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Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker schreiben über Architektur und Design, Kunst und Literatur. Gemeinsam leben sie ein unorthodoxes Forscherleben, dessen Zentrum ihre gründerzeitliche Villa im Zürcher Doldertal bildet. Das neue Buch „Die Welt der Giedions“ lässt den fast magischen Ort und das intellektuelle Leben dieser beiden engagierten Kämpfer für die Moderne wiederaufleben.

Von Thomas Wagner.

Am besten, man blättert, schaut, staunt, und liest dann die jeweilige Bildlegende. Dabei hat man Sigfried Giedion auf seiner Seite, der den Erfolg seines Buches „Raum, Zeit und Architektur“ auch auf die Auswahl der Bilder und seine speziellen Bildunterschriften zurückführte. Je tiefer man in die lebendigen Tiefen dieses Universums aus Fotografien und Briefen vordringt, desto mehr nimmt es einen gefangen. Fasziniert schmeckt man reichhaltigen historischen Aromen nach, und die Namen der Personen, auf die man trifft, klingen so illuster, dass man das geistige Panorama eines ganzen Jahrhunderts zu durchwandern glaubt.

Die Karriere von Sigfried Giedion (1888 bis 1968) verläuft ungewöhnlich. Er studiert zuerst Maschinenbau in Wien, dann Kunstgeschichte in München, unter anderem bei Heinrich Wölfflin. Dort lernt er auch Carola Welcker (1893 bis 1979) kennen. 1919 heiraten die beiden. Über László und Lucia Moholy-Nagy kommen sie in Kontakt mit Hans Arp und den Surrealisten. Er schreibt über eine neue Architektur, die noch im Werden ist, sie über Künstler und Literaten, die gerade dabei sind, Etabliertes abzustreifen und die Künste zu revolutionieren, heißen sie nun Gropius, Moholy-Nagy, Arp, Joyce, Mondrian, Schwitters oder Brancusi. Als das Paar 1925 nach Zürich in die Villa der Familie Giedion zieht, wird diese zum Treffpunkt zentraler Protagonisten der Moderne.

Entdeckung einer Fundgrube

Um diesen faszinierenden Kosmos auszuleuchten, geht „Die Welt der Giedions“ (Verlag Scheidegger & Spiess) neue Wege. Dabei ist das Buch Ergebnis eines unerwarteten Fundes. Bereits 1972, vier Jahre nach dem Tod Sigfried Giedions, war dessen privater Nachlass dem damals noch jungen Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich (gta) übergeben worden, wo er seitdem das umfangreiche Archiv des 1928 gegründeten Internationalen Kongresses für Neues Bauen (CIAM) ergänzt, dessen Generalsekretär Giedion bis zu dessen Auflösung 1959 war.

1979, nach dem Tod von Carola Giedion-Welcker, wurden die Räume der Villa Doldertal 7 fotografisch dokumentiert; weitere Materialien dem gta und anderen Archiven übergeben. 2013 starb der Sohn Andres Giedion, der die Villa praktisch unverändert von seinen Eltern übernommen hatte. 2016 wurden die Restbestände in der Villa gesichtet, wobei sich das Haus als wahre Fundgrube erwies. Zum Vorschein kamen bis dahin unbekannte, zumeist von S.G. selbst aufgenommene Fotografien, mehr als 1000 teilweise illustrierte Künstlerbriefe sowie die Korrespondenz zwischen C.W. und S.G. aus fünf Jahrzehnten. „Nicht zuletzt“, erfährt man, „eröffnete der disparate Inhalt der Giedion’schen Schubladen, Kisten und Koffer zusammen mit dem Sammelsurium an besonderen Möbeln und den Collagen, Gemälden und Grafiken befreundeter Künstler auch einen unverstellten Blick auf den Kosmos und das Denken der Giedions, das primär ein Denken in Bildern war.“

Mehr als eine Biografie im üblichen Sinn

Was der Untertitel „Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker im Dialog“ bereits andeutet, wird im Buch tatsächlich realisiert. Der Band entfaltet mehr als eine biografische Skizze. Er zeichnet nicht weniger nach als das von beiden virtuos gesponnene Netz aus Einflüssen, Begegnungen und Motivationen. So entsteht nach und nach der Umriss eines Intellektuellenlebens, das sich in seinen persönlichen Umständen zeigt, sich zugleich aber zu einem Panorama der historischen Ereignisse und Katastrophen des 20. Jahrhunderts weitet. Wer die Bücher der Giedions kennt, dem wird hier ergänzend ein facettenreicher Einblick in eine untergegangene Lebensform geboten – erzählt in Bildern, Räumen und Briefen.

