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Aus der Provinz hinaus in die Welt – Hartmut Esslinger gründete frog design in Altensteig, machte Karriere bei Sony in Japan und entwickelte die Produktsprache von Apple im Silicon Valley. Heute lehrt der umtriebige Gestalter „Strategisches Entwerfen“ in Shanghai. Ein großer Gruß zum 80. Geburtstag.

von Fabian Wurm

Hartmut Esslinger in Frankfurt bei der Verleihung des German Design Award 2013, bei dem er für sein Lebenswerk mit dem Personality Award ausgezeichnet wurde | Foto: Lutz Sternstein
Hartmut Esslinger in Frankfurt bei der Verleihung des German Design Award 2013, bei dem er für sein Lebenswerk mit dem Personality Award ausgezeichnet wurde | Foto: Lutz Sternstein

Überkommene Kleiderordnungen gelten ihm nichts. Hartmut Esslinger pflegt seinen eigenen Dresscode. Knallfarbene T-Shirts statt dunklem Tuch. Beim Kundenbesuch ebenso wie beim Festvortrag. Ausgewaschene Jeans und Sneaker sind obligat. Strubbelhaar und Dreitagebart: sein Markenzeichen. Esslinger, der auch in Krisenzeiten vehement an der „Humanisierung der Industriegesellschaft“ festhält und davon träumt, unsere gesamte artifizielle Umwelt neu zu formen, mag es bunt. Das habe er bereits als Jugendlicher so gehalten. Es war seine Form des Protests. Denn Farbe sei in Beuren, jenem Schwarzwalddorf, in dem er aufwuchs zu einer Zeit, da die Nachkriegstristesse dominierte, schlicht „Sünde“ gewesen. Er aber liebte die grellen Töne, den harten Rock ’n’ Roll und den farbigen Blues; Chuck Berry, Jerry Lee Lewis, später die Rolling Stones. „Meine Gitarre war rot; meine Autos sind rot, gelb, grün.“ 

Esslinger kultiviert den lässigen Auftritt. Es kommt schon mal vor, dass er bei einer Rede die Manuskriptseiten nicht finden kann. Ihn ficht das nicht an. Er improvisiert. Spricht, wie er selbst sagt, einen „Funny Accent“, eine gewiss eigenwillige Mixtur verschiedener Idiome. Ein bisschen Amerikanisch, kaum Hochdeutsch. Manche halten es für Schwäbisch. Irrtum, korrigiert der weltläufige Designer, es sei  eher „stupid Bädlisch“, wie seine Kinder das Kauderwelsch nennen. Als Junge sei er für viele das „Französle” gewesen, weil er eine Zeit lang in Frankreich die Schule besuchte und schon damals Wendungen verschiedener Sprachen mischte. „Was soll’s“, nuschelt er, „versteht ohnehin keiner.“ Auch sein Englisch ist nicht gerade prononciert. Dafür zeugen seine Entwürfe von Klarheit, Formwillen und Präzision – darunter Lufthansa-Lounges, elektronische Geräte für Wega, ein Walkman für Sony und ein Kreuzfahrtschiff für Disney sowie zahlreiche Apple-Computer.

Künstler durfte er nicht werden

Hartmut Esslinger, der am 5. Juni 80 Jahre alt wird, zählt zu den bedeutendsten Industriedesignern der Welt. Sein Apple Macintosh gilt mittlerweile als Klassiker und ist in den relevanten Designsammlungen von Museen zu finden –  als Beispiel ingeniöser Einfachheit. Geradlinig und einfach verlief die Karriere des Kosmopoliten aus der Provinz freilich nicht.

Sein früh erkennbares Zeichentalent stieß im pietistischen Elternhaus auf Ablehnung. Die Mutter habe seine Skizzenbücher verbrannt, erinnert sich der Jubilar. „Alle Künstler enden in der Gosse“, lautete das Verdikt. Etwas Anständiges sollte aus dem verträumten Buben werden. Folglich schrieb sich der junge Esslinger 1966 für ein Studium der Elektrotechnik an der Technischen Hochschule in Stuttgart ein – Berufsziel Ingenieur. Damit freilich war bald bereits wieder Schluss. Im dritten Semester hat ihn der Professor gemahnt: „Das wird hier nichts mit Ihnen, aber Ihre Zeichnungen sind schön.“

Design ist die Rettung

Ein Industriedesign-Studium bei dem renommierten Produktgestalter Karl Dittert an der Staatlichen Werkkunstschule in Schwäbisch Gmünd war die Rettung. Jeden Morgen sei er bereits um sechs Uhr in die Schule getrabt, um „wie besessen“ zu zeichnen. „Gegen Mitternacht mussten sie mich rauswerfen.“ Auf dem Nachhauseweg habe er dann noch eine Weile versonnen über Ideen gebrütet, neue Entwürfe für Radios, Küchenmaschinen und Musikinstrumente erdacht. 

