Als Student des Industriedesigns an der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG Ulm) erlangte Hans (Nick) Roericht mit seinem Stapelgeschirr TC 100 für den Porzellanhersteller Thomas (Rosenthal) große Bekanntheit. Als Professor an der Hochschule der Künste Berlin prägte er die Designlehre fast drei Jahrzehnte lang. Roericht begriff Design als „holistisches Problem-Lösungs-Instrument“. Nun feiert der Gestalter am 15. November seinen 90ten Geburtstag.
Nachdenken, reagieren, zustimmen – Hans (Nick) Roericht in Ulm, 2016. © Bettina Strauss / Roericht-Archiv, HfG-Archiv Ulm
Von Viktoria Lea Heinrich.
Das Archiv von Hans (Nick) Roericht nimmt 13 Regalreihen ein – über 1.000 Boxen, zahlreiche Modelle und Archivmappen versammeln das Werk des Gestalters und Hochschulprofessors. Die Bibliothek Roerichts ergänzt diese Bestände. Die unzähligen Kisten machen ein Designverständnis sichtbar, das Theorie und Praxis, Lehre und tatsächliche Ausführung, disziplinenübergreifende Zusammenarbeit und ein noch heute aktuelles Designverständnis vereint.
Für Hans (Nick) Roericht bedeutete die Gestaltung mehr als das Entwerfen industrieller Produkte; von der eigenen Ausbildung als Industriedesigner an der HfG Ulm löste er sich jedoch nie vollständig. Stattdessen ergänzte er diese mit neuen Ansätzen und einem offenen Blick auf die (Design-)Welt. Der holistische Anspruch an ein Thema, das „in-den-Kontext-setzen“, war ein Ansatz, den Roericht sowohl in der eigenen Lehre als auch in der Zusammenarbeit mit Unternehmen anwandte. Seine Entwürfe und Projekte zeigen, wie diese Herangehensweise unter anderem zu Produkten mit kreislauffähigen Ansätzen oder einer Reform der Designausbildung in Deutschland führten.
Roericht ist dabei immer einen Schritt voraus. Er tritt 1975 die Designprofessur an der HdK Berlin unter dem Vorsatz an, „dass man für die (Konsumgüter-)Industrie nicht mehr arbeiten könne“. Stattdessen strukturiert er die Lehre in Berlin grundlegend und kombiniert Industriedesign mit gesellschaftlichen und sozialökologischen Themen.
Bei den Diskussionen um die Designausbildung, die in den 1970er und 1980er Jahren in den Magazinen form und im designreport ausgetragen werden, hält sich Roericht im Hintergrund. Seine Bühne ist die tatsächliche Umsetzung der Designlehre in Berlin und das durchaus mit Erfolg. Noch heute besetzen zahlreiche ehemalige Studierende Roerichts Professuren an deutschen Designhochschulen und Universitäten und prägen so auch die Inhalte der gegenwärtigen Designausbildung.
Vom Ulmer Kuhberg ins New Yorker MoMA
Als der 23-jährige Roericht 1955 an die HfG Ulm kommt, wird das neue Hochschulgebäude auf dem Oberen Kuhberg in Ulm gerade feierlich eröffnet. Dort studiert er bis 1960 in der Abteilung Produktgestaltung. In einem Porträt für den designreport im Jahr 1979 berichtet er, welchen Einfluss die Ulmer Hochschule und die Lehrenden auf Ihn hatten: „(…) Thomas Maldonado zeigte das ‚Überbauen‘; Werner Blaser das Minimalisieren; Konrad Wachsmann technische Fantasie; Hans Gugelot Improvisation und Georg Leowald solides Gestalter-Handwerk.“[1]
Wie Industriedesign an der HfG Ulm gelehrt und verstanden wurde zeigt insbesondere seine Diplomarbeit. Als Reaktion auf das Fehlen von „vorbildlich gestaltetem Geschirr“ in der HfG-Mensa, entwirft Roericht das Geschirrsystem TC 100. Ganz im Sinne rationalen Systemdesigns stellt der Entwurf die Robustheit, Stapelbarkeit und eine optimale Spülmaschinentauglichkeit des Geschirrs in den Vordergrund und erhält dadurch große Aufmerksamkeit in der bundesdeutschen Designwelt. So zeigt die form 1961 das Geschirr auf dem Cover und widmet der Diplomarbeit des 29-jähigen Roerichts einen großen Artikel.
