Voreiliges Handeln und blinden Aktionismus kennen wir vermutlich alle aus eigener, privater und/oder beruflicher Erfahrung. Insbesondere dann, wenn uns der Überblick abhandengekommen ist und zu viele Krisenherde parallel existieren, für deren Beseitigung sich uns aktuell keine, in der Vergangenheit bewährte Bewältigungsstrategie anbietet. Das Deutsche kennt hier die Redewendung, dass eine Sache wie das Hornberger Schießen ausgehe. Etymologisch existieren hierzu unterschiedliche Narrative, alle eint jedoch, dass die Akteur*innen das wesentliche Ziel entweder zu sehr in den Fokus genommen oder es gänzlich aus dem Blick verloren haben – je nach Sichtweise. Am Ende jedenfalls haben alle Akteur*innen inadäquat gehandelt und ihr Pulver verschossen, wie es in einem anderen Sprichwort heißt.
Von Stephan Ott
Es scheint, als lebten wir derzeit auch im gesellschaftlichen Kontext in Zeiten, in denen uns der Überblick verloren zu gehen droht: volatile Börsen, Inflation, Klimakrise, Corona-Pandemie, Kriege, die Liste ließe sich noch eine Weile fortführen. Lösungen – gar vollumfängliche – scheinen nicht in Sicht, noch nicht einmal Lösungsbeschlüsse, die die Designtheoretiker Horst Rittel und Melvin Webber bei dilemmatischen Problemen für maximal möglich halten1, helfen weiter. So ist – um nur ein Beispiel zu nennen – die derzeitige Ausprägung der Elektromobilität ein solcher Lösungsbeschluss der Automobil-Lobby (die übrigens sehr viel größer ist als die Automobil-Industrie), der das Mobilitätsproblem, wenn überhaupt, nur in kleiner Weise und die globale Klimakrise fast gar nicht löst. Ich komme hierauf weiter unten noch zurück.
Auch wenn den allgegenwärtigen Aufforderungen zu Transformation, mehr Resilienz und Sparsamkeit nicht zu widersprechen ist, es ist so lange nichts gewonnen, wie die Aufforderung lediglich im Stadium des rhetorischen Reflexes verharrt. Auf lange Sicht bringen uns nur Reflexionen ins Handeln. Denn darüber, wie wir uns transformieren, wo wir sparen und gegen wen oder was wir widerstandsfähig sein sollen, bedarf es zunächst einer aspektiven, möglichst viele Gesichtspunkte umfassenden Strategie; und für die wiederum braucht es Analysefähigkeit, Informiertheit, Iterationsvermögen und Entscheidungsintelligenz. Darauf, dass es sich hierbei um die Grundkompetenzen des Designs handelt, will ich an dieser Stelle um so deutlicher hinweisen, da – so meine These – der Einfluss des Designs immer mehr schwindet, selbst dort, wo es seine Expertise bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
Accenture Song – After Steve – Aichers Kritik
Aber, so höre ich die ersten einwenden, Design ist doch aktuell mehr denn je in aller Munde. In aller Munde mag das Design vielleicht sein, jedoch, jenseits aller Rhetorik, im Kontext der durch Design und Designforschung generierten und dargestellten Erkenntnis sieht die Sache schon ganz anders aus.
Hierzu drei Beispiele unter vielen:
(1) Im Jahr 1984 gab Otl Aicher das Buch kritik am auto2 mit dem wunderbar aspektiven Untertitel schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter heraus. Am Ende der Einleitung schreibt Aicher: […] die designer sind gefragt, nicht die stylisten, die sich nur mit formalen problemen des zeitgeistes beschäftigen, sondern die architekten des autos, die entwerfer, die das auto als humangegenstand verstehen, in seinem gebrauch, in seinen größen, in seiner austattung und damit natürlich auch in seiner form, aber eben einer aus der sache abgeleiteten form […] glücklicherweise gibt es sie [die Designer, Anm. des Verf.], die nächsten 50 jahre werden spannend.3 Wenn wir uns die Situation heute, nach nahezu 40 der spannenden 50 Jahre, vor Augen führen, dann habe ich nicht den Eindruck, dass Designer*innen im aicherschen Sinne besonders gefragt sind. So stehen etliche Automobilhersteller derzeit eher vor der Herausforderung, dass ihre neuen Elektro-SUVs die 3,5 Tonnen-Marke nicht überschreiten, dann dürften sie aktuell nämlich nicht mit einem EU PKW-Führerschein gefahren werden. (Da kommt es ganz gelegen – die oben bereits erwähnte Automobil-Lobby hat offenbar ganze Arbeit geleistet –, dass die EU 2023 eine neue Führerscheinrichtlinie verabschieden will, nach der die Erhöhung der Gewichtsgrenze auf 4,25 Tonnen vorgesehen ist.)