Der Ehrgeiz war geweckt. Noch während seines Studiums in Schwäbisch Gmünd gründete er 1969 das Studio Esslinger Design, aus dem 1982 dann das Unternehmen frog design hervorging. Das erste Ziel, was er sich bereits als Student gesetzt habe, so erinnerte sich  Esslinger später, sei der wirtschaftliche Erfolg gewesen. „Ich weigerte mich, die Rolle des hungernden Künstlers zu akzeptieren.“ Nicht minder ambitioniert war das zweite Ziel, das da lautete: „Spätestens mit 35 bin ich berühmt“. Beides trat ein – und zwar schneller als gedacht.

Seine Ideen inspirieren Konzerne

Bereits 1968 suchte der umtriebige Designstudent Esslinger Kontakt zur Fellbacher Elektronikfirma Wega. Doch mehr als ein Praktikum war zunächst nicht drin. Als Esslinger dann 1969 für sein Hochschulprojekt – ein tragbares Radio mit Stereosound – den erstmals durch den Rat für Formgebung ausgelobten Bundespreis Gute Form gewann, wurde er umgehend von Wega mit der Gestaltung der Stereo- und Fernsehgeräte beauftragt. Der Durchbruch gelang mit dem Wega-System-3000, das 1971 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin vorgestellt wurde: Die Fernsehgeräte im Kunststoffgehäuse zeigten neue Möglichkeiten der Gestaltung. Weg von den holz- oder sperrholzummantelten Tonmöbeln, war die Devise. 

Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Erfolge des ehemaligen Braun-Konkurrenten Wega, heute nur noch in Fachkreisen bekannt,  führten zu einer Kooperation mit dem japanischen Elektronikgiganten Sony, der die schwäbische Firma 1974 übernahm. Dies war der Wendepunkt in Esslingers früher Karriere. Nun, im Alter von gerade mal 30 Jahren, arbeitete er plötzlich für ein global agierendes Unternehmen im Bereich der Unterhaltungselektronik: Als Berater und Designer sowohl für Sony als auch für die zunächst weiter existierende Marke Wega bestand Esslingers Aufgabe auch darin, dem japanischen Unternehmen amerikanische und europäische Gepflogenheiten und Märkte zu erklären. Ab 1974, erinnert sich Esslinger, sei er monatlich zu Geschäftsterminen nach Japan geflogen. Dabei habe sich sein Verständnis für industrielle Prozesse und Produktion geschärft. „Sony war die beste Business School, die ich mir vorstellen kann“, resümiert er. Ohne diese Erfahrung hätte er in den 1980er Jahren den Apple-Gründer Steve Jobs kaum erfolgreich beraten können. 

Der Träumer ist ein Realist

„Design ist zuvorderst Geschäft, nicht Schönheit“, sagt Esslinger. Zwar sei er durchaus „Träumer“, habe einen „ausgeprägten Möglichkeitssinn“, doch sein „Gefühl für die Realitäten“ sei ebenfalls stark entwickelt. Ohne diese Verankerung sei jeder Designer verloren. „Design muss eine ökonomisch messbare Leistung bringen, einen Added Value.“ Ebenso wie die gängige schwarze Kluft der meisten Kreativen verabscheue er „die Idee der Verhübschung und diesen ganzen Elitequatsch vieler Kollegen“. Wer Esslinger ob seines ungewöhnlichen Outfits als bunten Vogel abtut, der irrt. Avanciertes Design und Business-Kalkül sind für ihn kein Widerspruch. Heute versteht er sich als Vordenker einer ökologisch motivierten Wende, proklamiert ein globales Engagement für einen grünen Planeten – ohne freilich ökonomische Kriterien außer Acht zu lassen. 

Nach wie vor berät der Gestalter mit erstem Wohnsitz in Kalifornien und amerikanischem Pass zahlreiche Marken, darunter Telefunken, und denkt über Probleme der Designausbildung nach. Nach seinem Ausscheiden bei frog design und dem Verkauf im Jahr 2006 konzentrierte sich Esslinger zunächst als Professor für Design an der Universität für angewandte Kunst in Wien auf die Nachwuchsförderung. Seit 2012 lehrt er als Professor für „Strategic Design and Innovation“ am Shanghai Institute for Visual Arts (SIVA). Zudem ist er Autor von viel beachteten Büchern: „A Fine Line“ (deutscher Titel: „Schwungrad“) erschien 2009, „Design Forward“ folgte 2012 und „Keep It Simple“ („Einfach genial“), seine „interne Geschichte“ über die Arbeit und Freundschaft mit Steve Jobs, zwei Jahre später.

