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Herbert Lindinger hat über viele Jahrzehnte vorgemacht, welch wichtige Rolle Design bei Prozessen der Erneuerung spielt. Dabei zeigt sein Werk auch, welche Vorteile Modularisierung hat und dass gute Gestaltung immer auch eine spielerische Dimension besitzt. Nun wird der Designer 90 Jahre alt.

Von Thomas Edelmann

Herbert Lindinger © Design Museum, Nürnberg, Foto: Regiepapst, München

Von Transformation ist dieser Tage oft die Rede. Industrien sollen sich auf Folgen des Klimawandels vorbereiten, die Digitalisierung soll gestaltet werden. Wie bei Prozessen der Erneuerung Design ins Spiel kommt und wozu das gut ist, hat über viele Jahrzehnte Herbert Lindinger thematisiert und vorgelebt. Seine Entwurfstätigkeit umspannt Privat- und Arbeitswelt sowie die öffentliche Sphäre. Ein Konzept dabei: Konsequente Modularisierung, die zugleich Freiräume für zahlreiche Detailverbesserungen schafft. Nirgends ist dieser Ansatz relevanter als im öffentlichen Personenverkehr, den er mit seinen Entwürfen für U-Bahnen, Stadtbahnen und Straßenbahnen in Hamburg, Hannover, Stuttgart, Berlin und Frankfurt, mit Reisezugwagen für die Österreichische Bundesbahn und deutschen Standardbussen auf ein neues gestalterisches Qualitätsniveau hob. Allein in Stuttgart konnte er evolutionär drei Generationen von Stadtbahnwagen entwickeln. 2017, als die jüngste Baureihe vorgestellt wurde, zierte sie eine Briefmarke der Reihe „Design aus Deutschland“. Eine typische Verbesserung Lindingers fürs Interieur: Statt der üblichen Wälder von Haltestangen führte er langgezogene ovale Griffe ein, die leichter zu erreichen sind. Der Raum wirkt großzügiger, das sichere Festhalten wird einfacher.

Menschenfreundliche Reform von Produktion und Gebrauch

Doch Lindingers Werk – stets im Team entstanden – umfasst weit mehr. Es ist ein Universum, dessen Elemente – für sich gesehen wie im Ganzen – auf eine menschenfreundliche Reform von Produktion und Gebrauch abzielen. Die Gestaltung von Stadtplätzen zählt ebenso dazu wie ein verbreitetes Telefon (zusammen mit dem Japaner Isao Hosoe); ein Systemlabor für Forschung und Industrie, experimentelle Möbel oder Hinweis- und Leitsysteme für Züge und Bahnhöfe. Als Designlehrer mit Universitätsprofessur war Lindinger ebenso tätig wie als Streiter für Urheberrechte, über die sich manche Auftraggeber leichtfertig hinwegsetzten. Auch das Sich-Wehren gegen versuchte Übervorteilung ist ein wichtiger Teil des Designberufs, der allen Kreativen zugutekommt. Lindinger stritt auf ehrenamtlichen Posten an der Spitze deutscher wie internationaler Verbände für die Weiterentwicklung des Berufs.

Bosch Telecom, Telefon T1 Integral, Design: Isao Hosoe, Herbert Lindinger, Ann Marinelli, Koji Mitsuhashi, Alessio Pozzoli and Sam Ribet, 1994

Schon die Startphase Lindingers in den 1950er Jahren bietet eine ungeheure Vielfalt an Blickwinkeln und Projekten. Geboren am 3. Dezember 1933 im österreichischen Wels, absolviert er zunächst ein Grafikdesignstudium an der traditionell ausgerichteten Gewerbeschule in Linz. Dort fällt Herbert Lindinger mit seinen Studienarbeiten rasch auf und erhält den Auftrag, maßgebliche Teile der Ausstellung „10 Jahre Wiederaufbau Oberösterreich“ zu gestalten, die 1954 stattfindet. Das Honorar nutzt er für die Reise nach Mailand zur X. Triennale, damals ein Pilgerort für an Gestaltung Interessierte. „Eine Offenbarung für mich“, erzählt er, denn dort ließen sich neue „internationale Standards“ erkennen. Im deutschen Pavillon in Mailand – gestaltet von Egon Eiermann und kuratiert von Mia Seeger – fällt ihm eine Broschüre auf, die höchst überraschend auf ihn wirkt: „Quadratisch, grau, die Texte in Kleinschreibung, eine unglaublich sparsame Typografie, völlig zurückhaltend,“ schildert er im Video-Interview mit dem Direktor des Bröhan-Museums Tobias Hoffmann. So viel Understatement motiviert ihn. Die Broschüre wirbt für die neu entstehende Hochschule für Gestaltung in Ulm. Die Aussage im Text, dieses Institut wolle „am Aufbau einer neuen industriellen Kultur mitwirken – vom Löffel bis zur Stadt“, elektrisiert den jungen Mann.