Andererseits sind aber auch die Kund*innen, also Menschen wie wir, offenbar mehr an Styling als an grundlegenden Innovationen interessiert. So sah sich etwa das Münchner Start up Sono Motors von Anfang an massiver Kritik ausgesetzt, weil sein für 2024 geplantes Serienfahrzeug Sion – auch aus Kostengründen – lediglich in einer einzigen Ausstattungsvariante zu haben sein wird.
Innovationen, wie die in die gesamte Karosserie integrierten Solarzellen oder die bidirektionale Ladefähigkeit des Fahrzeugs, fallen offenbar für die Wenigsten, bisher gibt es nur rund 22.000 Vorbesteller, ins Gewicht. Es ist deshalb derzeit ungewiss, ob der Sion jemals in die Serienproduktion gehen wird.
(2) Ende April 2022 vermeldete das Beratungsunternehmen Accenture, dass alle seine in den vergangenen Jahren akquirierten, insgesamt rund 40 Design-, Marketing- und Werbeagenturen – darunter unter anderem auch die Design- und Innovations-Beratungen Fjord und Designaffairs – zukünftig unter der Marke Accenture Song zusammengeführt würden. Nun geht die Expertise mit dem Markennamen nicht verloren, aber mit der Marke verschwindet in jedem Fall ein Stück Sichtbarkeit der jeweiligen Disziplin, was umgekehrt unter anderem dazu führt, dass etliche Designer*innen allein schon wegen der erheblichen Honorarunterschiede lieber als Berater*innen vor ihre Kund*innen treten. David Droga, der CEO von Accenture Song, drückt es kryptischer aus: Seit seinen Anfängen hat Accenture Interactive seinen Kunden dabei geholfen, ihr Geschäft aufzubauen und zu erweitern, indem es sich auf Erfahrungen stützt. Die Bedürfnisse von heute sind ganz anders. Um die nächsten Wachstumswellen zu erreichen, müssen Unternehmen heute mit der Geschwindigkeit des Lebens operieren und ihre Relevanz für ihre Kunden, ihre Mitarbeiter und die Welt im Allgemeinen immer wieder unter Beweis stellen.
Die von Droga gegründete Werbe- und Marketingagentur Droga5 wird übrigens als einzige weiterhin unter ihrem Markennamen bestehen und tätig bleiben – ein Schelm, wer Böses dabei denkt oder wer einfach nur noch einmal über die Geschwindigkeit des Lebens nachdenkt.
(3) Ohne Zweifel gehört Apple zu den Unternehmen, in denen das Design nicht nur innovative Produkte und Services mitentworfen, sondern auch einen erheblichen Beitrag zur Wertsteigerung des Unternehmens geleistet hat. In seinem Anfang Mai 2022 erschienenen Buch After Steve – How Apple Became a Trillion-Dollar Company and Lost Its Soul4 beschreibt Tripp Mickle sehr detailliert den Niedergang des legendären Apple Designteams nach dem Tod von Steve Jobs. Angefangen 2016 mit dem Weggang von Danny Coster, der u.a. maßgeblich an der Entwicklung des transluzenten iMac in den 1990ern beteiligt war, über die Kündigungen von Chris Stringer und von Softwaredesigner Imran Chaudhri, der entscheidend an der Benutzeroberfläche des iPhone mitgearbeitet hatte, im Jahr 2017, bis hin zum Chefdesigner Jonathan Ive, der das Unternehmen im Jahr 2019 verlassen hat.
Alle vier Designer waren über 20 Jahre bei Apple tätig und nach Mickles Analyse ist es offensichtlich, dass deren Weggang in direktem Zusammenhang mit der neuen Applestrategie der Nach-Jobs-Ära steht. So schreibt er unter anderem:
Er [Danny Coster, Anm. d. Verf.] hatte ein überarbeitetes iPad mit raffinierteren Kurven und einem leichteren Gehäuse entwickelt, das sich in den Händen natürlich anfühlte. Einige der Produktdesigner, die daran arbeiteten, hielten es für so elegant, dass sie sagten, es sei das erste Modell, das sie gerne zum Einzelhandelspreis kaufen würden.
Die Betriebsabteilung von Apple stellte jedoch fest, dass für die Herstellung des iPad mehrere neue Funktionen von Grund auf entwickelt werden müssten. Die initialen Kosten für neue Maschinen, ein neues Logic Board und andere Komponenten würden sich auf Milliarden von Dollar belaufen – eine Investition, die sich erst nach Jahren amortisieren würde. Diese so genannten Einmalkosten veranlassten die Businessabteilung von Apple das iPad auszusetzen.