Dem Entwurf wird ein ähnlicher Erfolg wie den Radiogeräten für Braun zugesprochen, die der HfG-Dozent und Industriedesigner Hans Gugelot entwarf. Die form sollte Recht behalten: Von 1961 bis 2006 wurde das TC 100 von Thomas (Rosenthal) produziert. Auch international sorgte das Geschirr schon früh für Aufmerksamkeit. Bereits 1968 wird es neben anderen Entwürfen der HfG Ulm in die Sammlung des New Yorker MoMAs aufgenommen. Es ist nicht verwunderlich, dass die fast schon ikonischen Fotografien des in Türmen gestapelten TC 100 die Wahrnehmung der HfG Ulm noch heute prägen.
Kronprinz und König
Nach dem Abschluss seines Diploms arbeitete Roericht für kurze Zeit als Mitarbeiter in der Entwicklungsgruppe E3 bei dem Architekten und Möbeldesigner Georg Leowald, wechselte aber schon bald zu Otl Aicher in die Abteilung für Visuelle Kommunikation. Dort begann in eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, die sich anhand zahlreicher gemeinsamer Projekte verdeutlicht. Roericht wirkt hier unter anderem an den Arbeiten für das Erscheinungsbild der Lufthansa sowie der Olympischen Spiele 1972 in München mit. Er entwirft Bordgeschirre und Verpackungen für die deutsche Luftfahrtgesellschaft und entwickelt Kunststoff-Sitzschalen für das Olympiastadion in München. Wie prägend das Verhältnis der beiden war, zeigen die „10 stationen zu otl aicher“, die der „kronprinz“ Roericht 2010 für seinen „könig“ schrieb. „die lufthansa flog in neuer aufmachung/make-up und ich flog nach usa, um dort zu lehren – um mich gestaerkt von aicher, von aicher zu trennen.“[2], so Roericht.
Die räumliche und persönliche Trennung bedeutete aber keineswegs die Abkehr von dem an der HfG Ulm Erlernten. Von Anfang 1966 bis Mitte 1967 unterrichtet Roericht Produktdesign an der Ohio State University.Die im Rahmen dieser ersten Lehrerfahrung entstandenen Projekte zeigen deutlich die Prägung der Ulmer Schule. Die amerikanischen Student*innen arbeiteten unter anderem an Lösungen für eine standardisierte Briefversandanlage und einem Styropor-Schneider.
Produkte, Konzepte, Studien
Nach seiner Rückkehr aus den USA im Jahr 1967 macht Roericht sich selbstständig. Erst in einem Büro in der Innenstadt Ulms, ab 1976 dann im ehemaligen Gebäude der HfG. Die ProduktEntwicklung Roericht, Ulm (PER Ulm) arbeitet über 25 Jahre als Partner zahlreicher Unternehmen und öffentlicher Institutionen. Zu nennen sind unter anderem die Lufthansa, Wilkhahn oder das Architekturbüro Heinle, Wischer + Partner.
Dabei rückt Roericht über die Jahre immer weiter von der bis dahin praktizierten Produktgestaltung ab. Im Fokus seiner Arbeit stehen die Ausarbeitung von Konzepten und Studien, in der es weniger um das fertige Produkt, sondern um die Kontexte, in denen dieses genutzt wird, geht. Die Entwürfe und Produkte Roerichts dienen hier als Projektionsflächen einer intensiven Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt. Möglichkeits- und Machbarkeitsstudien sowie Dokumentationen zu Recherchen oder Studien entstehen immer mit dem Anspruch, verschiedenste Disziplinen und Perspektiven in einen Prozess einzubeziehen.
Deutlich wird dies unter anderem in der Zusammenarbeit mit Wilkhahn. Mit dem Unternehmer Fritz Hahne, der den deutschen Möbelhersteller Wilkhahn reformierte, war Roericht durch einen sehr persönlichen und intensiven Austausch verbunden. Für Wilkhahn entstanden Bürostühle, Konferenztische und unter anderem die bekannte Steh- und Sitzhilfe „Stitz“. Mit dem Stuhl „Picto“ entwirft Roericht 1991 ein Produkt, dass sich heute leicht als Vorreiter für kreislauffähiges Design bezeichnen lässt. Dem Entwurf ging eine intensive Auseinandersetzung mit der Zukunft des Sitzens und den ökologischen Konsequenzen der Produktion voraus. Für Roericht war dabei wichtig, auf die Wahl der Materialien und die Umweltverträglichkeit des serienfertigen Produkts zu achten. Dementsprechend war das Picto-Programm vielfältig kombinierbar, der Stuhl vollständig demontierbar und viele der Materialien wiederverwendbar. Noch heute können die Rollen des Stuhls gekauft und ersetzt werden.
