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Interview mit Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang.

Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang, Vizepräsident der Tongji-Universität und Mitglied der Chinesischen Akademie der Ingenieurwissenschaften und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, wurde in diesem Jahr vom Rat für Formgebung als erstes chinesisches Jurymitglied für den German Design Award in der Kategorie Architektur berufen. Im Interview mit The Paper News – Art Review sprach er über das Bauhaus-Design, die Corona-Epidemie und die Rolle von Design, Raum- und Stadtgestaltung in diesem Kontext.

Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang

„Die Epidemie erinnert uns daran, dass die Menschheit immer noch sehr fragil ist! Die nach Wohlstand strebende Menschheit hat vergessen, dass wir nicht so stark sind, wie wir denken. Für Designer wurde plötzlich klar, wie wichtig Raumgestaltung ist. Eine sehr wichtige Maßnahme, um die neue Corona-Epidemie einzudämmen, hat mit dem Raum zu tun. Der Raum bestimmt die Übertragungszeit, der Raum wandelt sich zu Zeit, mittels Zeit Leben schützen, das ist die Logik von Raum, Zeit und Leben“.

Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang

Das Interview führte Huang Song, News-Reporter bei The Paper

(Quelle: The Paper News)

Das deutsche Design genießt weltweit hohes Ansehen. Wie hat es Ihrer Meinung nach das chinesische Design konkret beeinflusst?

Deutsches Design hat das chinesische Design in vielerlei Hinsicht beeinflusst, vor allem bei der Modernisierung hat es erheblichen Einfluss auf Chinas industrielle Produktion, moderne Ästhetik und Designausbildung ausgeübt. Vergleicht man die Industrialisierung von China und Deutschland, so lässt sich feststellen, dass Deutschland bei der Entwicklung von der vorindustriellen Gesellschaft zur Industriegesellschaft China einen Schritt voraus ist.

Aber im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich kam die Industrialisierung in Deutschland mit zeitlicher Verzögerung. Von der Erfahrung Deutschlands – „Aufholen von hinten“ – kann China viel profitieren. China hatte immer eine traditionelle „Ordnung“: die „Ordnung des Konfuzianismus“, die „Ordnung von Herrscher und Minister, Vater und Sohn“ führte dazu, dass China als Agrargesellschaft 2.000 Jahre lang dem Rest der Welt voraus war. Eine solche rationale Ordnung ermöglichte es auch Deutschland, nach England und Frankreich wirtschaftlich aufzusteigen. „Ordnung“ war der Code der Zivilisation.

Der Aufstieg Deutschlands ist vor allem auf sein inhärentes „Ordnungs-Gen“ zurückzuführen. Die deutschen Produkte waren zunächst äußerliche Nachahmungen von englischen und französischen. Erst auf der Weltausstellung 1893 in Chicago sahen die Deutschen im internationalen Vergleich ihre eigene Unzulänglichkeit. Daraufhin begannen die deutsche Industrie, Technik, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit über den einzuschlagenden Weg zu diskutieren, was zu einer Designrevolution führte: Das Design deutscher Produkte begann zum Wesen der Dinge zurückzukehren, sich auf praktische Funktionen zu konzentrieren, unnötige Designs zu eliminieren und zum minimalen Verbrauch zurückzukehren – die einfache Nachahmung von Produkten wurde zum Streben nach der Essenz, aus der Rohproduktion wurde Präzisionsverarbeitung, und mindere Qualität wurde zu einem haltbaren Produkt.

Daraus ist eine Art industrielle Schönheit geworden, es entstand eine philosophische Ästhetik. Die Industrialisierung hat viel verändert, auch die Ästhetik, und die meisten Chinesen haben sich auch unbewusst verändert, solange das Produkt den Kernbedürfnissen entspricht – einfach ist schön.

Das Bauhaus-Konzept wurde in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen gegründet und verbreitete sich auch in China. Glauben Sie, dass dies in gewisser Weise historisch unvermeidlich war?