1918 weiß Sigfried Giedion noch nicht, ob er sich für die akademische Kunstgeschichte, die Schriftstellerei oder das Theater entscheiden soll. In München atmet man sozialistische Ideale, schmiedet Hochzeitspläne. 1919 berichtet „der S.G.“ – er ist unterwegs, um für seine Dissertation Kirchen zu besichtigen – aus Würzburg an sein „liebes C.W.“ von einem Wiedersehen mit „den Niederländern“ im Frankfurter Städel: „Mit fast Entsetzen sah ich, dass die Bilder, die ich mit Ausdruck belegte, ganz andere geworden waren, seit den vier Jahren, als ich sie sah. Und heute, C.W., blieb mir am allerheftigsten die Maria mit dem Kind von Goes; es ist die Frau, die durch alles Elend gehetzt worden ist und den Adel der Bewegung behielt, den nur die Auserwählten bis ans Ende tragen.“ Den „Adel der Bewegung“ bis ans Ende zu tragen, haben auch die Giedions versucht.

Ein intellektuelles Netzwerk

In elf Bildkapiteln, die mittels verschiedenfarbigen Papiers optisch voneinander abgesetzt sind, zeichnet der Band das eng mit den Zeitläufen verbundene Wirken des Paares nach. Zusammen mit fünf weiteren, chronologisch geordneten und von der privaten Korrespondenz erhellten Kapiteln, gewährt er Einblicke in die Münchner Studienzeit, private Rückzugsorte, das intellektuelle Netzwerk und das geistige Experimentierfeld der Giedions, in die Räume ihres Hauses, ihre Bibliothek und ihre Sammlung von Gemälden und Skulpturen. Gezielt werden Ereignisse und Momente herausgegriffen, die für beide von Bedeutung sind oder ihr gemeinsames Leben charakterisieren.

Der Freundeskreis ist weit gespannt. Ob Franz Roh, Jan Tschichold, Le Corbusier oder Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp, ob László und Lucia Moholy-Nagy, James und Nora Joyce, Aino und Alvar Aalto, Marcel Breuer oder Walter und Ise Gropius – im Zürcher Doldertal 7 kommen Künstler, Architekten, Schriftsteller, Verleger, Philosophen und Mediziner zusammen. Hier wird diskutiert und miteinander rivalisiert. Man inspiriert sich gegenseitig, schmiedet Pläne, findet aber auch Erholung und Ruhe. Obwohl die Architektur der Villa keineswegs modern ist, das Paar und seine Besucher reflektieren und gestalten den neuen, modernen Lebensstil nicht nur, sie leben ihn auch. Über Jahrzehnte bleibt das herrschaftliche Haus ein Kraftort. Verkörpern die Eisenskelettbauten des 19. Jahrhunderts für Giedion die unbewusste, noch unartikulierte Vorstufe der Ideen des modernen Bauens, so artikuliert sich die neue Welt für seine Frau Carola in den aktuellen Äußerungen von Kunst und Literatur.