Westwärts, an der Donau entlang

Von Linz nach Ulm sind es schließlich – der Donau entlang – nur ein paar hundert Kilometer westwärts. Vierzehn Jahre prägende Jahre wird er dort verbringen. Noch vor Bezug der Bauten von Max Bill beginnt Lindinger 1955 im Alter von 21 Jahren an der HfG in Ulm zu studieren. Der soziale Impetus des Projektes begeistert ihn ebenso wie die neue Lebensweise von Studierenden und Dozierenden, die hier erprobt wird. In der Grundlehre hat er es mit Josef Albers und Johannes Itten zu tun. Max Bill, Friedrich Vordemberge-Gildewart und Tomás Maldonado unterrichten ihn. Bald beziehen Dozenten wie Hans Gugelot und Otl Aicher ihn in ihre Entwicklungsgruppen mit ein. Als erste Studienaufgabe entwirft Lindinger eine Brillenfassung für die Firma Angerer in Linz. Grundlage sind Untersuchungen über Sichtfelder und Gesichtsschnitte, für die Studierende und Dozenten fotografiert werden, um einen statistischen Mittelwert zu finden, der Maßgaben für den Entwurf liefert.

Als im Wechselspiel zwischen dem Firmensitz in Frankfurt und der HfG in Ulm eine neue Produktsprache und erste wegweisende Geräte für die Firma Braun entstehen, ist Lindinger von Anfang an dabei. Braun gehört zu den maßgeblichen Förderern der privaten HfG und profitiert von der engen Zusammenarbeit mit Hans Gugelot und seinen Studierenden. An der bekannten Radio-Phono-Kombination SK4, die Gugelot entwirft und für die Dieter Rams die Idee des Plexiglasdeckels beisteuert, ist Lindinger beteiligt. Als Stephan Ott 2017 mit der Spezialausgabe „Revisiting the Past“ an die Anfänge der Zeitschrift „form“ erinnerte, hätte er sich keinen passenderen Interviewpartner als Lindinger aussuchen können. Dieser berichtete unter anderem von seiner Diplomarbeit an der HfG Ulm. Deren beide Teile setzten Maßstäbe: In technischen, anthropologischen und heimatkundlichen Museen hatte er für seine theoretische Arbeit geforscht, eine Geschichte der Gebrauchsgegenstände vor Ruskin, Jugendstil, Bauhaus und Ulmer Hochschule war das Resultat. Zum Gebrauch bestimmte Objekte seien, so Lindingers These, bislang kaum als gestaltet rezipiert worden. Eher richtete sich der kunsthistorische Blick zu jener Zeit auf Gegenstände höfischer Repräsentation. Er jedoch förderte Alltagsdinge zu Tage, deren Schöpfer oft namenlos blieben. Und doch orientierten sie sich an praktischem Nutzen wie an gestalterischer Qualität. Der Mensch habe, so Lindinger damals im Gespräch, „neben seinem praktischen Suchen und Machen, neben seinem Mitteilungsbedürfnis immer auch spielerisch nach dem Schönen gesucht – ganz einfach aus Spaß.“ Ab 1964 veröffentlicht „form“ die Theorie-Arbeit als mehrteilige Serie.