Der Einfluss des deutschen Designs auf China hatte sich bereits vor 1949 bemerkbar gemacht. Da Hitlers traditionelle Ästhetik das Bauhaus-Design unterdrückte, haben sich eine Reihe von Bauhaus-Künstlern über die ganze Welt verstreut, darunter einer der wichtigsten Vertreter der Bauhaus-Schule, der Assistent von Walter Gropius, der Deutsche Richard Paulick. Er ging nach Shanghai, um eine Stelle als Professor für Stadtplanung an der St. John’s University in Shanghai anzutreten. Das für Chinesen „geheimnisvoll“ klingende Bauhaus, was auf Deutsch „Haus bauen“ bedeutet, wurde 1919 gegründet, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als die zerstörten Häuser wieder aufgebaut werden mussten, und ein einfaches und praktisches Gestaltungskonzept breite Anwendung fand.

Die weite Verbreitung moderner Architekturideen begann in Shanghai mit der Gründung der Architekturfakultät der St. John’s University im Jahr 1942. Die St. John’s University ist eine von einem Amerikaner gegründete kirchliche Universität gewesen. Henry Huang wurde von dem Dekan der School of Engineering der St. John’s University und berühmten Bauingenieur Professor Kuan-Lin Yang eingeladen, die Fakultät für Architektur zu gründen. Henry Huang hat im ältesten Architektur-Institut in England, dem AA Institut, studiert, später ist er dem Gründer des Bauhaus, Walter Gropius, nach Harvard gefolgt und hat dort seinen Master Abschluss abgelegt. In Shanghai begegnete er Richard Paulick. Die beiden schlossen sich zusammen, um die Bauhaus-Tradition in der St. John’s University in Shanghai fortzusetzen.

Tongji Universität, Wenyuan-Gebäude, Shanghai

Im Herbst 1952 hatte die Fakultät 10 Dozenten und über 100 Studenten, die nach dem Übergang der School of Engineering der St. John’s University ihre Studien an der neu gegründeten Abteilung für Architektur der Tongji-Universität fortsetzten. Früher betrachteten wir Architektur als das umfassendste Designstudium, weil es Beleuchtung, Tische und Stühle, Materialien, Haushaltsgegenstände, Häuser usw. umfasste. In Deutschland habe ich jedes Fenster, jede Treppe, jedes Material und jede Dekoration des Dessauer Bauhaus-Campus studiert und fast jeden Winkel davon fotografiert, einschließlich seiner Restaurierung. Das Wenyuan-Gebäude auf dem Campus der Tongji-Universität, erbaut 1953, hat wie ein Spiegel des Bauhaus-Campus in Dessau nicht nur mich persönlich beeinflusst, sondern auch das Design-Ausbildungssystem der Tongji-Universität.

Um schließlich auf den Einfluss des Bauhaus auf das chinesische Design zurückzukommen, lassen sich folgende Aspekte zusammenfassen: Erstens spielte das Bauhaus eine große Rolle bei der Industrialisierung Chinas, weil einfaches und praktisches Design den übermäßigen Verbrauch von Materialien einspart und die Verarbeitungszeit verkürzte, was sonst zu einem Nachteil im industriellen Wettbewerb geführt hätte. Zweitens half das Bauhaus bei der Umorientierung der modernen chinesischen Ästhetik, bei der Mehrzahl der Chinesen verhalf es zu einem Ästhetik-Empfinden der Einfachheit. Drittens beeinflusste das Bauhaus unmittelbar die moderne Designausbildung in China. Viertens unterstützte das Bauhaus die Entwicklung hin zu einem Minimalverbrauch an Naturmaterialien. Heute kann der „Bauhaus-Ismus“ des 21. Jahrhunderts in einem noch viel größeren Maßstab gesehen werden, der eng mit dem menschlichen Leben und der Ökologie verbunden ist.

Tongji Universität, Wenyuan-Gebäude, Shanghai

Was haben Städtebau- und Architekturkonzepte gemeinsam?

