Große formgeberische Würfe sind selten, alternative Designs auf der Eurobike 2024 kaum in Sicht. E-Bikes von leicht bis übergewichtig überholen das muskelbetriebene Fahrrad, und die Premiumpositionierung durch Design, Innovation und Qualität „Made in Germany“ funktioniert. Auch die Verkehrswende nimmt Fahrt auf: Immer mehr Pendler*innen genießen die Fahrt auf einem hochwertigen Rad, was sich auch am Erfolgsmodell Dienstrad-Leasing zeigt.
Von Martin Krautter
Die Fahrradwelt scheint ihre Leitmesse, die Eurobike 2024 in Frankfurt am Main, so ähnlich zu genießen wie Volksfestbesucher eine Verschnaufpause zwischen zwei Achterbahnrunden. Denn konjunkturell beutelt es die Branche derzeit. Auf spektakuläre Ab- und Umsatzrekorde in den Coronajahren folgten Lieferkettenkrisen, jähe Einbrüche der Nachfrage und in der Folge übervolle Lager. Dennoch blicken Vertreter*innen der Industrieverbände hochmotiviert und optimistisch in die Zukunft, schließlich begreift man sich als Teil der Mobilitätswende und damit auf lange Sicht auf der Gewinnerseite.
Auch Designer*innen engagieren sich gerne für einen solch guten Zweck – obschon große formgeberische Würfe selten sind. Denn die gestaltbestimmende Mechanik des Fahrrads, also Rahmen, Räder und Kraftübertragung, scheint weitgehend ausentwickelt. Alternative Designs zur seit hundert Jahren gängigen „Diamant“-Rahmenform, zu Speichenrädern und Ketten- oder Riemenantrieb wirken meist gesucht und verschwinden so schnell wieder, wie sie erschienen sind. Eine der wenigen designrelevanten Veränderungen der letzten Jahre sickert aus dem Rennsport ins Alltagsrad: Da Bremsen und Schaltung zunehmend hydraulisch beziehungsweise elektronisch, teils sogar drahtlos betätigt werden, lassen sich Leitungen und Kabel besser als zuvor in Lenker, Rahmen und Gabel verstecken oder entfallen komplett. Das Resultat ist weniger ein ganz neuer, als vielmehr ein cleaner, aufs Wesentliche reduzierter Auftritt – der hinsichtlich Wartungs- und Reparaturfreundlichkeit allerdings auch Nachteile mit sich bringt.
E-Bikes – von leicht bis übergewichtig
Die offensichtlichste technische Veränderung beim Fahrrad ist jedoch das Aufkommen der elektrischen Unterstützung. Im vergangenen Jahr überholte der Absatz von E-Bikes in Deutschland erstmals den der konventionellen Fahrräder; der Umsatzanteil liegt aufgrund der höheren Preise von E-Bikes schon länger vorn.
Hier bilden sich zusätzlich zu elektrifizierten Versionen etablierter Fahrradgattungen ganz neue Sparten, zum Beispiel jene mit dem unguten Namen „SUV-Bike“ – stollenbereifte, martialische Monster, die ihre Nutzer*innen für alle denkbaren Situationen wappnen sollen. Vielsagend, dass zum Beispiel der deutsche Hersteller Kalkhoff explizit auf das extra hohe zulässige Gesamtgewicht seiner neuesten Modelle von 170 kg hinweist: Da bleiben auch mit dem dicken Motor und Akku noch ausreichend Reserven, wenn‘s im Biergarten mal eine Schweinshaxe mehr sein darf. Ein Trend, vor dem die prinzipiell umweltbewusste Branche selbst zu erschrecken scheint, denn als Gegenbewegung wird dieses Jahr flugs das deutlich schlankere „Light-E-Bike“ in Ausführungen für City und Gelände lanciert. Bleibt zu hoffen, dass die Käufer*innen dieses Angebot würdigen.
Weit weniger determiniert sind die Konstruktionen bei Lastenrädern, die ein enormes Spektrum vom Kompakt-Cargobike bis zum pedalbetriebenen Mini-Laster umfassen und damit reichlich Designaufgaben stellen. Dass sich „Ecomobile“ wie das „Onomotion“ mit zwei Kubikmeter Stauraum längst zu hunderten in deutschen Städten als smarte Lösung für die „last mile“ der Paketlogistik bewähren, geht in emotional erhitzten Diskussionen über Lifestyle-Aspekte gerne unter.
