schwarz gebeizten Bauplatten verbarrikadiert. Der Besucher ist isoliert, die Normalität bleibt außen vor. Dieselben dunklen Platten bilden im Format von Tatami-Matten auch die Displays, auf denen die oft in grellen Farben gehaltenen Objekte hervorstechen. Entlang eines Orientierungsbandes auf dem Boden durchquert man das Terrain des Desasters von der Präparation über die Evakuierung bis zur Wiederherstellung der Normalität. Wer etwas über die gezeigten Objekte erfahren möchte, greift sich ein Clip-Board und nimmt es wie eine Checkliste auf den Rundgang mit.

Ein ums andere Mal verblüfft, was Prof. Tino Melzer, der an der Hochschule Darmstadt Industriedesign, Entwerfen und Ergonomie lehrt und die Schau konzipiert hat, in akribischer Kleinarbeit zusammengetragen hat. Die Vielfalt der Produkte aus den unterschiedlichsten Bereichen ist sowohl in funktionaler als auch in gestalterischer Hinsicht enorm. Einige sind überzeugend gestaltet, bei anderen überrascht ihr Gebrauch. Manche sind der Tradition geschuldet, andere wirken ungewöhnlich oder rätselhaft.

Notfallset, Falthelm und Löschball

Mittels eines Kartenspiels lässt sich ein Desaster-Training absolvieren. Die Agentur Nosigner hat ein Notfall-Handbuch voller praktischer Ideen gestaltet. Es gibt diverse Sicherungen für Möbel und eine Rollensicherung, die verhindert, dass Geräte wie Kopierer bei Erdbeben wie Geschosse durch den Raum fliegen. Eine rote Kugel, die bei Erschütterung herabfällt, zieht Kippschalter nach unten und unterbricht so die Stromversorgung. Ein Notfallset in Gestalt eines Rucksacks dient zugleich als Hocker. Was auf den ersten Blick wie ein seltsamer Stuhl aussieht, entpuppt sich – wird die Rückenlehne entriegelt – als Schutzhelm samt Rückenschild. Die Handhabung eines roten Löschballs in Form eines Baseballs erschließt sich erst, wenn Tino Melzer sie erklärt: Die Gestalt des Baseballs fungiert als Hinweis, dass man ihn mit aller Wucht ins Feuer werfen soll.

Es gibt grafisch gestaltete Lebensmittelrationen, eine Rettungsweste für Hunde, portable Toiletten, zahlreiche Pfeifen sowie per Kurbelbetrieb mit Strom versorgte Taschenlampen und Radios. Und, einer der Höhepunkte, falt- oder aufklappbare Helme in jeder erdenklichen Form und Farbe. Bald wird einem klar: Japaner bereiten sich so gut es geht auf das Kommende vor. Sie begegnen dem Risiko demütig, aber auch mit großer Zuversicht und bewundernswerter Willensstärke.

Geschickt sind die Arbeiten der Studierenden unter die Produkte aus Japan gemischt, sei es ein kompaktes Utensil aus Stift, Leuchte, Stempel, Zahnbürste und Pillenfach, ein entfaltbarer Shelter zum Schutz vor herabfallenden Trümmern, ein Hitzeschild zur Brandbekämpfung oder ein U-Space aus Karton, der in Notunterkünften für ein wenig Privatsphäre sorgt.

Historische und mythologische Kontexte

Die Schau beschränkt sich aber nicht darauf, Designobjekte vorzuführen, die jenseits des Ausnahmezustands oft exotisch wirken. Sie bindet sie ein in den historischen Kontext, aus dem sie hervorgegangen sind, und fundiert sie in Mythen, die erklären, was die Katastrophen auslöst. Insofern unterscheidet sie sich wohltuend von üblichen Produktparaden. So werden nicht nur diverse Falthelme gezeigt, sondern auch eine schwere, aus mehreren Lagen Baumwolle gestrickte Jacke samt Haube, die mit Wasser getränkt wurde.

Getragen haben diese Schutzkleidung die Feuerwehrleute (Jobikeshi) der Edo- und der Meij-i-Periode zusammen mit sockenartigem Schuhwerk, Handschuhen und Hosen. Farbholzschnitte, wie sie als unmittelbare satirische Reaktion auf das Ansei-Edo-Beben von 1855 entstanden, illustrieren, auf welche Weise mythische Erklärungen im kollektiven Bewusstsein verankert sind und bis heute nachwirken.

Wenn der große Wels mit dem Schwanz schlägt

Namazu, ein unter den Hauptinseln Honshu und Shikoku lebender Riesenwels, gilt in der Mythologie der Edo-Zeit als verantwortlich für die Entstehung von Erdbeben. Für gewöhnlich hält ihn die Gottheit Kashima mit einem großen Stein nieder. Ist sie unaufmerksam oder gar abwesend, windet sich Namazu, schlägt kräftig mit dem Schwanz und bringt so die Erde zum Beben. Der Wels im Untergrund brachte aber nicht nur Zerstörung, Leid und Verzweiflung. Seine Bewegung sorgte auch für die Erneuerung der Welt und die Umverteilung des Reichtums, blieben doch auch die Häuser der Wohlhabenden nicht verschont und profitierten von der Katastrophe vor allem die ärmeren Bauhandwerker.

Die Farbholzschnitte, sogenannte Namazu-e, zeigen den Wels in menschlicher Gestalt in den unterschiedlichsten Rollen und Situationen: geschlagen, gefesselt, mahnend, dominierend, aber auch helfend. Noch heute wird der Wels in Japan mit Erdbeben assoziiert, werden Evakuierungsrouten mit einer Namazu-Darstellung gekennzeichnet.

Pragmatismus statt Pathos

Der Ausstellung gelingt es, ein weitverzweigtes Thema mittels vieler kleiner Objekte zu erzählen und begreifbar zu machen. Indem sie den Pragmatismus der Japaner vor Augen führt und dessen Wurzeln in Mythos und Geschichte aufzeigt, setzt sie deren gelassenes Katastrophenbewusstsein wie selbstverständlich dem falschen Pathos entgegen, wie es vor allem amerikanische Katastrophenfilme mit ihren Superhelden zelebrieren. In Japan wird tendenziell jeder, ist er gut vorbereitet und hat das richtige Equipment, zum Helden, der die Katastrophe meistert.

Schutz und Sicherheit sind elementare und universelle menschliche Grundbedürfnisse. Herauszufinden, worauf die gezeigten Dinge vorbereiten, wovor sie schützen, wie sie das Nötigste bereitstellen und auf welche Weise sie den Weg aus dem Ausnahmezustand zurück zur Normalität zu ebnen suchen, macht nicht nur Spaß, es verdeutlicht auch, dass Design von vitaler Bedeutung sein kann. Die Objekte erzählen eine Geschichte voller Tragik und Schmerz zu Ende, die sich erst noch ereignen wird, aber bereits in die eigene Gegenwart hineinragt. So wird die Katastrophe als ein Ereignis entziffert, von dem man hofft, dass es ausbleibt. Viele Dinge aus dem Werkzeugkasten des Disaster Designs können trotzdem hilfreich sein – beim Camping.

Blick in die Abteilung „Nach dem Desaster“. Foto: Tino Melzer

Ausstellung Disaster Design

Designhaus Darmstadt, Eugen-Bracht-Weg 6
Geöffnet bis 15. März 2020
Mittwoch bis Sonntag von 12 bis 17 Uhr
Der Eintritt ist frei.

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