Stadtgestaltung hat einen viel größeren Umfang als Architekturdesign. Design steht auf zwei Beinen: das linke Bein ist die Kunst und das rechte die Technik. Wenn Sie sich mit Kunst nicht auskennen, “bauen” Sie nur, und die Dinge, die Sie herstellen, werden hässlich sein. Umgekehrt gilt: Wenn es nur Kunst, aber keine Technologie gibt, sind Sie Maler und können nur Ihre eigenen Ideen kreieren. Design braucht beides, und Sie müssen eine Philosophie haben. Beim Städtebau, ob es sich um einen Platz, ein Wohngebiet oder eine Straße handelt, geht es darum, den Menschen zu dienen. Die Menschen sind die Hauptnutzer. Was sind also die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen?

Dies ist immer eine Überlegung für den Entwerfer, ob es sich um Städtebau, Architekturdesign, Innenarchitektur oder Industriedesign handelt, für alle Industrieprodukte im weitesten Sinne gelten die gleichen Grundsätze. Doch zunächst einmal sind Städte gemeinschaftliche Produkte, so dass Designer mehr die Bedürfnisse von Gemeinschaften als die individuellen Bedürfnisse erfassen müssen. Zum Beispiel unterscheidet sich eine Straße in Shanghai von einer Straße in Hangzhou, selbst in ein und derselben Stadt sind die Straßen im Touristengebiet und in der Freihandelszone unterschiedlich, sodass die Stadtgestaltung auf den Unterschieden der Umgebung basieren sollte.

Zweitens ist die Stadtgestaltung eng mit Ökologie verbunden. Bäume, Gras und Blumen sind Gestaltungselemente, und wir müssen das Überleben der Umwelt und nicht nur der Menschen berücksichtigen. Drittens ist Stadtgestaltung ein langlebiges Produkt, das jeden Tag wächst und sich erneuert. Es ist niemals endgültig. Auch nach dem Entwurf für eine neue Stadt ist der Designer ihr lebenslanger Betreuer. Viertens ändern sich die Betroffenen fortwährend. Das Viertel, das früher für ältere Menschen konzipiert wurde, wird möglicherweise bald von Kindern genutzt. Die ästhetischen Unterschiede und Bedürfnisse der einzelnen Generationen sind unterschiedlich, sodass die Viertel immer wieder neuen Zwecken entsprechen.

Diese Epidemie ruft die Designer dazu auf, künftig „flexible Räume“ zu gestalten und mehr nachzudenken, welcher Raum geschlossen, offen, kommunikativ oder interaktiv sein muss.

Können Sie aus der Perspektive des Designs auf die Stadtplanung im Bereich der Epidemieprävention eingehen. Wie werden Epidemien die zukünftige Stadtgestaltung beeinflussen?

Die Epidemie erinnert uns daran, dass der Mensch noch immer ein zerbrechliches Wesen ist, und die nach Wohlstand strebende Menschheit hat vergessen, dass wir nicht so stark sind, wie wir denken. Designern wurde plötzlich klar, wie wichtig die Raumgestaltung ist. Eine sehr wichtige Maßnahme zur Eindämmung der Corona-Epidemie ist der so genannte „Sicherheitsabstand“, was bedeutet, dass der physische Raum zwischen Individuen durch Masken, Schutzanzüge und andere Maßnahmen vergrößert wird, deswegen ist der Raum sehr wichtig.

Der Raum bestimmt die Übertragungszeit, und der Zeitpunkt der Übertragung bestimmt, wie viel Ausrüstung einem Land zur Behandlung der Patienten zur Verfügung stehen kann. Wenn der Abstand nicht eingehalten wird, bricht das Virus schnell aus und übersteigt die Behandlungsmöglichkeiten, was viele Menschenleben kostet. Der Raum wird zur Zeit, mittels Zeit Leben schützen, das ist die Logik von Raum, Zeit und Leben.

In Bezug auf Epidemieprävention selbst gibt es drei Forschungsschwerpunkte, einer davon ist die Virologie, die Untersuchung des eigentlichen Virus, das ist nicht die Domäne der Raumgestaltung. Aber der zweite ist die Epidemiologie, dazu können wir etwas beitragen. Die Übertragung ist eng mit dem Raum verbunden. Diese Epidemie ruft die Designer dazu auf, künftig „flexible Räume“ zu gestalten und mehr nachzudenken, welcher Raum geschlossen, offen, kommunikativ oder interaktiv sein muss. Früher war es so, dass ein Park in alle Richtungen zugänglich sein sollte. Jetzt halten wir uns an den „Ein-Tür-Modus“, weil wir die Körpertemperatur messen müssen. So führt die Raumgestaltung zu einem mehrdimensionalen Denken, nicht nur zu einer Funktion der Kommunikation.

Die zweite wichtige Implikation ist die Notwendigkeit einer abgestuften Gestaltung von Räumen. Zum Beispiel haben wir im Februar, zu Beginn der Epidemie, eine Studie zur Kennzeichnung der Infektionsorte aller Fälle in Shanghai durchgeführt. Dabei haben wir festgestellt, dass die Orte der Infektion insbesondere damit zusammenhängen, wo sich die Menschen am Abend bewegen, so dass wir uns auf die Stärkung des Präventions- und Kontrollmanagements von Wohngebieten und abendlichen sozialen Orten konzentrieren konnten. Die Korrelation zwischen Infektion und Standort wurde von stark bis schwach eingestuft: Wohngebiete, abendliche Sozialräume, dann Verkehrsräume und dann erst Arbeitsräume. Als Stadtplaner muss man die Gestaltung unterschiedlicher Räume verbessern.

Die zweite wichtige Implikation ist die Notwendigkeit einer abgestuften Gestaltung von Räumen … Wohngebiete, abendliche Sozialräume, dann Verkehrsräume und dann erst Arbeitsräume.

Der dritte Punkt sind die „verborgenen Pläne“ der Raumgestaltung. Man denkt, es geht um einen Park oder Grüngürtel, so wie beim Entwurf der Neustadt von Dujiangyan in der Provinz Sichuan nach dem Erdbeben, den ich früher entworfen habe: die Ufer der sieben Flüsse sind alles Grüngürtel, aber in Wirklichkeit sind es „Schutzgürtel“, „Zufluchts-Räume“. Aber heute sehen viele Bauträger nur noch die „sichtbare Planung“, und nachdem die Häuser gebaut sind, ignorieren sie die Zufahrtsstraßen, die Notfallplätze und Reserveflächen. Manche denken, es geht um kleine Änderungen, aber in Wirklichkeit handelt es sich um lebensrettende Notausgänge. Dies ist das Konzept „Raum für Zeit, Zeit für Leben“, das ich bereits erwähnt habe. Deshalb ermutigen wir alle Designer, die „verborgene Planung“ im Design deutlich zu machen.

Eine Stadt ist fragil, die „verborgene Planung“ ist eine Art Schutz. Je größer die Stadt, desto mehr Menschen gibt es, desto mehr innovative Ideen wird es geben, desto effizienter wird sie sein, und desto mehr gleiche Wettbewerbsbedingungen werden geschaffen. Das ist alles sehr wichtig, aber je mehr Menschen in einer Stadt leben, desto fragiler wird sie, und sie kann auch ins andere Extrem umschlagen.

Master-Plan der Shanghai Maqiao Artificial Intelligence Innovative New City, entworfen von Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang

Sie erwähnten die Studie, wie mithilfe von Big Data Infektionsorte entdeckt werden konnten. Inwiefern spielt Ihrer Meinung nach Big Data eine wichtige Rolle bei der Planung intelligenter Städte?

Zunächst einmal sind seit der Entwicklung des Städtebaus alle Stadtwissenschaftler und Stadtplaner bestrebt, die Gesetzmäßigkeit des städtischen Wachstums zu verstehen. Wir haben schon lange nach diesem Gesetz gesucht, aber in der Vergangenheit, bevor es große Datenmengen gab, konnten wir keine quantitative Analyse durchführen. Wir haben den Wachstums- und Entwicklungsprozess nur auf Grundlage unseres Gefühls untersucht. Aber mit dem Aufkommen von Big Data können wir genau erkennen, wie Städte wachsen, warum manche Städte sich entlang von Flüssen, manche entlang von Bergen, manche entlang von Straßen entwickeln. Jetzt können wir mit Hilfe von Big Data eine Antwort erhalten, indem wir die Geschichte nachvollziehen. In einigen Jahrzehnten werden wir in der Lage sein, noch rationalere Zukunftsstädte zu bauen.