Offen, experimentell, interdisziplinär

1931 gründet Sigfried Giedion zusammen mit Werner Max Moser und Rudolf Graber die Wohnbedarf AG. Lebensform und Wohnkultur sollen miteinander verschmelzen. Die Regale im Arbeitszimmer der Villa – Wohnbedarf-Modell 131 von Marcel Breuer – sind übervoll. Am Schreibtisch steht der Stapelstuhl Wohnbedarf-Modell 6 von Alvar Aalto. Offen, experimentell, nie aber dogmatisch, agieren die Giedions auch bei ihren Forschungen. Sie unterstützen sich gegenseitig bei der Wahl der Themen und beraten sich bei der Art ihrer Bearbeitung. Sie verlassen sich auf ihre Wahrnehmung, blicken über Fachgrenzen hinaus, mischen Belege aus Architektur, Kunst, Literatur und Alltagskultur. Ob C.W. eine Anthologie über abseitige Dichter zusammenstellt oder S.G. seine 1948 in den USA erscheinende monumentale Studie zur „Herrschaft der Mechanisierung“ verfasst, beide streben danach, möglichst viele kulturhistorische, künstlerische und gestalterische Aspekte und Formen in ihre Untersuchungen einzubeziehen.

Amerika als Labor

Durch Vermittlung von Walter Gropius wird Giedion für die Charles Eliot Norton Lectures nach Harvard berufen; im Herbst 1938 tritt er seine erste Lehrveranstaltung im Ausland an. 1940 kehrt er für ein gutes Jahr nach Zürich zurück, um im August 1941 über Lissabon, wo im „Wartesaal Europas“ die Emigranten auf das nächste Schiff warten, aus Sicherheitsgründen mit einem luxuriösen Flugboot, wieder nach New York zu reisen. Im Oktober hält er in Yale die Townbridge Lectures. Carola versorgt während der Kriegszeit in Zürich allein Haus und Kinder. Der Tod von James Joyce im Januar 1941 hat sie schwer getroffen. Da der Kriegseintritt der USA eine Rückkehr von S.G. unmöglich macht, verläuft das Leben des Paares bis zu seiner Rückreise im Dezember 1945 in parallelen Bahnen.

In dem – für Gestalter jedweder Couleur noch immer unverzichtbaren – Buch „Mechanization Takes Command“ nutzt Giedion Amerika als Labor, um das moderne Verhältnis von Körper und Maschine aus seiner historischen Entwicklung heraus zu beschreiben. Anders als viele seiner Weggenossen arbeitet er dabei auch die abgründige Ambivalenz heraus, die unbewusst im technischen Fortschritt wirkt. „Der Typ des Menschen“, schreibt er am Ende, „den unsere Zeit braucht, ist ein Mensch, der das verlorene Gleichgewicht zwischen innerer und äußerer Realität wiederfinden kann“.

Ein Anker in einer schwankenden Welt

Während Sigfried in den USA festsitzt, trotzt Carola den Weltwirren auf ihre eigene Art. Sie geht weiter ihrer wissenschaftlichen Arbeit nach, organisiert Ausstellungen und lädt auch in diesen schwierigen Jahren zum Kunstgespräch in ihr Haus, das zum Bollwerk gegen die Antimoderne und zu einer Insel für die Dagebliebenen und Gestrandeten wird. Wie viel die Zürcher Adresse bedeutete, brachte Ise Gropius 1949 in einem Brief an die Freundin auf den Punkt: „Die Adresse ,Doldertal 7‘ ist so ungefähr das einzige, was im heutigen Europa überlebt hat und daher sicher für viele Menschen so etwas wie ein Anker (…) in einer erheblich schwankenden Welt. Halte Doldertal 7 am Leben für uns alle.“


Die Welt der Giedions, Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker im Dialog

Hrsg. v. Almut Grunewald. Mit Beitr. v. Roger Fayet, Almut Grunewald, Mario Lüscher, Bruno Maurer, Arthur Rüegg und Bettina Zimmermann sowie einem Vorwort von Monica Giedion

Verlag Scheidegger & Spiess, 2019
geb., 420 S., 198 farb. Abb.
ISBN 978-3-85881-610-8
Sprache: Deutsch (auch auf Englisch erhältlich)
97,00 Euro

Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung des Verlags Scheidegger & Spiess. Archivbilder © gta Archiv / ETH Zürich

Titelbild: Sigfried Giedion und Carola Giedion-Welcker in den Bergen, 1930er-Jahre. Fotograf unbekannt. © gta Archiv / ETH Zürich


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