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Vor zehn Jahren wurde die amerikanische Grafikerin und Art Direktorin Jessica Walsh international bekannt als Stefan Sagmeister sie bat, seine kreative und geschäftliche Partnerin zu werden – woraus das gemeinsame Studio Sagmeister & Walsh entstand. 2019 gründete die Designerin ihre eigene Agentur &Walsh, die sich auf Branding, Verpackungen und Werbung spezialisiert hat. Mit mehr als 500.000 Follower*innen nutzt Walsh ihren persönlichen Instagram-Account, um ihre Ansichten auszudrücken – oft überraschend, manchmal verblüffend, nie langweilig. Zeit zu reden!

Interview von Gerrit Terstiege

Jessica Walsh
Jessica Walsh, © &Walsh

Gerrit Terstiege: Wenn man die Website Ihres Studios oder Ihre Instagram-Konten besucht, sowohl das professionelle als auch das private, fällt als erstes die starke Verwendung von Farben ins Auge. Das gilt für Ihre Erscheinungsbilder wie für Ihre Packaging Designs und Ihre freien Arbeiten. Wie finden Sie für jedes Projekt neue Farben und Farbkombinationen?

Jessica Walsh: Meine persönliche Arbeit wird als „farbenfroh, kühn, emotional, surrealistisch und provokativ” beschrieben. Ich habe ein bestimmtes visuelles Empfinden und fühle mich zu Themen hingezogen, die in meiner persönlichen Arbeit zum Vorschein kommen. Davon abgesehen haben wir keinen bestimmten Stil für die Arbeit mit unseren Kund*innen im Bereich Branding. Unser Ziel bei Marken ist es, ihnen in der Strategiephase zu helfen, ihre eigene Markenpersönlichkeit zu entdecken. Unsere gesamte kreative Arbeit spiegelt die einzigartige Persönlichkeit der Marke wider: von der Textgestaltung über die Typografie und die Farbwahl bis hin zu den Bildern, die wir kreieren.

Der Prozess des Branding oder Re-Branding ist für jedes Unternehmen sehr entscheidend. In der Regel ist eine große Anzahl von Menschen daran beteiligt – die manchmal nervös sind und oft sehr unterschiedlichen Erwartungen haben. Wie schaffen Sie es, so persönliche Werke zu realisieren, die sofort als von Ihnen entworfen erkennbar sind?

Viele Leute können, ganz auf sich gestellt, großartige Entwürfe machen. Die Herausforderung besteht darin, Arbeiten zu schaffen, die von den Kund*innen akzeptiert werden, insbesondere wenn in einem größeren Unternehmen mehrere Interessengruppen beteiligt sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, eine sich ständig weiterentwickelnde Kreativ-Agentur mit zahlreichen Mitarbeiter*innen zu leiten und dafür zu sorgen, dass das Team stimuliert wird, zusammenarbeitet und jeder und jedem verlockende Wachstumsmöglichkeiten geboten werden, die zum Bleiben motivieren. Als wir anfingen zu wachsen, war mir nicht klar, wie schnell sich die Teamdynamik und das Gefühl der Autorschaft mancher für eine bestimmten Entwurf ändern können, wenn das Team größer wird. Ich war selbst so überlastet, dass ich versucht habe, alles zu managen, und habe dem nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. In den letzten Jahren habe ich damit begonnen, die Systeme hinter den Abläufen in unserer Agentur zu stärken. Ich bin entschlossen, dafür zu sorgen, dass wir nicht nur kreative Spitzenleistungen erbringen, sondern auch in Bezug auf die Agenturkultur zu den besten Arbeitgebern gehören.

Ihre Visuals und digital manipulierten, räumlichen Illustrationen sind oft hintersinnig, witzig, surreal und/oder verstörend. Verwerfen Sie manchmal Ideen, die für ein Unternehmen oder die Öffentlichkeit zu abwegig sind?