Big Data und Künstliche Intelligenz können in Zukunft ältere und behinderte Menschen unterstützen und die Gestaltung und Planung von Städten verändern.

Zweitens spielt Big Data eine Schlüsselrolle bei der Verbesserung der Datenaktualität für die Verwaltung der Stadt. Früher tendierten wir dazu, die Daten einmal im Jahr zu aktualisieren. Jetzt können wir sie einmal in der Stunde aktualisieren. Diese präzise stündliche Analyse hilft uns den Zustand einer Epidemie zu beurteilen, sodass wir entsprechend reagieren können. Im Vergleich zur früheren jährlichen Aktualisierung ist das ein riesiger Fortschritt und ein großartiger Beitrag von Big Data.

Nehmen wir an, eine Stadt muss evakuiert werden oder es passiert ein Erdbeben, wenn acht Sekunden zuvor eine entsprechende Information über das Internet verbreitet wird, wieviel Leben können gerettet werden? Mit Hilfe künstlicher Intelligenz kann in der Zukunft den schwachen und einsamen älteren Menschen in den Städten geholfen werden, und ich denke, dass eine personalisierte Betreuung mit Hilfe von künstlicher Intelligenz für die Gemeinden sehr wichtig sein wird. Vor allem in China gehen viele junge Menschen in größere Städte zur Arbeit, das Phänomen der „leeren Nester“ ist sehr verbreitet. Künstliche Intelligenz kann die Temperatur und den physischen Zustand älterer Menschen erfassen, Stürze und andere Unfälle erkennen.

Big Data und Künstliche Intelligenz können in Zukunft ältere und behinderte Menschen unterstützen und die Gestaltung und Planung von Städten verändern. Natürlich kommen mit Big Data und KI auch Fragen nach der persönlichen Privatsphäre auf. Dafür sind noch mehr Regelungen notwendig.

Nehmen wir an, eine Stadt muss evakuiert werden oder es passiert ein Erdbeben, wenn acht Sekunden zuvor eine entsprechende Information über das Internet verbreitet wird, wieviel Leben können gerettet werden?

Wenn eine Stadt erneuert wird, wie bringen Sie „das Alte abreißen“ und „das Neue aufbauen“ in Einklang?

Die einen meinen, dass an historischen Gegenständen überhaupt nichts geändert werden darf, während andere sagen, dass alles Alte abgerissen werden muss. Beide Extreme begreifen das Leben einer Stadt nicht. Die Stadt selbst ist ein lebendiger Organismus, das Leben muss sich vorwärtsbewegen. Einerseits muss eine Stadt ihre Gene behalten, wenn sie das nicht bewahrt, wird sie zu einem andersartigen Organismus. Auf der anderen Seite hat die Stadt wie ein lebender Organismus eine Art Stoffwechsel. Designer sollten die beiden Extreme vermeiden und wissen, welche Elemente in den Genen einer Stadt liegen und welche nicht.

Wenn Designer ihre Entwürfe gemäß der Idee der städtischen Lebensformen planen, schätzen sie die Dinge, die am wichtigsten sind, und vermeiden so die Extreme. Viele gegenwärtige Situationen sind in den Extremen gefangen. Wenn man sich nicht am Gen der Stadt orientiert, bedeutet das eine Rückkehr zur Barbarei. Es ist aber auch nicht wünschenswert, die Vergangenheit vollständig zu bewahren. Die Bedürfnisse der Gesellschaft und der Bevölkerung schreiten unablässig voran.

