Nun ist es amtlich: Der aktuelle IKEA Katalog für das Jahr 2021 wird der letzte seiner Art gewesen sein. Im Sommer hatte man gerade noch Geburtstag gefeiert, nun ist – nach 70 Jahren – Schluss: Das zeitweise auflagenstärkste Druckerzeugnis der Welt wird eingestellt. Tempi passati, es riecht nach Zeitenwende.
Von Thomas Wagner.
Einen „möblierten Roman“ hat der Literaturkritiker Hellmuth Karasek das schwedische Wohnkompendium einmal genannt. Und Harald Schmidt, der in seiner Late-Night-Show schon vor bald 20 Jahren – „le ikea primeur est arrivé“ – genüsslich einige Doppelseiten mit Musterzimmern sezierte, hat den populären Katalog genutzt, um die Abgründe multikultureller Patchwork-Familien auszuleuchten und sich, hemmungslos wie immer, zu Spekulationen der lakonischen Art inspirieren lassen. Wenn nun mit dem IKEA-Katalog das gedruckte gute Wohngewissen verschwindet, das früher jedes Jahr von neuem gratis im Briefkasten lag, scheint nicht nur das Ende der Gutenberg-Galaxis besiegelt, sondern auch so manche von Bauhaus, Neuem Frankfurt, Ulm und „Guter Form“ genährte Hoffnung aufs bessere Wohnen dahin zu sein. Ist es wirklich so schlimm? Dass als Grund für den Medienwechsel die digitale Transformation des Konzerns angegeben wird, überrascht wenig. Es zeigt, wie schwer es selbst einem Unternehmen fällt, dessen Marketing stets auf Originalität gesetzt hat, gegen den Strom zu schwimmen.
Heute wird die Umsetzung der Wünsche von zu Hause aus geplant
„Sowohl für unsere Kunden als auch für unsere Mitarbeitenden ist der IKEA Katalog mit unzähligen tollen Erinnerungen und Emotionen verbunden. Seit 70 Jahren gehört er zu unseren bekanntesten und beliebtesten Produkten und hat Milliarden Menschen weltweit inspiriert. Die Entscheidung, das Kapitel ‚IKEA Katalog‘ zu beenden, ist eine Folge des veränderten Medienkonsums und Verbraucherverhaltens. Wir werden die vielen Menschen künftig über neue Wege erreichen, mit ihnen interagieren und sie mit unseren Einrichtungslösungen inspirieren“, begründet Konrad Grüss, Managing Director Inter IKEA Systems B.V., die Entscheidung. Statt umständlich auf Papier, sollen die Kunden sich künftig im Netz informieren. „Durch die Rückmeldungen der Kunden und aus den IKEA Einzelhandelsmärkten“ habe sich gezeigt, „dass die Menschen die Umsetzung ihrer Wünsche und ihres Einrichtungsbedarfs zunehmend von zu Hause aus planen – mit bestehenden, aber auch mit neuen, spannenden Tools“.
3,6 Milliarden haben sich 2020 auf der Website umgesehen
Wenn Grüss davon spricht, jeder Abschied sei auch ein Neuanfang und zusammenfassend verkündet „Wir möchten die vielen Menschen mit neuen Möglichkeiten, Kanälen und Formaten inspirieren“, ist das Urteil längst gesprochen: In Zeiten der Digitalisierung erscheint ein gedruckter Katalog für ein Unternehmen, das junge Konsumenten ansprechen will, schlichtweg anachronistisch. Die Printauflage war in den vergangenen Jahren ohnehin immer weiter geschrumpft. Druckte IKEA 2019 in Deutschland noch 23 Millionen Exemplare, so sind es bei der aktuellen Ausgabe nur noch 8,5 Millionen. Dass die Kataloge nicht mehr gewohnt automatisch in den Briefkästen landeten, tat ein Übriges. Wer den Katalog über ein Formular im Internet anfordern muss, kann sich den Umweg sparen und sich gleich auf der Website umsehen. Auch spricht es eine eindeutige Sprache, dass der Onlinehandel bei IKEA im vergangenen Jahr weltweit um 45% gewachsen ist und 3,6 Milliarden Menschen im Geschäftsjahr 2020 die Webseite IKEA.com besuchten. Die Corona-Pandemie dürfte die Gewichtung noch weiter verschoben haben. Und natürlich spielt auch die Nachhaltigkeitsstrategie des Möbelhauses eine Rolle, will man doch bis 2030 klimaneutral werden.
In Deutschland sind Versandhändler wie Wenz, Schöpflin, Quelle, Neckermann, Otto und andere zumeist in der Weimarer Republik oder in den 1930er-Jahren entstanden. Während diese vom Markt verschwunden sind oder ihre Warenkataloge längst online betreiben, verfolgte IKEA stets ein Mischkonzept, das den Kauf von Möbeln (und einigem mehr) zu einem Erlebnis machen sollte – bis hin zum nicht immer stressfreien, aber erlebnisstarken Zusammenbau der Schränke, Regale, Küchen und Betten zu Hause. Es mag übertrieben klingen, aber was Kundenbindung und Wunschproduktion angeht, geht mit dem als Wohnratgeber fungierenden IKEA-Katalog die Nachkriegszeit erst jetzt ganz zu Ende.
„Wir möchten die vielen Menschen mit neuen Möglichkeiten, Kanälen und Formaten inspirieren.“
Konrad Grüss, Managing Director Inter IKEA Systems B.V.
