Von der Hochschule in die Industrie: Wie Designer Johannes Voelchert sein Bachelorprojekt mit der Zürcher Sportmarke On marktreif entwickelt hat. Und welche Potenziale in der vollautomatisierten, lokalen Herstellung von Sportschuhen stecken.
Von Jasmin Jouhar
Drei Minuten dauert das Video. Eine kleine Ewigkeit für unsere auf schnelle Befriedigung trainierten Hirne. Aber es lohnt sich, bis zum Ende dranzubleiben und zuzusehen, wie der graue Roboterarm einen roten Schuhleisten in abgezirkelten Bewegungen an einer Sprühdüse entlangbewegt. Drehung für Drehung baut sich auf dem roten Leisten ein weißes Kunststoffgewebe auf. Das wirkt nicht nur wie eine Meditation über die Schönheit und Eleganz industrieller Prozesse. Das Video der Schweizer Sportmarke On zeigt auch, wie die Zukunft der Schuhherstellung aussehen könnte: vollautomatisiert, lokal, nur ein Material. Dank der patentierten „LightSpray“-Technologie kann das Zürcher Unternehmen das Oberteil eines Laufschuhs produzieren und gleichzeitig mit der Sohle verschmelzen. In lediglich drei Minuten. Für unsere Hirne eine gefühlte Ewigkeit, aber rasant in den Maßstäben der Schuhherstellung. Federführend entwickelt hat die patentierte „LightSpray“-Fertigungsmethode Johannes Voelchert, Innovation Concept Designer bei On. Das Konzept basiert auf der Bachelorarbeit „Pressure-made“, mit der Voelchert 2018 seinen Abschluss als Industriedesigner an der Hochschule Burg Giebichenstein Halle gemacht hat. Er hatte eine Heißklebepistole umfunktioniert, um damit ein Monomaterial-Textil für ein Schuhoberteil zu erzeugen.
Mehr Schritte zur Nachhaltigkeit
Das Potenzial einer Technologie wie „LightSpray“ liegt jedoch nicht nur in ihrer Schnelligkeit. Sie bietet Ansatzpunkte, um die negativen Auswirkungen der Produktion zu verringern. Denn bekanntlich sind Sportschuhe und Sneaker eine ziemlich umweltschädliche Angelegenheit: Ihre Herstellung verbraucht eine Menge Ressourcen und setzt viel CO2 frei. Zudem werden sie oft um den halben Erdball transportiert – und am Ende ihres kurzen Lebens können sie nur noch verbrannt werden. Sie bestehen meist aus zu vielen verschiedenen, miteinander verklebten Materialien, um sie effizient recyceln zu können. Alleine in Deutschland sollen – diese Schätzung taucht in vielen Medienberichten zum Thema auf – rund 380 Millionen Sneaker pro Jahr weggeworfen werden. Angesichts dessen ist es kein Wunder, dass sich in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Designstudierenden dem Turnschuh gewidmet haben. So etwa Max Böhm, der 2023 in Kooperation mit Studio F. A. Porsche das Konzept eines 3D-gedruckten Laufschuh für seine Bachelorarbeit an der Bauhaus-Universität Weimar entwickelt hat. „Bela“ besteht aus nur einem Material und soll voll recycelbar sein. Einen anderen Ansatz verfolgte Emilie Burfeind 2020 mit ihrem Diplomprojekt „Sneature“ an der Hochschule für Gestaltung Offenbach: Ihr Turnschuhkonzept basierte auf recycelten Abfällen und natürlichen Materialien, die in 3D-Druck und 3D-Strick verarbeitet werden.
„Die Kreislauffähigkeit
von Schuhen ist ein anspruchsvolles Ziel. Denn zirkulär bedeutet, dass man nach dem ersten Lebenszyklus des Produkts weitere Zyklen schaffen muss.“
– Johannes Voelchert, Innovation Concept Designer bei On
Von der Hochschule in die Industrie
Die eigene Bachelorarbeit mit einem Unternehmen zu einem marktfähigen Produkt weiterzuentwickeln – davon träumen sicher viele Designstudierende. Im Fall von Johannes Voelchert führte der Weg von Halle nach Zürich über Mailand: Die Hochschule wählte seine Bachelorarbeit für eine Präsentation auf der Möbelmesse Salone del Mobile 2019 aus, wo sie Mitarbeitende von On entdeckten.