Zum Beispiel gehört die Architektur des Bundes in Shanghai zum unerlässlichen Gen der Stadt. Den Bund kann man nicht behandeln wie irgendein Gebäude in einer Barackensiedlung. Wenn wir begreifen, dass die Stadt ein sehr wertvolles Leben hat, müssen wir auch das Konzept der „Stadterneuerung“ überdenken. Es ist falsch, wenn es nur um die Veränderung des Erscheinungsbildes geht. Die Stadt umfasst Menschen, Szenen, Aktivitäten, Leben, Produktion und andere Elemente, nur eine einfache „Erneuerung“ reicht bei weitem nicht aus. Generell sollten wir es aus der Perspektive des Lebens betrachten – „bessere Stadt, besseres Leben“ ist das ewige Thema des Städtebaus.

Gelände EXPO 2010 in Shanghai, entworfen von Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Architektur für das Branding chinesischer Städte? Im chinesischen Fernsehen sieht man viele Werbespots von Städten. Welche Funktion haben die Architektur und die Stadtplanung beim Städte-Branding?

Warum machen deutsche Städte keine Werbespots über sich im Ersten und Zweiten Fernsehprogramm? Und warum gibt es so viele in China? Das ist eine sehr gute Frage. Der Hauptgrund, warum insbesondere so viele Städte in China Werbung schalten, ist, dass nach der Öffnungs- und Reformpolitik (Anm.: gemeint ist die Reformpolitik von Deng Xiaoping seit 1979) die Entscheidungsgewalt von der Zentralregierung auf die Städte übertragen wurde. Das war ein sehr wichtiger Teil der Reformpolitik. Die Städte wurden zum Hauptelement des Managements. In diesem Management haben die Städte-Bürgermeister die Rolle eines General Managers eingenommen. In Deutschland würde man sagen, dass der Bürgermeister von den Steuerzahlern finanziert wird. Chinesische Städte hingegen haben selbst einen großen Anteil am Finanzaufkommen, und sie arbeiten damit auf sehr intelligente Weise.

Ein Beispiel: Als ich Ende der 90er Jahren aus Deutschland zurückkehrte, hat die Stadtregierung in den Oriental Pearl Radio & TV-Tower in Shanghai investiert. Jeder Tourist musste 120 Yuan (15 €) bezahlen, um auf die Besichtigungsplattform zu kommen. In nur neun Monaten hatte sich die Investition komplett rentiert. So kommt es, dass in jeder Stadt der Return On Investment in sehr hoher Geschwindigkeit abläuft.

In Deutschland würde man sagen, dass der Bürgermeister von den Steuerzahlern finanziert wird. Chinesische Städte hingegen haben selbst einen großen Anteil am Finanzaufkommen, und sie arbeiten damit auf sehr intelligente Weise.

Ich war sehr überrascht, als ich damals aus Deutschland zurückkam. Nach dem Bau der Nanpu-Brücke in Shanghai zum Beispiel, eine spiralförmige Zufahrtsbrücke, die gerade fertiggestellt wurde, hat die Shanghaier Stadtverwaltung die Betriebsrechte an ein Hongkonger Unternehmen verkauft. Am nächsten Tag wurden diese Gelder in die Nord-Süd-Stadtautobahn investiert. So eine Stadtverwaltung ist extrem stark. Die Stadt hat damit zwei wirtschaftliche Quellen: Zum einen die eigenen Investitionen und zum anderen die privaten Unternehmen einer Stadt.

Deutsche Städte haben nur private Unternehmen, die Stadt selbst hat keine Betriebe. Für chinesische Städte sieht es so aus: Wenn die Stadt keine Werbung für sich macht, wie können sich dann die Investitionen rechnen? Deswegen hat jede Stadt in China einen General Manager namens Bürgermeister. Im Entwicklungsprozess der chinesischen Städte hat sich ein Wettbewerb zwischen den Städten herausgebildet, ganz ähnlich wie der Wettbewerb zwischen Unternehmen.