Vom Objekt- zum Subjektstudium
Theorie und Praxis standen für Roericht nicht nur in seinem Büro in Ulm in enger Verbindung zueinander.Ab 1973 übernimmt er eine Stelle als Gastdozent an der Hochschule der Künste Berlin, die zwei Jahre später in eine Professur am Lehrstuhl für Industriedesign mündet. In 27 Jahren – Roericht emeritiert im Jahr 2002 – gibt er ausschlaggebende Impulse für die Neuausrichtung der Designlehre an der HDK Berlin. Dabei war er aber keinesfalls allein für diese Veränderungen verantwortlich, sondern setzte auf Teamarbeit sowie die Berücksichtigung möglichst vieler Beteiligter. Besonders die enge Zusammenarbeit mit seiner langjährigen Partnerin, Gisela Kasten, einer Wahrnehmungspsychologin, befruchtete die Lehre in Berlin. Gemeinsam erarbeitete das Paar bereits 1976 eine Studienstruktur, die auf verschiedenen Design-Prozess-Ebenen basierte. Themen gesellschaftlicher, politischer und nachhaltiger Art sollten nun in den Entwurf miteinbezogen und bedacht werden. Unter anderem führte Roericht die Kurzprojekte – intensive Projekte von nur wenigen Wochen –ein und durchmischte das Studium mit fachlichem Input zahlreicher Kolleg:innen aus Design, Kunst und Kultur. Der italienische Designer Enzo Mari, Roerichts langjähriger Mitarbeiter, der Designer Andreas Brandolini, oder die Designprofessoren Uta Brandes und Michael Erlhoff sind nur einige Persönlichkeiten des großen Netzwerks um Roericht. Gearbeitet und gelehrt wurde im ständigen Austausch, zwischen Designaufträgen und Lehrveranstaltungen in Berlin und Ulm.
Depositorium Roericht
Schon früh beschäftigt Roericht sich damit, wie die Ergebnisse seiner Lehre und Praxis sinnvoll untergebracht und weiterhin genutzt werden könnten. Eine Art „lebendiges Archiv“ sollte es werden, zugänglich für kommende (Design-)Generationen.
Ende der 1990er Jahre stehen verschiedene Möglichkeiten im Raum, das Material gesammelt unterzubringen. Roericht erwägt unter anderem, „alles (zu) verbrennen“ oder die Sammlung einem Designmuseum zu überlassen. Er entscheidet sich für die letztere Variante. Seit 2010 ist die umfangreiche Bibliothek Teil des HfG-Archivs Ulm, seit 2014 befindet sich das Archiv Roerichts ebenfalls in Ulm.
Ein wahres Highlight ist die umfangreiche Sammlung von Alltagsgegenständen. In über 150 Kisten lassen sich Gebrauchsgegenstände, Naturmaterialien und Kuriositäten entdecken. Wer Inspiration sucht, dem sei der Besuch der Website www.roericht.net zu empfehlen. Hier spiegelt sich das gesamte Archiv Roerichts im Sinne des Open Source-Gedankens. Ein „lebendiges Archiv“ eben.
Heute feiert Hans (Nick) Roericht seinen 90. Geburtstag. Würde man ihn fragen, was ein geeignetes Geschenk zu diesem großen Geburtstag sei, so würde man vermutlich keine eindeutige Antwort erhalten. Wirft man jedoch einen Blick auf die unzähligen Boxen seines Archivs, so wird schnell klar: Jeder Gegenstand ist für die Designer*innen, wie Roericht sie sich dachte, von Interesse und Wert. In diesem Sinne gratulieren wir.
[1] dr-Porträt, Design-Report 3/79, 1979.
[2] https://roericht.net/anfang/kronprinz, aufgerufen am 25.10.2022.
Über die Autorin
Viktoria Lea Heinrich ist Designwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Theorie und Praxis der Gestaltung im Fach Produktdesign der Kunsthochschule Kassel. Sie hat unter anderem als kuratorische Assistenz in der Designsammlung des MAK Wien und als Volontärin im HfG-Archiv Ulm gearbeitet. Sie ist Co-Kuratorin der Ausstellungen „HfG Ulm: Ausstellungsfieber“ und „Der Ulmer Hocker. Idee – Idol – Ikone“.
Viktoria Lea Heinrich promoviert über Hans (Nick) Roericht und die Designlehre an der ehemaligen Hochschule der Künste Berlin zwischen 1973 und 2002.
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