Es habe sich noch keiner reich gespart, hat mir einmal ein Professor der Wirtschaftswissenschaften gesagt; vor dem Horizont auch weiterhin niedriger Zinsen und hoher Inflationsraten, leuchtet das selbst mir als betriebswirtschaftlichem Laien ein.
Das Informations-Informiertheits-Verhältnis
Was also ist zu tun, um dem Design den ihm zustehenden Stellenwert zukommen zu lassen? Kurzum: Zuerst sollten wir Design als aktives Informieren verstehen und betreiben und nicht als Hilfsdisziplin wachsender Informations-Berieselung missbrauchen. Information und deren freie Verfügbarkeit sind selbstverständlich die grundlegende Voraussetzung jeglichen Handelns, den entscheidenden Unterschied macht jedoch deren In-Bezug-Setzen. Erst dadurch nämlich erhöhen wir unsere Informiertheit, die der eigentliche Rohstoff von Innovation ist. Der Philosoph und Designtheoretiker Dieter Leisegang hat dies – die Leserinnen und Leser mögen sich von der komplizierenden Diskurssprache der 1970er Jahre nicht schrecken lassen – wie folgt ausgedrückt: Wenn ein Modell gestattet ist: der reife Mensch muß, will er nicht seinen absoluten Tod herbeiführen, den unreifen entlang seiner diesem und ihm selbst eigenen Bestimmtheit auf sein Niveau bilden, ist gezwungen, ihn zu sich selbst quasi zu informieren.5
In diesem Sinne, sind alle Disziplinen gefordert, denn längst ist jedem klar, dass eine einzelne Disziplin dem Niveau der komplexen Herausforderungen, vor denen wir stehen, niemals gewachsen ist. Für dieses interdisziplinäre Arbeiten zunächst die Grundlage zu schaffen, sodann die notwendigen Skills zur Verfügung zu stellen und schließlich während des Prozesses die Zielsetzung immer im Auge zu behalten und darzustellen, das vermag keine Disziplin besser als das Design. Und zu glauben, dass nach oder mit dem erfolgreichen Abschluss eines Entwicklungsprozesses auf das Design wieder verzichtet werden könnte (siehe oben), ist ein weit verbreiteter Trugschluss. Denn heute weniger denn je, können wir es uns leisten, in linearen, vermeintlich abschließbaren und voneinander getrennten Prozessstrukturen zu denken. Wenn wir das nicht begreifen, dann werden wir auch das Trans in Transformation nicht begreifen und nicht einmal in die Nähe eines kreislauffähigen Wirtschaftens gelangen.
Es muss im Design – und das mag als vorläufiges Fazit dienen – darum gehen, die täglich wachsende Gesamtheit der Information in eine Ganzheit der Informiertheit zu transformieren. Dabei kann ein Blick in die Natur helfen. Auch darauf hat Leisegang hingewiesen und es, an dieser Stelle sehr viel klarer, wie folgt formuliert:
Der Wald ist nicht die additive Gesamtheit vieler Bäume, sondern ihre Ganzheit. Setzte sich der Wald aus Bäumen bloß zusammen, so sähe man ihn vor lauter Bäumen nicht […] Sagen wir es so: der Wald ist eine lebendige Ganzheit und nicht lediglich die Gesamtheit vieler bestimmter Lebewesen.6
Die Natur lehrt uns auch, dass nur aus einer solchen lebendigen Ganzheit Resilienz erwachsen kann – das trifft auf den Wald ebenso zu wie auf eine Gesellschaft.
Quellen:
1 Rittel, Horst, Webber, Melvin: Dilemmas in a General Theory of Planning, in: Policy Sciences 4 (1973), Seiten 155-169.
(https://www.sympoetic.net/Managing_Complexity/complexity_files/1973 Rittel and Webber Wicked Problems.pdf)
2 Aicher, Otl: Kritik am Auto – schwierige Verteidigung des Autos gegen seien Anbeter, München, 1984.
3 a.a.O., Seite 10.
4 Mickle, Tripp: After Steve – How Apple Became a Trillion-Dollar Company and Lost Its Soul, New
York City, 2022.
5 Leisegang, Dieter: Dimension und Totalität, Entwurf einer Philosophie der Beziehungen, Frankfurt
am Main, 1972, Seite 82.
6 ebenda, Seiten 7, 8.
Mehr auf ndion
Weitere Artikel zum Thema Design
Diese Seite auf Social Media teilen: