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Anlässlich des 80. Geburtstags von Hartmut Esslinger geben vier Weggefährt*innen Einblicke in die Zusammenarbeit mit dem Designer. Sie beschreiben Esslingers Einfluss auf das Design, erinnern sich an prägende Erlebnisse und beleuchten Eigenschaften, die ihn zu einem so erfolgreichen Unternehmer gemacht haben.

Artikelbild: Darius Ramazani

Paola Antonelli,

| Senior Curator, Architecture & Design
| Director, Research & Development
| The Museum of Modern Art (MoMA)


Wann haben Sie Hartmut Esslinger kennengelernt und wie hat sich Ihre Einstellung zum Design dadurch verändert? 

Ich bin in Mailand aufgewachsen, umgeben von Design und Designern, die Journalisten und Kuratoren begeistern. Während meines Architekturstudiums habe ich so ziemlich alles über die Geschichte des Industriedesigns Mittel- und Nordeuropas gelernt. Aber erst als ich Hartmut 1990 im Silicon Valley traf, begriff ich die wahre Macht und die Konsequenzen gut gestalteter Produkte.

Können Sie das genauer erläutern? 

In den Büros von frog design in Kalifornien erzählte mir Hartmut von NeXT, Apple und Snow White, von der Formensprache, die er entwickelt hatte, um den Ingenieuren die Freiheit zu geben, Lüftungsschlitze zu platzieren und den Computer gleichzeitig schlank und elegant zu halten, vom Basrelief-Apfel-Logo, von den Streitigkeiten über die Farbe der Computer … Wir alle kennen die Legende, aber es genügt zu sagen, dass ich einen Mac SE mit nach Hause brachte, ihn in seinem Transportkoffer mit einem Regenbogenapfel vorne drauf nach Italien schmuggelte und fröhlich durch den „Nichts zu verzollen“-Gang des Flughafens Malpensa spazierte. Die Wahrheit ist, dass ich damals viel zu erklären (engl. declare) hatte und auch heute noch viel zu erklären habe. Denn wenn Revolutionen in der Wissenschaft, in der Technologie oder im galaktischen Geist eines Steve Jobs stattfinden, sind es Designer wie Hartmut, die sie zum Leben erwecken, Verhaltensweisen beeinflussen und die Welt verändern.

Paola Antonelli © 2021 The Museum of Modern Art, New York. | Foto: Peter Ross

Andreas Haug,

| Partner Hartmut Esslingers bei frog design

| Gründer von PHOENIX Design


Foto: privat

Wie würden Sie den Einfluss von Hartmut Esslinger auf Design und Innovation beschreiben?

Design, richtig verstanden, ist immer auch Innovation. In diesem Sinne ist der Einfluss, den Hartmut mit den Tausenden von Projekten ausgeübt hat, die im Laufe der Jahre bei frog design entstanden sind, von größter Bedeutung. Er ist immer auf der Suche nach einem neuen und einzigartigen Ansatz mit Mehrwert. Es ist auch sein Verdienst, dass Design heute kein Selbstzweck mehr ist, sondern vor allem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Gibt es eine besondere Erinnerung an Ihre gemeinsame Zeit bei frog design?

Es war an einem herrlichen Sommernachmittag Anfang der 1970er Jahre, als ich als frisch gebackener Studienabgänger mit meinem Präsentations-Köfferchen in den Schwarzwald fuhr, um mich dort für eine Anstellung als erster Mitarbeiter zu bewerben. Ich traf Hartmut in der Garage seiner Eltern, wo er eine Modellbauwerkstatt eingerichtet hatte. Er saß an einer Standbohrmaschine und bohrte hochkonzentriert an einem flachen Lautsprechergitter. In Vasarelyscher Manier hatten die Bohrlöcher einen Verlauf. Außen waren sie klein, zur Mitte hin wurden sie immer größer, so dass ein dreidimensionaler Effekt entstand. Es durfte nichts schief gehen, deshalb hatte er mein Kommen nicht gleich bemerkt. Ich dachte, hier bin ich richtig. Kurz darauf lud er mich zu Kaffee und Schwarzwälder Kirschtorte auf seine herrliche Aussichtsterrasse ein, um über Design zu fachsimpeln, und als es schon dämmerte, waren wir uns einig, dass wir es gemeinsam versuchen wollten. Jahre später, als unsere Arbeit immer professioneller wurde, mussten wir ihm allerdings hin und wieder ein „Werkstattverbot“ erteilen, um eventuelle Modellbauschäden zu vermeiden.

Was denken Sie: Welche seiner Arbeitsmethoden haben Hartmut Esslinger zu einem so einflussreichen Designer und Unternehmer gemacht?

Hartmut ist immer bereit, seine Arbeitsergebnisse zu hinterfragen und zu verbessern, und er hat eine große Überzeugungskraft, diese Weiterentwicklungen seinen Kunden zu vermitteln. Er ist mutig, beharrlich, weitsichtig und bereit, in die Zukunft zu investieren. Seine Leidenschaft führte schließlich dazu, dass Steve Jobs eines Tages lässig in Jeans und Turnschuhen in Altensteig vor der Tür stand.

Katharina Unger,

| ehem. Studentin von Hartmut Esslinger
| Gründerin und CEO Livin Farms


Wie würden Sie den Einfluss von Hartmut Esslinger auf das Design beschreiben?

Er geht weit über Formensprache und Funktionalität hinaus. Hartmut Esslinger hat einen Fun-Faktor ins Design gebracht: Emotionalität. Vor allem aber hat er die Grenzen dessen erweitert, was man unter Design und Produkt versteht. Er war ein Pionier darin, Brücken zu schlagen und Design als Strategie und Tool für Business, Marketing und innovatives Denken relevant zu machen. Und das nicht in Form von spröder Theorie, sondern ganz praktisch, selbstverständlich und spürbar intuitiv in der Umsetzung seiner Ideen und deren Gestaltung.

Gibt es eine besondere Erinnerung aus Ihrer Zusammenarbeit mit Hartmut Esslinger?

Ich habe bei Hartmut Esslinger studiert. Ich habe kaum eine so starke Vorbildwirkung erlebt, wie die, die Hartmut auf seine Student*innen hatte. Sein Einfluss auf seine Schützlinge ist bis heute spürbar. Sein Arbeitsethos, seine Visionen, aber vor allem seine Menschlichkeit. 

Persönlich habe ich mit Hartmut vor Jahren einen Nachmittag in meiner damaligen Wahlheimat Hongkong verbracht. Er hat viel mit seiner Leica fotografiert und über vieles gestaunt. Mich hat fasziniert, dass er, der schon in den 70er Jahren international gearbeitet hat und so viel gereist ist, sich immer noch so für Dinge begeistern konnte. Ich glaube, dass diese Begeisterungsfähigkeit und Neugier eines der Geheimnisse von Hartmut ist. 

Was glauben Sie hat Hartmut Esslinger zu einem so einflussreichen Designer gemacht?

,Form follows emotion’ ist bei Hartmut kein leeres Motto. Er entscheidet schnell, gestaltet aus dem Bauch heraus, aber mit viel visuellem und technischem Vokabular im Hintergrund, so dass auch visuell Ungeübte das Produkt verstehen. Dabei ist er kompromisslos authentisch.

Foto: Paris Tsitsos

Heiner Zinser, 

| ehem. Auftraggeber von Hartmut Esslinger

| Geschäftsführer der Firma Kaltenbach & Voigt (KaVo)


Foto: unbekannt

Wie würden Sie den Einfluss von Hartmut Esslinger auf Design und Innovation beschreiben, insbesondere durch seine Arbeit bei frog design?

Hartmut Esslinger hat mit seiner Arbeit bei frog design über Jahrzehnte hinweg die Produkte der medizinischen Dentalbranche durch innovative Formen und Farben inspiriert, beeinflusst und geprägt – sei es für Zahnärzte und Zahntechniker, für Studierende der Zahnmedizin und für Kliniken. Esslinger hat Spuren hinterlassen, die noch weit in der Zukunft sichtbar sein werden. Er dachte immer unternehmerisch und vertrat seine innovativen Ideen mit großer Begeisterung, ohne dabei die technische Machbarkeit aus den Augen zu verlieren. Auf technischen Schnickschnack verzichtete er konsequent. Er konzentrierte sich auf das Wesentliche und Praktische für den Anwender, sei es der Zahnarzt, Assistentin oder Patient.

Ebenso wichtig waren ihm die Material- und Farbauswahl sowie eine ausgewogene Ergonomie mit dem damit verbundenen hohen Hygiene-Anspruch. Durch seine weltweiten geschäftlichen Verbindungen war er immer auf dem neuesten Stand der Technik und brachte in den verschiedenen Entwicklungsphasen neue Ideen ein, die uns immer weiterbrachten und von unseren Mitbewerbern unterschieden. Sein Motto war „Technik in schönster Form“.

Welche seiner Persönlichkeitsmerkmale haben Hartmut Esslinger zu einem so einflussreichen Designer gemacht?

Hartmut ließ Meinungen und Wünsche anderer zu und brachte sie mit seinem großen Können und seinem umfangreichen Wissens- und Erfahrungsschatz in neue Entwicklungen ein. Es war immer eine menschlich und fachlich hochwertige und stets zielorientierte Zusammenarbeit und Begegnung, die bis heute mit großer herzlicher Freundschaft und Verbundenheit geblieben ist. Er liebt Technik und ist immer neugierig und interessiert an den neuesten Entwicklungen und Verfahren weltweit. Er ist ein großer Autofan. 

Gibt es eine besondere Erinnerung aus Ihrer Zusammenarbeit mit Hartmut Esslinger?

Immer dann, wenn Hartmut nach kritischen Entwicklungssituationen beherzt zum Klavier griff, konnte man den tief in seinem Herzen verwurzelten Schwarzwald hören.


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