Der Urtyp eines eines modularen Hifi-Systems

Der praktische Teil der Arbeit, die er 1959 abschloss und als „Baukastensystem für Apparate der akustischen und visuellen Informationsspeicherung und -übermittlung im Wohnbereich“ 1961 veröffentlichte, war die Konzeption eines modularen Hifi-Systems, angeregt und betreut von Hans Gugelot. Als Tisch-Set wie als Wandanlage präsentierte er es, deutete weitere Konfigurationen an. Aus der Recherche ging der „Urtyp“ jener Kombination abgestimmter Komponenten hervor, die in der Folgezeit in der Unterhaltungselektronik weltweit prägend wurde, zunächst vorgedacht als konsequent modularisierter und minimalistischer Bausteinkasten. „Heute“, sagt Lindinger lächelnd, „steckt all das und viel mehr noch in jedem Smartphone.“ Braun erschienen die Studien zunächst als sehr puristisch, ließen sich mit der damaligen Röhrentechnik nicht realisieren. Erst mit der Verbreitung zuverlässiger Transistoren konnte Lindingers Grundlagenforschung erste Früchte tragen: Die Mitte der 1960er Jahre von Braun vorgestellte Wandanlage von Dieter Rams nahm Anleihen bei Lindingers Studie, auch wenn sie im Detail zu anderen Lösungen und Proportionen gelangte.

Diplom Hifi-System 1959, Courtesy Herbert Lindinger, Hannover. © Wolfgang Siol

Wo Design fruchtbar werden kann

Anders als Rams, der Designverständnis und Kampfgeist in den Dienst zweier Firmen stellte, suchte der knapp anderthalb Jahre jüngere Lindinger nach anderen Betätigungsfeldern. Bewusst klinkte er sich aus jenen Bereichen aus, die „Richtung Konsum tendieren und vom Styling zwangsläufig bedroht“ sind, wie er sagt. Die Projekte für Braun hatten die HfG als potenziellen Industriepartner interessant gemacht; auch der Vorstand der Hamburger Hochbahn wurde aufmerksam. Bei der Arbeit am U-Bahnwagen DT2 (1959–62) zeigte sich für Lindinger, wo Design noch fruchtbar werden kann. Lindinger wurde Mitarbeiter seines Lehrers Hans Gugelot. „Entwicklungsgruppe“ hieß in Ulm das Übergangsfeld zwischen fortgeschrittenem Studium und praktischem Industrieauftrag. Kurz darauf wird er an der HfG ordentlicher Dozent. Der Beginn einer langen Laufbahn in der Lehre, die Lindinger als Ergänzung zu seinen Auftragsprojekten sieht. Gastaufenthalte führten ihn nach Indien und nach Amerika.

U-Bahwagen DT2 für Hamburg, Entwurfsgruppe: Hans Gugelot, Herbert Lindinger, Helmut Müller-Kühn, Farbgestaltung: Otl Aicher, Peter Croy

Mit dem neuartigen U-Bahnzug werden Ergonomie, Licht, Sitz- und Haltemöglichkeiten erstmals systematisch betrachtet. Die Designer bewegten die Ingenieure der Herstellerfirma, in Kunststoff-Technologie zu investieren, um die Gestaltung schlüssiger und den Wagen leichter zu machen. Der DT2, der 1962 erstmals in Hamburg fuhr, verschwand erst mehr als 50 Jahre später vollständig aus dem Stadtbild. Die äußere Form dient noch heute als Vorbild für Nachfolgemodelle. Bei vielen Projekten hat Lindinger gezeigt, wie Verkehrsmittel beschaffen sein sollten, um aktuell, attraktiv und sicher zu sein. So schuf er bessere Einstiegsmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer, bessere Arbeitsplätze für Zugführer*innen, übersichtlichere Informationskonzepte und hellere Beleuchtung. Immer wieder widmete er sich dem Sitzkomfort. Mit gewissen Vorbehalten habe sich bewährt, „Dinge feiner, anspruchsvoller zu gestalten“, schrieb der Designer über Gestaltung für den öffentlichen Raum. Hannover wurde 1972 zur Wahlheimat des Österreichers, der an die örtliche TU berufen wurde. Zwei Jahre später kam sein lindgrüner Stadtbahnwagen TW 6000 hier aufs Gleis. Seither wurde die Technik der Fahrzeuge immer wieder angepasst, seit 2019 werden die Oldtimer einer Rundum-Erneuerung unterzogen und prägen weiterhin das Stadtbild. Als die TU zur Universität und 2006 zur Gottfried Wilhelm Leibniz-Universität Hannover wurde, schuf Lindinger deren Erscheinungsbild.

