Er hat gemeinsam mit Dieter Rams bei Braun gearbeitet, für Marken wie Lamy und Wega entworfen und das Logo des BUND gestaltet. Trotzdem weiß man bis heute wenig über ihn. Lucia Hornfischer klärt in „Der unbekannte Designer“ über Gerd A. Müller auf.
Von Thomas Wagner.
Wer kocht, gestaltet. Während seiner Kindheit war die Küche der heimliche Mittelpunkt seines Lebens. Hier hat ihm seine Mutter die Leidenschaft fürs Kochen mit auf den Weg gegeben. Da ahnte noch niemand, dass er später einmal Küchengeräte gestalten würde, auch wenn die Verbindung zwischen Küche und Designstudio auf der Hand liegt: Hier wie dort kommt es darauf an, Rezepte dafür zu entwickeln, wie bestimmte Zutaten in bestmöglicher und schmackhafter Weise miteinander kombiniert werden können.
Als Gerd A. Müller in den 1950er Jahren bei Braun an der Entwicklung der Küchenmaschine KM3 arbeitete und deren funktionales Design anhand zahlloser Modelle erprobte, wurde er unter Freunden nicht nur flapsig „the famous kitchen machine“ genannt. Auch soll er die während der Produkttests aufgeschlagenen Eier zu selbstgemachten Nudeln weiterverarbeitet haben, die er überall im Büro zum Trocknen auslegte. Dass ihn später die ebenso schlichte wie vollkommene japanische Ästhetik des Kochens faszinierte – inklusive der Kochutensilien und der Präsentation der Gerichte – passt ins Bild.
Der Unbekannte
In Lucia Hornfischers Buch „Gerd A. Müller. Der unbekannte Designer“ erfährt man nicht nur, dass sich ihm beim Kochen die sinnlichen Genüsse einer ganzen Kultur erschlossen haben. Die Publikation schließt eine peinliche Lücke der Forschung. Denn über den 1932 in Frankfurt am Main geborenen und 1991 dort gestorbenen Designer war bisher doch erschreckend wenig bekannt. In designhistorischen Zusammenhängen wird Müller bisher bestenfalls als Designer der erfolgreichen und langlebigen Küchenmaschine und des (zusammen mit Hans Gugelot perfektionierten) Sixtant-Rasierers von Braun – beides Welterfolge – genannt. Regelmäßig gepriesen wird er auch als Gestalter des legendären Kolbenfüllers Lamy 2000, den er zusammen mit Dr. Manfred Lamy entwickelt hat. Der schlank und dynamisch wirkende, sich zu beiden Seiten verjüngende Zylinder aus gebürstetem schwarzem Polycarbonat und mattglänzendem Stahl hat die Orientierung des Heidelberger Familienunternehmens an einer ebenso funktionalen wie aktuellen Designsprache nicht nur 1966 auf den Weg gebracht, er prägt sie vorbildhaft bis heute.
Wo Archivalien fehlten, halfen Gespräche
Was Dokumente und Archivalien angeht, war die Autorin mit einer schwierigen Ausgangslage konfrontiert: Einen Nachlass von Gerd A. Müller gibt es nicht; Dinge aufzubewahren hat Müller nicht interessiert. Einiges ließ sich in Firmenarchiven finden; vieles, wie das Archiv von Wega, bleibt aber verloren. Also machte Hornfischer aus der Not eine Tugend. Um mehr über den Menschen und Designer Gerd Alfred Müller zu erfahren, führte sie Interviews – u. a. mit Antje Müller, Dietrich Lubs und Roland Weigend – oder bat Freunde und Weggefährten wie Dieter Rams um Anmerkungen und Kommentare. Hartnäckig hat sie danach gefragt, wie Müllers Karriere verlaufen ist, nachdem er sich 1960 einigermaßen überraschend selbständig gemacht hatte, welche Projekte er realisierte, was ihn jenseits des Designs interessierte, schließlich ob und inwiefern seine Designhaltung und sein Entwurfsprozess das deutsche Industriedesign seit Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitgeprägt haben.
Innenarchitekt statt Zahnarzt
Müllers Vater war Zahnarzt mit eigener Praxis. Und auch wenn der Sohn dem Wunsch des Vaters nicht entsprach, ebenfalls Zahnarzt zu werden und die Praxis weiterzuführen, so erlernte er doch früh, wie man Gipsabdrücke, sprich Modelle, herstellte – sein Vater war sehr in der technisch und kreativ herausfordernden Herstellung spezieller Zahnprothesen für Soldaten mit Gesichtsverletzungen engagiert. Statt Zahnmedizin wollte Gerd Alfred unbedingt Innenarchitektur an der Werk Kunstschule in Wiesbaden studieren. Da Voraussetzung für das Studium eine handwerkliche Ausbildung war, begann er eine Schreinerlehre bei einem Restaurator in Frankfurt.