Einige Monate später durfte Voelchert sein Konzept dem On-Team in Zürich vorstellen. Live sprühte er mit der umfunktionierten Klebepistole per Hand das Obermaterial eines Schuhs. „Das letzte Slide meiner Präsentation zeigte einen Roboter, auf den ich mit Photoshop die Pistole draufmontiert hatte“, erzählt Johannes Voelchert im Interview. „Das war meine Zukunftsvision“. Damit hatte er sich einen Job im Innovationsteam von On ergattert – und den Auftrag, das Konzept marktreif zu machen. Tatsächlich der Öffentlichkeit präsentiert wurde die Technologie erst in diesem Jahr mit dem Modell „Cloudboom Strike LS“, mehr als vier Jahre später. Im Sommer ließ On den Roboter in Paris vor Publikum Schuhe sprühen. Der vielleicht größte Erfolg bislang: Die Läuferin Hellen Obiri gewann im April 2024 in einem in „LightSpray“-Technologie hergestellten Prototypen den Boston-Marathon. Allgemein erhältlich ist „Cloudboom Strike LS“ aktuell aber noch nicht, ein Launch ist angekündigt.
Mit Luft läuft’s
Die lange Entwicklungszeit hat einen einfachen Grund: Johannes Voelchert und das On-Team haben das Konzept stark überarbeitet und weiterentwickelt. Die Idee, ein Textil aus einem kontinuierlichen Kunststofffaden aufzusprühen, blieb zwar erhalten. Doch die gestalterischen Möglichkeiten des ursprünglichen, zufallsbasierten Verfahrens erwiesen sich als begrenzt. „Man erhält ein verschwommenes, Zuckerwatte-artiges Material, mit dem man nicht detailliert Zonen voneinander abgrenzen kann“, erklärt Voelchert. Die Lösung war, „den Faden mit verschiedenen Luftströmen zu kontrollieren und ihn anzudrehen“, so der 35-jährige Designer weiter. So kann präzise gesteuert werden, an welchen Stellen des Schuhs das Material elastisch sein soll und an welchen eher steif. Je nachdem fährt der Roboter schneller oder langsamer an der Düse entlang. So kommt der „LightSpray“-Schuh ohne herkömmliche Elemente wie Schnürung oder Zunge aus: Rund um den Einstieg gibt das Material nach, während es etwa an der Ferse fest ist, für die nötige Stabilität. Das Filament besteht aus einem thermoplastischen Elastomer und verschmilzt sofort nach dem Aufsprühen. In Belastungstests hätten sich die Schuhe als sehr stabil erwiesen, so Johannes Voelchert.
Marathonprojekt Kreislauffähigkeit
Aktuell baut On in Zürich die Produktionskapazitäten aus, um größere Stückzahlen mit der „LightSpray“-Technologie herstellen zu können. Im Fokus der Entwicklungsarbeit von Johannes Voelchert steht indes, einen kompletten Schuh aus einem Material sprühen zu können. Bisher wird die Sohle konventionell in Asien gefertigt und während des Sprühprozesses mit dem Oberteil verschmolzen. Damit käme man auch dem Ziel, einen recyclingfähigen Schuh zu produzieren, einen Schritt näher. Doch die Kreislauffähigkeit von Schuhen sei „ein sehr anspruchsvolles Ziel”, wie Voelchert sagt. Denn zirkulär bedeute, dass man nach dem ersten Lebenszyklus des Produkts einen weiteren Zyklus schaffen muss. Viele Fragen seien in diesem Prozess noch offen. Wie kommt das Produkt vom Nutzer zurück zum Hersteller? Wie viel Ressourcen werden dadurch verbraucht? Wie vermeidet man Downcycling? An den Antworten zu diesen und weiteren Fragen arbeite On intensiv. In einer Industrie mit weltweiten Produktions- und Lieferketten sei es äußerst schwierig, die eigenen Produkte auf Zirkularität zu trimmen. „Es ist ein langer Weg, und es braucht viel Energie und Geduld.”
LightSpray™ Herstellungsverfahren: In nur drei Minuten wird ein Schuh produziert | www.on.com
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Über die Autorin
Jasmin Jouhar arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Zu ihren Themen gehören Design und Marken, Architektur und Innenarchitektur. Sie schreibt für eine Vielzahl deutschsprachiger Fach- und Publikumsmedien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Online-Plattform Baunetz, die Magazine Schöner Wohnen und AD. Daneben moderiert sie Branchenevents und verantwortet Corporate Publishing-Projekte. Jasmin Jouhar engagiert sich mit Coachings, Workshops und Vorträgen in der Förderung des jungen Designs.