So können Sie verstehen, warum in China die Städte so viel Werbung machen und warum in Deutschland so viele private Unternehmen Werbung schalten. Wenn Unternehmen miteinander konkurrieren, werden sie nicht nur viel Werbung schalten, sondern auch versuchen, ihre Produkte zu etwas Besonderem zu machen, sodass sie nicht von anderen kopiert werden können. Auf die Städte übertragen bedeutet das: In vielen chinesischen Städten werden Gebäude gebaut, die keine andere Stadt hat, sei es in Bezug auf Größe, Form, Höhe, Ökologie, Geschichte und Kultur oder sonstigen Aspekten. Sie wollen einzigartig sein. Deshalb führen chinesische Städte häufig Projekte durch, die noch keiner zuvor gemacht hat. Der Wettbewerb bezieht sich aber nicht nur auf benachbarte oder ähnliche Städte, sondern auch auf Amtsperioden.

In vielen chinesischen Städten werden Gebäude gebaut, die keine andere Stadt hat, sei es in Bezug auf Größe, Form, Höhe, Ökologie, Geschichte und Kultur oder sonstigen Aspekten. Sie wollen einzigartig sein.

Der letzte Bürgermeister hat drei Jahre regiert und in dieser Zeit einige Projekte vollendet. Wenn der nächste Bürgermeister kein Projekt zustande bringt, das seinen Vorgänger übertrifft, werden alle sagen, dass dieser General Manager nichts taugt. Sie müssen wie ein Unternehmer denken und schon haben Sie alles im Griff. So wird auch verständlich, warum sich die chinesischen Städte so schnell entwickeln. Sie sehen ja auch, dass die langsam wachsenden Unternehmen in Deutschland eliminiert werden, während die schnell wachsenden überleben – das hat dieselbe Logik.

Das heißt natürlich nicht, dass das Modell der chinesischen Städte kopiert werden kann. Aber es gibt Menschen, die gelernt haben, wie man eine Stadt führt. Zum Beispiel Richard M. Daley, der Bürgermeister von Chicago, hat das perfekt gelernt. Sein Vater, Richard J. Daley, war 21 Jahre lang (1955-76) und er selbst 22 Jahre (1989 – 2011) Bürgermeister. Wir hatten eine besonders gute persönliche Beziehung. Er schätzte vor allem die Stadt als Geschäftsmodell. Städte müssen Geschäfte machen. Die zwei Generationen dieser Familie ermöglichten den Aufstieg von Chicago – mit einem städtischen Return On Investment-Management, mit ikonischen Gebäuden, Plätzen und Skulpturen, mit unablässig neuen Dingen.

Ob dieses Modell tatsächlich gut oder schlecht ist, hängt davon ab, ob es passt oder nicht, ob es „die richtige Schuhgröße“ hat. Stadt bedeutet Wettbewerb. Die Zentralregierung hat die Entscheidungsgewalt an die Städte abgegeben, die Bürgermeister und Führer der Städte waren jung, innerhalb ihrer Amtszeit mussten sie zeigen, was sie können. Wenn sie nichts zustande bringen, sagen die Partner, sie haben kein Talent, keine Ideen, haben die Stadt verkommen lassen. Das ist genauso wie wenn ein Geschäftsführer eines Unternehmens sechs Jahre lang ein Unternehmen führt, und in dieser Zeit kein einziges neues Produkt entwickelt.

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VITA

Prof. Dr. WU Siegfried Zhiqiang ist nicht nur Vizepräsident der Tongji-Universität und Mitglied der Chinesischen Akademie der Ingenieurwissenschaften, sondern auch Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, Mitglied der Königlich-Schwedischen Akademie der Ingenieurwissenschaften, Experte für staatliche Sonderzulagen des Staatsrats, Chefplaner des Shanghai World Expo Park 2010 und Chefplaner Städtebau-Gesamtplans für Pekings Sekundäres Stadtzentrum. Schon im Jahr 1988 ging er zum Studium nach Deutschland und promovierte an der Technischen Universität Berlin in Stadt- und Regionalplanung. In diesem Jahr ernannte ihn der Rat für Formgebung zum Jurymitglied des German Design Award in der Kategorie Architektur. Er ist das erste chinesische Jurymitglied für in der Kategorie Architektur beim German Design Award.

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