Mitnehmen, was man so braucht
IKEA ist zu einer einflussreichen Institution geworden. Der Beweise sind viele: Als Bücher noch nicht auf dem Smartphone gelesen wurden, kam kaum eine Studentenbude ohne „Billy“ aus. Und wer den Besuch im Hochregallager ohne anschließenden Verzehr von Köttbullar absolvierte, gehörte nicht zur kunterbunten Familie (Inzwischen retten fleischfreie Plantbullar den Planeten). Wer jenseits ererbter Stilmöbel oder teurem Designerstück ein praktisches, oft auch gut gestaltetes Möbel brauchte, musste nicht lange suchen: Er griff zum IKEA-Katalog, nahm, was er sich ausgeguckt hatte, im „etwas anderen Möbelhaus“ in Augenschein – und das Gewünschte, so es ins Auto passte, aus dem Lager gleich mit nach Hause.
So sorgte IKEA vorzugsweise in den Siebzigern und Achtzigern inmitten der (noch immer spießigen) deutschen Wohnungen für frische Luft. Keiner wusste das praktische und sympathisch-geschmackvolle skandinavische Lebensgefühl so geschickt zu vermarkten wie das Unternehmen, das der 17-jährige Ingvar Kamprad 1943 gegründet hat und das zunächst Kugelschreiber, Brieftaschen, Bilderrahmen, Tischdecken, Uhren, Schmuck, Nylonstrümpfe und Postkarten verkaufte. Für den Erfolg wichtig war: Der Katalog zeigte Möbel (und was man für den Haushalt sonst noch so braucht) nicht nur als isolierte Warengruppen, sondern wie Einrichtungsratgeber eingebunden in komplett eingerichtete Zimmer – eine Strategie, die sich bewährt hat und der man bis heute treu geblieben ist. Wer sich nicht lange mit Möbeldesign beschäftigen, sich aber nicht altbacken einrichten wollte – die Mischung aus der Rationalität der Bauhaus-Moderne, skandinavischer Schlichtheit und einem kräftigen Schuss Hygge schuf Abhilfe. Zumal das komplette Einrichtungsprogramm von der Küche bis zum Kinderzimmer, vom Bad bis zur Terrasse, im Katalog anschaulich ausgebreitet wurde, die Produkte schnörkellos gestaltet und preiswert waren. Was versprochen und leicht zugänglich gemacht wurde, war eine unverkrampft zeitgenössische, alle Klassengrenzen überspringende, aber eben auch geschichtslose Lebensform nach dem Motto: „Wohnst Du noch oder lebst zu schon?“
Online bestellen oder Erlebnis-Shopping
Inzwischen hat sich das Einkaufsverhalten (man könnte auch sagen, die Mediennutzung junger Singles und Familien) ebenso verändert wie die Marketingstrategie, die den Wandel nicht nur begleitet, sondern aktiv vorantreibt. In Zeiten von Online-Shopping, Alexa und Amazon bleibt wenig Zeit zum Blättern und Überlegen. Und wo doch mal etwas geplant werden muss, helfen Mitarbeiter, Algorithmen und KI:
Ganz bequem mit uns vom Sofa aus planen. Wir helfen dir gerne bei der Planung deiner neuen Einrichtung oder unterstützen dich bei der Wahl des passenden Stils für dein Zuhause. In einem individuellen Termin nehmen wir uns Zeit für dich. Ganz bequem online und kostenlos.
Die Kunden nutzen heute beides: Entweder alles online bestellen oder Erlebnis-Shopping mit Kind und Kegel und Plantbullar.
Ein Handbuch für ein besseres Zuhause
Die Frage, welchen Anteil der gedruckte Katalog tatsächlich daran hatte, dass IKEA wie kein anderes Möbelhaus den Einrichtungsstil vieler Menschen geprägt hat und ihr Leben von der ersten eigenen Wohnung bis zum Seniorenheim begleitet hat, ist nicht leicht zu beantworten. Wahrscheinlich wird der Einfluss der Einrichtungsbeispiele auf die Geschmacksbildung überschätzt. Im Rahmen bestimmter Moden setzen sie vor allem Konsumanreize. Die interaktiven Webseiten, auf denen man schon jetzt per Mauszeiger die Namen und Preise der in einem fiktiven Wohn-, Schlaf-, Arbeits- oder Kinderzimmer abgebildeten Produkte aufpoppen lassen kann, bestätigen es. Und im Gegensatz etwa zum Collage-Denken von vitra, predigt IKEA, ob mit oder ohne Katalog, ein erstaunlich monogames Einrichtungsverhalten: Wenn es um dein Zuhause geht, sollst Du keinen anderen Elch neben mir haben.
Ein Buch als Hommage an den IKEA Katalog
IKEA wäre nicht IKEA, folgte der Trost über den Verlust des Katalogs nicht auf dem Fuße. Also wird der Verlust gewohnt nüchtern bilanziert, der verzichtbare Katalog aber sogleich nostalgisch und emotional verklärt. In einer dialektischen Wendung soll die Geschichte des Katalogs, der bei genauem Hinsehen in den ersten Jahren nicht viel mehr als ein Werbeprospekt war, in Ehren gehalten werden. Im Herbst 2021, so heißt es zum Abschied, wolle IKEA als Hommage an den Katalog ein Buch mit einer Fülle von Einrichtungswissen und Inspirationen herausgeben.
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Zur Homepage von IKEA. Weitere Covers, Infos und Rückblicke auf die Geschichte des Katalogs und des Unternehmens finden Sie im Ikea Museum.
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