Neue S-Bahnzüge für Berlin

Wenige Jahre vor dem Ende der DDR entdeckte man im Westen Berlins die S-Bahn wieder. Nach dem Mauerbau war sie boykottiert worden, da sie unter Regie der DDR-Reichsbahn fuhr. Hans Jochen Vogel erreichte 1984 als Regierender Bürgermeister, dass im Westteil der Stadt die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) die S-Bahn übernehmen und weiterentwickeln. Für die Gestaltung neuer Fahrzeuge erhielt Lindinger den Auftrag. Sein moderner Zug mit hellblau-grauer Außenlackierung entstand. Bei einem Televoting setzten sich Traditionalisten durch, die auf der Farbgebung aus Zeiten der Dampflokomotiven bestanden – Rot, Ocker und Schwarz. Lindingers Baureihe 480 aus dem Jahr 1985 ist mittlerweile die älteste Zuggeneration der Berliner S-Bahn. Auch Designer späterer Baureihen scheiterten an den Traditionalisten, eine veränderte zeitgemäße Farbigkeit durchzusetzen.

Fahrzeug der S-Bahn Berlin, Baureihe 480, Entwurf: Herbert Lindinger, Jörg-Peter Kusserow, Helmut Staubach, Volker Weinert (1985/86). Realisiert wurde eine Version mit traditioneller, rot-gelber Farbgebung.

Das berühmte Würmchenmuster der BVG

Nicht allein Züge und Busse, auch die dazugehörigen Sitzbezüge hat Lindinger gestaltet. Für Stuttgart schuf er bequeme unifarbene Polstersitze. Aufsehen erregte sein Prozess gegen die Berliner Verkehrsbetriebe BVG. Den Sitzbezug, den er 1985 für die S-Bahn entwarf, nutzte das Unternehmen in immer neuen Fahrzeugen und Kontexten. Einst als originelle Graffiti-Abwehr entstanden, kam Lindingers Entwurf, von den Berlinern liebevoll „Würmchenmuster“ genannt, überall in Bussen und U-Bahnen zum Einsatz. Mehr noch: Er wurde Kernbestandteil der BVG-Marketing- und Merchandisingkampagne. Viele Zeitungen und Blogs berichteten über das vermeintliche „Verbot“, das Lindinger vor Gericht erstritt. Dabei ging es darum, dass sein „Urban Jungle“ genannter Sitzbezug nicht ohne Honorarvereinbarung beliebig genutzt werden darf, was vorm OLG Hamburg verhandelt wurde und zu einer Einigung der Parteien führte.

Interieur der Stadtbahn Stuttgart, 1999
Muster „Urban Jungle“ von Herbert Lindinger aus dem Beitrag über „Wahre Wahrzeichen“ der Städte, ZeitMagazin 16/2023 

Aktiv mit- und gegensteuern

Herbert Lindingers Rat ist noch immer gesucht. Bei Ausstellungen über Braun-Design in Berlin und über das Design der Bahn in Nürnberg, gab er als Zeitzeuge präzise Auskünfte. Gerade wurde er von der Stadt Heidelberg gebeten, bei der Erneuerung des Bismarckplatzes, eines städtischen „Dreh- und Angelpunktes“, den er Mitte der 1980er Jahre gestaltete, zu helfen. Mehr Bäume und mehr Schatten soll es künftig geben, weniger Fahnenmasten und verzichtbare Einbauten. Angesichts von KI sagt Lindinger heute, müssten Designer überlegen, wie sie „aktiv mitsteuern, gegensteuern, zugunsten kultureller Neuansätze à la Bauhaus oder Ulm und der Umwelterhaltung.“ 2021 interviewte ich Herbert Lindinger für die Ausstellung „Design und Bahn“ des DB Museums Nürnberg. Auf die Frage nach Herausforderungen fürs Design, sagte er damals: „Gerade die Ulmer Schule hat gezeigt, dass man eine Symbiose finden muss zwischen den gestaltungsrelevanten Wissenschaften: Den Humanwissenschaften, den Technikwissenschaften und den Gestaltungswissenschaften. Im Design kann man nicht allein durch die Gegend spazieren, sondern man muss in Teams arbeiten. Da ist Begründung, Reflexion und Diskussion ein zentrales Thema.“ Design bedarf der Realisierung, setzt Denken, Handeln und Entscheiden voraus. Daran so sagt Herbert Lindinger, müsse immer wieder erinnert werden.


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