Die Rahmenbedingungen, die man sich selbst auferlegt, können alles Mögliche sein. Versuchen Sie, die Farbpalette einzuschränken, mit einem bestimmten Werkzeug zu arbeiten, nur eine bestimmte Form für eine Illustration zu verwenden, nur Typografie für ein Plakat zu verwenden usw. Je enger und ungewöhnlicher die Einschränkungen sind, desto leichter ist es, etwas Einzigartiges zu schaffen. Das gilt für jede Art von kreativer Arbeit, nicht nur für Design. Die meisten Vorgaben, die wir in unserem Studio machen, sind durch den Inhalt, das Publikum oder den Ort, für den wir gestalten, inspiriert. Ein Beispiel, das wir in unserem Studio umgesetzt haben: das Rebranding für Appy Fizz, einen Apfelsaft mit Kohlensäure in Indien. Wir begannen mit Mind Maps und Wortassoziations-Diagrammen. Die Flüssigkeit besteht aus Tausenden von kohlensäurehaltigen Blasen, die kreisförmig sind. Ein Apfel ist ebenfalls eine runde Form. Wir kamen immer wieder auf die Schlüsselwörter zurück: Bubbles, Kugeln, Kreise, Punkte. So kamen wir auf die Idee: Was wäre, wenn die gesamte Identität aus kreisförmigen Formen bestünde? Die zweite Vorgabe, die wir machten, war die Farbe: Wir behielten das Rot/Schwarz/Weiß bei. Wir haben uns wegen der Äpfel für Rot entschieden. Wir wählten Schwarz als sekundäre Hauptfarbe, da eines der Markenattribute „dunkel und geheimnisvoll” ist. Alles, vom Logo bis zu den Grafiken für TV, Print und Digital, wurde mit Punkten und Kugeln in diesen Farben gestaltet. Obwohl wir mit einer Vielzahl von Illustrator*innen, Animator*innen, Regisseur*innen und Designer*innen zusammenarbeiteten, trugen diese stilistischen Vorgaben dazu bei, alles in einer kohärenten visuellen Sprache zu vereinen.

Jessica Walsh Appy Fizz
Appy Fizz-Kampagne, © &Walsh
Jessica Walsh Appy Fizz
Appy Fizz-Kampagne, © &Walsh

Wie wichtig sind für Sie visuelle Trends und Markentrends in der Werbung? Ist es möglich, sie zu ignorieren und einen völlig eigenen Weg zu gehen? Sie haben sowohl klassische Surrealisten wie Max Ernst und Dalí als wichtig für Ihre Arbeit genannt, als auch einen zeitgenössischen Künstler wie Maurizio Cattelan. Woher nehmen Sie heutzutage Ihre künstlerischen Inspirationen?

Wenn man sich von anderen grafischen Arbeiten inspirieren lässt, läuft man Gefahr, Dinge zu schaffen, die schon einmal gemacht worden sind. Ich besuche Museen und Fotoausstellungen, sehe mir Filme an, höre Musik und führe Gespräche mit Freund*innen, um mich inspirieren zu lassen. Ich lese Bücher über Psychologie und Wissenschaft und Blogs über Populärkultur. Buchstäblich alles, was wir tun, sehen oder hören, kann uns unbewusst inspirieren. Ich versuche, meine Erfahrungen zu erweitern, damit meine Arbeit abwechslungsreich und interessant bleibt.

Ich würde sagen, man sollte sich einer breiten Palette von Inspirationen aus verschiedenen kreativen Disziplinen aussetzen, nicht nur aus dem eigenen Bereich. Man sollte sich auch für Filme, Musik, Kunst, Fotografie, Mode und Produktdesign interessieren. Dinge sammeln, die man schön findet oder die einen emotional ansprechen. Mit der Zeit werden Sie Muster und Themen in den Sammlungen entdecken, die Sie begeistern. Diese Muster können Hinweise auf Ihre eigenen Leidenschaften, Schlüsselerlebnisse oder Emotionen und Stile enthalten, zu denen Sie sich hingezogen fühlen – all das kann man nutzen, um eine unverwechselbare Stimme zu entwickeln.

In gewisser Weise haben Sie sich selbst zu einer Marke gemacht: ein starkes Bild einer starken Frau, die aber auch über Gefühle wie Wut oder Unsicherheit spricht. In einigen Projekten (z. B. SuperShe) und in vielen Beiträgen reflektieren Sie das Frausein und die Tatsache, dass es in den USA so wenige von Frauen gegründete und/oder geleitete Designstudios gibt (1%!). Um die Idee zu fördern, kreative Frauen weltweit zu verbinden, haben Sie vor sieben Jahren Ladies, Wine & Design gegründet. Es gibt auch Ableger in deutschsprachigen Ländern. Wie läuft L,W&D heute? Was haben Sie bis jetzt gelernt?