Der Computer war ein Feind

Gern spricht der Mann, der den Apple-Look erfand, über seine fast 60 Jahre währende Karriere. Und ganz besonders gern über seine Kooperation mit dem kalifornischen Computerriesen in Cupertino. Es gibt kaum einen Aspekt seiner Arbeit für Apple, der noch nicht beleuchtet wurde. Ohne ihn, das mutmaßen keineswegs nur seine Bewunderer, wäre die Kult-Computerfirma kaum zum – zumindest zeitweise – wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt avanciert. Hartmut Esslinger und der 2011 gestorbene Steve Jobs waren Brüder im Geiste, große Tüftler vor dem Herrn. „Dass sein T-Shirt noch älter war als meines“, erinnert sich der frog-Designer an seine erste Begegnung mit dem Apple-Erfinder, „hielt ich für ein gutes Zeichen.“ Der Gleichklang in Auftritt und Habitus erstaunte viele, ebenso der verblüffend ähnliche Ausgangspunkt ihrer Karrieren. Wie Jobs hat auch Esslinger einst mit einer Bastelbude in der Provinz begonnen.

Aus einem Schuppen hinaus in die Welt: Als Steve Jobs, der große Bewunderer deutscher Formgebung, zu Beginn der 80er Jahre Esslingers Rat suchte und aus Cupertino in den Schwarzwald aufbrach, waren Computer in aller Regel dunkle, quadratische Kisten, die, so Esslinger, „aussahen wie Feinde“. Aus Feinden sollten Freunde werden. Esslinger ging es darum, „eine emotionale Beziehung zur Technik“ herzustellen. „Form follows emotion“, lautet sein Credo. Auch ein PC, das war sein Gedanke, kann ein Lifestyle-Produkt sein, wohnraumkompatibel zumindest. „Kalifornisch Weiß“ nannte Esslinger seine Linie für den Apple IIc, den ersten portablen Computer, „Snow White“. Mit der überzeugend freundlichen Gestaltung des Geräts war der Grundstein für den Durchbruch von Apple gelegt. Und Esslingers Erfolg gewann weiter an Dynamik. Auch seinem obersten Ziel, „dass in jedem Einkaufszentrum der Welt ein Produkt von frog design steht“, ist er ziemlich nahegekommen. 

Designer ohne Allüren

Einerlei ob Apples Mac oder Microsofts Mediaplayer, SAPs Software oder Sonys Trinitron-Fernseher: Es gibt kaum ein Hightech-Genre, für das Esslinger nicht ein avanciertes Produkt entworfen hat. Auch für simple Alltagsgegenstände wie Duschköpfe und Gartenmöbel, Leuchten, Koffer und Eiscreme-Packungen hat der Allroundgestalter überzeugende Formen gefunden. „Gutes Design“, sagt er, „schafft es, dass Mensch, Wirtschaft und Umwelt in Harmonie zusammenfinden.“ Das mag ein wenig pathetisch klingen, kitschig beinahe. Doch wer je mit Hartmut Esslinger zu tun hatte, weiß, dass sein Glaube an die sinnstiftende und harmonisierende Rolle von Design für ihn keine Leerformel ist. Allüren sind ihm fremd. Seine Offenheit – auch Journalist*innen gegenüber – ist legendär und in der Design-Branche keineswegs selbstverständlich. Nicht nur über Erfolge spricht er. Auch über Pleiten. Im Jahr 2002, als der europäische Zweig von frog design, der sich zunehmend auf die New Economy kapriziert hatte, im Zuge der Dotcom-Blase Insolvenz anmelden musste, habe ich ihn für die Zeitung „Horizont“ gefragt, ob er möglicherweise seine Kompetenz als Geschäftsmann überschätzt habe. „Offensichtlich schon“, gab er lapidar zur Auskunft. Weder Abschweifungen noch Rechtfertigungsversuche folgten, stattdessen: eine schonungslose Analyse und reichlich Selbstkritik. Und das konnte ungefiltert, ohne Abstriche und nachträgliche Korrekturen, in den Druck gehen. Seine Souveränität hat mich immer wieder verblüfft und beeindruckt. Eines ist gewiss: Von Hartmut Esslingers Einsichten, seinem Eigensinn und nicht zuletzt seinen Erinnerungen werden nicht nur Designer*innen noch lange profitieren.

Fabian Wurm | Foto: Mara Monetti

Über den Autor

Fabian Wurm lebt als freier Journalist und Autor in Frankfurt am Main. Er schrieb für die „Frankfurter Rundschau“, war Redakteur der Magazine „Design-Report“ (1987-1992) und „form“ (1993-1998) sowie der Zeitung „Horizont“ (2000-2003). Herausgeber diverser Publikationen, darunter „Vilém Flusser: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Designs“ (1993; 2019 in erweiterter Form) und Autor von Büchern zur Architektur der Moderne, so zum Werk der Architekten Schneider + Schumacherund Ferdinand Kramer. Foto: Mara Monetti.

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