Als Modellbauer zu Braun
Bereits während der Lehrzeit lernte Müller in der Berufsschule Dieter Rams kennen. Als Artur Braun für die Neugestaltung der Küchenmaschine auf der Suche nach einem Gips-Modellbauer war, schlug Rams, inzwischen bei Braun angestellt, seinen ehemaligen Studienkollegen vor. Hatte jeder zunächst seinen Aufgabenbereich, so formierte sich Mitte 1956, als Rams, Müller und Roland Weigend einen gemeinsamen, mit Hobelbank, Drehbank und Reißbrett ausgestatteten Arbeitsraum bezogen, die Abteilung für Formgestaltung bei Braun. Was Müllers methodisches Vorgehen anbetrifft, so baute er, nach einer rasch hingeworfenen Skizze, die Form direkt im Modell auf. Bei den Küchengeräten und den Rasierern arbeitete er viel mit Holz und Gips.
Anhand vieler solcher Details wird erkennbar, wie klein die Teams und wie wenig festgelegt die Zuständigkeiten waren – und wie unendlich weit entfernt Autorendesign und Marketing-getriebener Starkult. Beides sind Gründe, weshalb die Arbeit von Designern wie Gerd A. Müller weitgehend unbekannt geblieben ist. Als Echo klingen sie auch in Hornfischers Zusammenfassung der Jahre bei Braun nach: „Während also Rams bei Braun zu Beginn als (Innen-)Architekt tätig war, gestaltete Müller als Formgestalter unter Artur Braun die erfolgreiche Küchenmaschine KM3. Rams, der bald darauf auch erste Produkte gestaltete, bekam in der neu gegründeten Formgestaltungsabteilung nach und nach mehr Verantwortung. Damit einhergehend erlangte er schließlich als Leiter der Designabteilung einen gewissen Bekanntheitsgrad. Dagegen wurde Müller, auch auf Beschluss der Brüder Braun, keine einzelnen Designernamen mehr zu nennen, bei seinen Entwürfen für Braun bis in die 1980er-Jahre hinein, nicht als Urheber genannt.“ Ergo stand Müller, wie Tassilo von Grolman es formuliert, neben Dieter Rams immer etwas im Abseits.
Freischaffender Designer
Von 1960 an war Müller als freischaffender Designer tätig. Sein Büro nannte eher „Innovation und Design – Atelier 8“. Die 8 war seine Glücks- und Lieblingszahl. Einer seiner ersten Auftraggeber war die Wega Radio GmbH. Schon das Fernsehgerät Wegavision 2000, so Hornfischer, „war ein anonymer Werksentwurf, der möglicherweise Gerd A. Müller zugeschrieben werden kann“. Sicher ist, dass er das Nachfolgegerät Wegavision 3000 sowie die weiteren Fernseh- und Phonogeräte des Wega Systems 3000 (1965/66) gestaltet hat. Lässt man die bekannten Schreibgeräte vom Lamy 2000 von 1966 bis zum Lamy unic von 1984 einmal beiseite, so entwarf Müller einen Heizkessel für Buderus, eine Nähmaschine und die Schreibmaschine abc 2000 für Kochs Adler und einiges mehr. Nach einer ersten Phase mit dem Schwerpunkt Industriedesign verschoben sich die Gewichte in Richtung Grafik und Ausstellungsdesign. Besonders überrascht, dass sich Müller, über seinen Vetter Rudolf Schreiber, ab Mitte der 1970er-Jahre für den Natur- und Umweltschutz engagierte und nicht nur das Logo von „pro natur“, sondern auch Signets für den „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und für „Pro Mehrweg“ sowie Buchcover für Titel wir „Rettet den Wald“ entwarf. Müller wirkte für den Deutschen Werkbund Hessen und war 1989 eines der Gründungsmitglieder des Deutschen Designer Clubs. „Was ich mache“, so bekannte er, „soll Menschen dienen – direkt und indirekt. Dienen aber schließt Beherrschen aus. Also versuche ich, unauffälliges Design zu machen, das sich unterordnet und einfügt.“
Unbekannt, aber nicht unbedeutend
Alles das und vieles mehr zeichnet die Autorin präzise nach, insofern ist das Buch ein großer Gewinn. Trotz der prekären Materialsituation erfährt man viel über Gerd A. Müller und das Industriedesign in der Bundesrepublik – besonders der 1950er- bis 1970er-Jahre. Man merkt der Publikation in ihrer positivistischen Herangehensweise freilich an, dass sie aus einer Diplomarbeit hervorgegangen ist, die Hornfischer 2019 bei Prof. Dr. Klaus Klemp an der HfG Offenbach geschrieben hat. Hier und da hätte man sich eine vertiefende Interpretation oder eine Erweiterung des Horizonts gewünscht. Besonders schade ist, dass die zahlreichen Schwarzweißfotografien, ob von Produkten, Messeständen, privaten Treffen und Müllers Haus in Eschborn, zumeist nur als Miniaturen wiedergegeben sind, auf denen man selbst mit Lupe kaum etwas erkennt. An Hornfischers Urteil über Gerd A. Müller ändert das nichts: unbekannt, aber alles andere als unbedeutend.
Lucia Hornfischer
Gerd A. Müller. Der unbekannte Designer
br., 192 S., 200 Abb.,
Deutsch / Englisch
av edition, Stuttgart 2021
ISBN 978-3-89986-350-5
34,00 Euro
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