Angesichts des aktuellen politischen Klimas und der Tatsache, dass die Welt gegen Hass, Sexismus und Rassismus kämpft, müssen wir mehr denn je zusammenkommen und uns gegenseitig unterstützen. Ich habe LW&D als einen sicheren Raum für Frauen und nicht-binäre Kreative gegründet, um positive Verbindungen aufzubauen, Dialoge zu beginnen, Mentorinnen zu sein und sich gegenseitig zu stärken. Wir veranstalten kostenlose Mentorinnentreffen, Portfoliobesprechungen, Vorträge und kreative Diskussionen zu Themen wie Kreativität, Business, Bezahlung, Agenturführung und Leben auf der ganzen Welt. Es ist unglaublich zu sehen, was passieren kann, wenn wir zusammenkommen. Was bei LW&D entsteht, ist sehr inspirierend. Wir haben Geschichten von Frauen gehört, die sich bei den Veranstaltungen kennengelernt und dann gemeinsam Studios gegründet haben, miteinander Produktideen entwickelt haben oder sich gegenseitig bei der Jobsuche geholfen haben. Die Teilnehmerinnen haben uns erzählt, wie unsere Veranstaltungen sie dazu inspiriert haben, ihre Chefs zu konfrontieren, die sexistisch waren, und wie sie ihre toxischen Arbeitsumgebungen verlassen haben, um ihren wahren Leidenschaften nachzugehen. Wir freuen uns darauf, unsere Gemeinschaft weiter auszubauen und haben große Ambitionen für künftige Veranstaltungen und andere Formen des Engagements.

Jessica Walsh SuperShe
SuperShe, ©&Walsh
Jessica Walsh SuperShe
SuperShe, © &Walsh
Jessica Walsh SuperShe
SuperShe, © &Walsh

Ihre Schwester Lauren ist zu &Walsh hinzugekommen – was genau ist ihre Aufgabe? Inwiefern unterscheiden sich Ihre Aufgaben?

Meine Schwester Lauren leitet die Abteilung New Business & Strategy bei &Walsh. Manchmal weiß ich nicht, wie ich ohne ihre Hilfe klargekommen bin. Ich bin sehr glücklich, mit ihr zusammenzuarbeiten.

Kurz nachdem Sie &Walsh gegründet hatten, begann die Covid19-Krise. Wie hat sich das auf Ihr Geschäft und Ihre Arbeit ausgewirkt? Sie verwenden zum Beispiel oft Models in Ihren Bildern. Aber es muss eine Zeit gegeben haben, in der ein Fotoshooting einfach nicht möglich war – vor allem in NYC, das von der Covid-Krise hart getroffen wurde …

Covid hat die Art und Weise, wie wir konsumieren und gestalten, über Nacht verändert: Alles, was in der Wohnung gemacht wurde, ging online. Die Menschen haben nicht aufgehört, Dinge zu schaffen oder Kontakte zu knüpfen, es geschah nur auf eine andere Art und Weise. Die Geschwindigkeit, mit der wir uns an diese Veränderungen angepasst haben, beweist, dass die Menschen Content wollen und brauchen und dass sie auf jeden Fall herausfinden werden, wie sie ihn bekommen können. Dieser Wandel ist nicht nur aktuell, sondern wird sich langfristig auf die Art und Weise auswirken, wie wir Inhalte erstellen und konsumieren.

Hier kommt die Stefan-Sagmeister-Frage … er ist kürzlich 60 geworden, gab es eine Party? Sehen Sie sich noch hin und wieder oder arbeiten Sie sogar zusammen?

Mit Stefan und mir ist alles in Ordnung. Stefan hat gesagt, dass er in absehbarer Zeit keine kommerzielle Arbeit machen will. Stefan und ich werden weiterhin unter dem Namen Sagmeister & Walsh bei Kunstprojekten wie der Ausstellung und dem Buch „Beauty” zusammenarbeiten.

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Ich bin gespannt, wohin mich das Leben führt. Im Moment liebe ich, was ich tue, und genieße die dynamische Atmosphäre im Studio. Solange ich bei dem, was ich tue, Herausforderungen und Freude finde, werde ich weitermachen. Wenn ich das verliere, suche ich mir vielleicht andere kreative Disziplinen oder Herausforderungen. Oder vielleicht ziehe ich in ein anderes Land! Egal, was ich tue oder wo ich bin, ich möchte weiterhin lernen und gute Arbeit leisten, die die Menschen in irgendeiner Weise berührt.

Jessica Walsh
© &Walsh

Jessica Walsh

Jessica Walsh ist Gründerin, CEO und Kreativdirektorin von &Walsh, einer auf Branding und Werbung spezialisierten Kreativagentur mit Sitz in New York. Sie machte ihren Abschluss 2008 an der renommierten Rhode Island School of Design, arbeitete danach bei Pentagram und beim New Yorker Magazin Print. 2010 fing sie bei Stefan Sagmeister an, der ihr bereits zwei Jahre später – da war sie gerade einmal 25 Jahre alt – eine Partnerschaft in seiner Agentur anbot. Bis 2019 war sie Partnerin bei Sagmeister & Walsh.

2015 gründete Walsh Ladies, Wine & Design, eine gemeinnützige Organisation, eine globale gemeinnützige Initiative mit Ortsgruppen in über 285 Städten weltweit. Ziel ist es, Frauen und nicht-binären Menschen zu fördern und zu vernetzen und so mehr Vielfalt in der Kreativbranche zu erreichen, insbesondere in Führungspositionen.


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