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Gestaltung für eine Zukunft, in der wir gerne leben möchten. So versteht Johanna Seelemann ihre Aufgabe als Designerin. Sie glaubt an das Objekt als Medium und an eine gründliche Recherche als Basis. Zu Besuch bei der 33-Jährigen in ihrem Studio in der Nähe von Leipzig.

Von Jasmin Jouhar

Johanna Seelemann | Foto: Robert Damisch

Ein regnerischer Frühsommertag, die Büsche und Bäume im Garten strahlen unwirklich grün. Dazu das satte Rot eines Rhododendrons in voller Blüte. Wenn Johanna Seelemann aus den Fenstern ihres Studios schaut, blickt sie in eine Idylle. Lediglich die Sirene der nahegelegenen Feuerwehr unterbricht kurz das Vogelgezwitscher. Hier, südlich von Leipzig, in einem Gartenhaus, still und abgeschieden, arbeitet sich die Gestalterin an drängenden Problemen unserer Zeit ab. Aussterbende Handwerkskünste, die Absurditäten des weltweiten Güterverkehrs, unser Zusammenleben mit Tieren und Pflanzen, die Zukunft der Landwirtschaft – das ist nur eine Auswahl der Themen, mit denen sich die 33-Jährige beschäftigt.

Gründliche Recherche und Verständnis des Kontexts als Basis, verführerisch-ästhetische Objekte und Videos als Ergebnis, das macht Seelemanns Designpraxis aus, was der gebürtigen Leipzigerin zuletzt viel Aufmerksamkeit eingebracht hat. Zum Salone del Mobile im April in Mailand etwa war sie mit der Einzelausstellung Micrographia präsent. Die beiden ausgestellten Projekte – Bewässerungsbehälter für notleidende Stadtbäume und Fassadenelemente, die Raum für Vögel und Insekten bieten – sind für urbanisierte Lebensräume gedacht und von der Idylle des Gartens gefühlt Welten entfernt.

Micrographia, Einzelausstellung von Johanna Seelemann

Zweite Heimat Island

Johanna Seelemanns zweiter Arbeitsort ist von ihrem Studio im Garten mindestens ebenso weit weg: Sie reist regelmäßig nach Island und unterrichtet an der Kunsthochschule in Reykjavík. Seit die Designerin 2015 dort einen Erasmus-Auslandsaufenthalt absolvierte, fühlt sie sich mit der Insel im Nordatlantik verbunden.

Der konzeptionelle und zugleich stark auf die lokalen Möglichkeiten fokussierte Designansatz gefiel ihr damals so gut, dass sie ganz nach Reykjavík wechselte und dort den Bachelorabschluss machte. Daran schloss sie ein Masterstudium an der Design Academy Eindhoven an. Island verfügt, im Gegensatz zu Deutschland, über wenig produzierende Industrie; viele Materialien und Produkte müssen aufwändig importiert werden. Für sie als Designerin eine wichtige Erfahrung: „Die ganze Gesellschaft muss, aus der Not heraus, sehr kreativ sein. Man fragt sich durch, man lässt sich helfen, man arbeitet viel mit Reststoffen.“

Lokale Produktion war ein Schwerpunkt des Studiums. In einem Projekt erkundete Seelemann mit Kommiliton*innen beispielsweise das Potenzial des Weidenbaums als Materiallieferant. Im Zuge der Wiederaufforstung der Insel waren Weiden als Pioniergehölze gepflanzt worden, um den Boden für andere Pflanzen vorzubereiten.