Premium aus Deutschland
Der Kollaps der Lieferketten während der Corona-Pandemie verdeutlichte einheimischen Herstellern ihre Abhängigkeit vor allem von asiatischen Zulieferern und löste einen Trend zum sogenannten „Reshoring“ aus, also dem Zurückholen von Produktionsschritten nach Deutschland und Europa. Die nach Stückzahlen durchaus starke deutsche Fahrradproduktion hatte sich in der Vergangenheit zunehmend zur reinen Montage importierter Bauteile entwickelt. Insbesondere der Bau von Rahmen, nach wie vor das Herzstück eines Fahrrades, war hierzulande wirtschaftlich kaum darzustellen.
Doch inzwischen bezieht zum Beispiel der E-Bike-Produzent Riese & Müller viele seiner Rahmen aus Portugal statt aus Taiwan: Das passt gut zur Premiumstrategie des Herstellers aus Mühltal bei Darmstadt, die sich im hohen Nachhaltigkeitsanspruch genauso ausdrückt wie in Technik, Design und Branding. Dass die Premium-Positionierung durch Design, Innovation und Qualität „Made in Germany“ nach wie vor funktionieren kann, beweisen auch Komponenten- und Zubehörhersteller wie Wilfried Schmidt mit seinen edlen Lampen und „SON“–Nabendynamos, Trickstuff aus Freiburg mit Leichtbau-Bremsen oder Ortlieb mit seinen wasserdichten Packtaschen, die in Berlin so gut funktionieren wie in Feuerland.
Wege zum „Reshoring“
Neue, potentiell designrelevante Wege des „Reshoring“ geht die Marke Advanced in Partnerschaft mit dem Kunststoffspezialisten Igus beim Cityrad „Reco Urban“: Hier kommt ein Kunststoffrahmen zum Einsatz, der im Spritzgussverfahren aus einem kreislauffähigen, faserverstärkten Thermoplast produziert wird – in Deutschland. Dem gefällig-glatten Design sieht man allerdings an, dass man ihm eben nichts ansehen soll: Für den Laien lassen sich aus der Form keine Rückschlüsse aufs Material ziehen, das Rad könnte ebenso gut aus Aluminium oder Carbon (CFK) bestehen. Auch bei Möve führt das neue, aufwendige Verfahren, mit dem der Rahmen des „Avian“ Light-E-Bikes aus Titanrohren und 3D-gedruckten Titanmuffen zusammengeklebt wird, nicht zu einer revolutionären Ästhetik. Die Anmutung bleibt im Gegenteil ausgesprochen klassisch. Perspektivisch eröffnen solche neuen, kürzeren Wege zwischen Produktion und Zielmarkt allerdings mehr Freiheiten für individualisiertes Design.
Ein Ökosystem mit viel Wachstumspotential
Bleibt als weiteres Betätigungsfeld für Designer*innen das gesamte Umfeld oder Ökosystem des Fahrrads als Verkehrsmittel und Sportgerät: Mit einer Vielzahl von Services und digitalen Angeboten wie Plattformen oder Apps. Da die Fahrradtechnologie letztlich nicht allzu komplex ist, liegt die Schwelle zum Beispiel für Startups hier angenehm niedrig – schwieriger wird es immer in der Phase der Skalierung, wenn sich das chronisch fahrradfeindliche Umfeld im Autoland Deutschland bremsend auswirkt: Was hilft die komfortabelste Bikesharing-App, wenn dann doch die Fahrradwege fehlen?
Was die Branchenvertreter*innen dennoch zuversichtlich stimmt, sind Beispiele, wie sich die Auto-Dominanz mit ihren eigenen Waffen schlagen lässt: Etwa das Erfolgsmodell Dienstrad-Leasing mit inzwischen über 1,9 Mio. Teilnehmer*innen, das seine steuerrechtliche Basis mit dem deutschen Dienstwagenprivileg teilt. Eine Win-Win-Story für alle Involvierten: Immer mehr Pendler*innen genießen die Fahrt auf einem hochwertigen Rad, der Fachhandel profitiert spürbar, ein seriöser Gebrauchtmarkt mit Leasingrückläufern etabliert sich. Und das Potential, sagt Kim Lachmann, Fahrradmarkt-Experte bei Deloitte, sei noch lange nicht ausgeschöpft.
Eurobike Award 2024
Am 3. Juli 2024 fand in Frankfurt am Main im Rahmen der EUROBIKE die Preisverleihung des EUROBIKE AWARD statt, dessen Auslobung und Durchführung der Rat für Formgebung seit 2023 begleitet. Hier geht‘s zur Übersicht der diesjährigen Gewinner.
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