Porträt Johanna Seelemann | Foto: Julia Sang Nguyen

Mit Objekten kommunizieren

Manche Gestaltungsaufgaben liegen jedoch auch ganz nah: Als Teil der Gruppe „Erzgebirge-Kollektiv“ arbeitet Johanna Seelemann gemeinsam mit der Genossenschaft Dregeno Seiffen daran, die traditionelle Erzgebirgische Holzkunst neu zu positionieren – beispielsweise mit anderen Produkten jenseits des weltweit bekannten Weihnachtsschmucks. Auf diese Weise sollen den vom Aussterben bedrohten Handwerkskünsten neue Tätigkeitsfelder und Märkte eröffnet werden. Kleine Holzobjekte in ihrem Studio wie ein in der Technik des Spanbaumstechens gefertigter Holzbaum künden von der Zusammenarbeit. Deren erstes Ergebnis war im Mai in der Ausstellung „Wood Land“ in Schloss Hollenegg für Design in der Steiermark zu sehen: Gemeinsam mit Gestalterkollege Robert Damisch hat sie auf Basis der typischen Holzobjekte einen Kronleuchter entworfen, die Leuchterspinne. In für das Erzgebirgshandwerk ungewöhnlich kräftigen Rot- und Rosatönen gehalten, schwebte der Leuchter geradezu mystisch im historischen Ambiente des Schlosses und zog die Aufmerksamkeit der Besucher*innen auf sich.

Insofern ist die „Leuchterspinne“ ein typisches Projekt von Johanna Seelemann, die ihre Rolle als Designerin darin sieht, mit Objekten zu kommunizieren. „Kreativ denken kann jeder Mensch“, sagt sie. „Gestalter*innen haben die Fähigkeit, Themen so zu übersetzen, dass sie einfacher zugänglich sind.“ Es gehe darum, durch Objekte anderen einen emotionaleren Zugang zu eröffnen: „Ein Objekt ist für mich fast wie ein Beweismittel. Oder ein Vorschlag, den man anfassen kann“, erklärt sie ihre Faszination für die Dingwelt. Angesichts der ökologischen Krisen sich ganz von der Herstellung abzuwenden, kommt für sie nicht in Frage. „Wir produzieren ohnehin und es gibt viele faszinierende Handwerke und Industrien. Mich interessiert eher, wie wir anders produzieren können. Welche alternativen Produktionsmittel es gibt, welche Formen der Produktion sind gerechtfertigt?“

Leuchterspinne, Projekt von Johanna Seelemann mit dem Ergebirge-Kollektiv

Der Reiz der Materialien

Johanna Seelemann ist selbsterklärte Perfektionistin. Ihre Objekte, Videos und Präsentationen zeichnen sich durch eine starke Ästhetik und klare Bildsprache aus. Der Reiz von Materialien, von Texturen und Oberflächen spielt eine wichtige Rolle. „Ich mache so lange weiter, bis ein Projekt einen Punkt erreicht hat, an dem es mir ästhetisch sehr gut gefällt“, erzählt sie lachend. Ästhetik methodisch zu nutzen, als eine Art Köder, das hat sie während ihrer Arbeit für das Gestalterduo Formafantasma gelernt, wo Sie in verschiedenen Rollen an den Recherche- und Ausstellungsprojekten „Ore Streams“ und „Cambio“ beteiligt war. „Die Ästhetik ist die erste Schicht eines Projekts, um Interesse zu wecken“, sagt Seelemann. „Darunter liegen mehrere weitere Schichten, die Stück für Stück eröffnet werden, wenn du dich länger damit auseinandersetzt.“ 

„Erntekrone“, Entwurf von Johanna Seelemann zum Farm Project

Europäerin und Ostdeutsche

Doch bei aller Perfektion – ihr Studio ist aufgeräumt, die Objekte fast wie in einer Ausstellung präsentiert –, Johanna Seelemann schätzt die Arbeit mit anderen Gestalter*innen und Expert*innen aus anderen Disziplinen, wie im Erzgebirge-Projekt.

Sie ist auch beim Kollektiv Farm Project dabei, das Mitte Juli zum Designfestival „Salone di Aschau“ im Chiemgau neue Arbeiten produzieren wird. Raus aus der Stadt, aufs Land, in neuen Kontexten arbeiten, und dabei nicht vergessen, wo man herkommt: Nach mehreren längeren Auslandsaufenthalten fühlt sich Seelemann als Europäerin. Und, so fügt sie nach kurzem Zögern hinzu, manchmal auch als Ostdeutsche. Am allerletzten Tag des Bestehens der DDR geboren, fragt sie sich gelegentlich, ob in ihrer Art zu arbeiten nicht auch ein ostdeutsches Erbe steckt: „Reparatur und Anpassungsfähigkeit waren im Osten viel selbstverständlicher als in der Konsumkultur des Westens“, so Seelemann. Und damit schließt sich für sie auch der Kreis zur isländischen Kultur, die sie als Gestalterin beeinflusst hat.


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