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Er entwickelte Prinzipien für ein ethisches Gestalten unter Bedingungen der DDR: Nachruf auf den Industriedesigner Karl Clauss Dietel. Am 2. Januar verstarb er im Alter von 87 Jahren.

Von Thomas Wagner

Karl Clauss Dietel, Deutscher Formgestalter 1934–2022. Foto: Laszlo Farkas. Veröffentlicht von Wikimedia Commons. Distributed under a Attribution-Share Alike 3.0 Germany license.

Dinge des Gebrauchs zu gestalten ist eines. Unter den gegebenen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen eine Perspektive zu entwickeln, aus der dies geschieht und diese dann auch deutlich zu artikulieren, etwas anderes. Karl Clauss Dietel verstand sich auf beides: Er entwarf zahlreiche DDR-Produkte wie das Moped Simson S50, das Radio rk5 oder Schreibmaschinen der Marke Erika und schrieb so im Osten Deutschlands Designgeschichte. Und er formulierte und lehrte Prinzipien des Gestaltens, die geeignet sind, den Blick auf die gesellschaftliche Stellung des Designs aktuell zu weiten – weil sie aus einer anderen gesellschaftlichen Perspektive und unter anderen Produktions- und Konsumptionsbedingungen entstanden sind.

Dabei tauchten manche von Designer/innen der DDR gestalteten Produkte im Westen auf, als handelte es sich um Konterbande. Mit der „Erika“ zum Beispiel entwickelte Dietel eine leichte Schreibmaschine, die nicht nur in der DDR weit verbreitet war; sie wurde auch im Westen vom Versandhaus „Quelle“ angeboten – allerdings unter anderem Namen. Dass, trotz Materialmangel, frisches, zunächst an Westfirmen wie Braun orientiertes Design auch im Osten geschätzt wurde, zeigt das Heliradio rk5 sensit mit seinen Kugellautsprechern K20, die Dietel aus vorhandenen Rohlingen für Globen entwickelte. Auch ein umfassendes Corporate Design und ein neues Logo schufen Dietel und sein Kollege Rudolph für Heliradio, den Rundfunkgerätehersteller Gerätebau Hempel KG.

Zusammen mit Lutz Rudolph entwarf Dietel 1965/66 einen „Wartburg 353 C“ mit Steilheck. Der Wagen ging nicht in Serie, beeinflusste aber das Design der von Hans Fleischer verantworteten Serienversion des „Wartburg 353“ – gleichsam als Pendant zur Plattenbauweise der DDR-Architektur als Ensemble einzeln austauschbarer Teile. Und als die DDR in der Mitte der 1960er-Jahre  im Wettbewerb um den technischen Fortschritt noch mit dem Westen mithalten konnte, schuf Dietel im Bereich Investitionsgüterdesign für die Firma Robotron eine EDV-Anlage sowie einen Magnetbandspeicher für Carl Zeiss Jena. Als Vordenker für ein Design „am Puls der Zeit“ wurde Dietel denn auch 2014 für sein Lebenswerk mit dem Designpreis der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Über den Karosseriebau zum Design

Flach-Schreibmaschine Robotron Cella. Foto: Uwe Rohwedder. Veröff. von Wikimedia Commons. Distributed under a Attribution-ShareAlike 4.0 International (CC BY-SA 4.0) license.
HELIRADIO. Stereoempfänger rk5sensit und Kugellautsprecher LK20. Foto: Hartmut Schmidt. Veröff. von Wikimedia Commons. Distributed under a Attribution-Share Alike 3.0 Germany license.

Dietel wurde am 10. Oktober 1934 im sächischen Reinholdshain geboren. Da sein Vater als Inhaber eines Mietwagengeschäftes als Unternehmer galt, blieb dem Sohn das Gymnasium und damit auch der Traumberuf Architekt verwehrt. Also lernte er Maschinenschlosser und entschied sich für die neue Fachrichtung Karosseriebau an der Ingenieurschule für Kraftfahrzeugbau in Zwickau, der Heimatstadt von Horch und Audi. 1956 schrieb sich Dietel in Berlin-Weißensee für eine Zusatzausbildung in Formgestaltung ein. Die Grenze waren noch offen, also sog der junge Gestalter alles an Kunst, Architektur, Literatur und Musik ein, was er bekommen konnte. Nach dem Studium arbeitete er zwei Jahre in der Kraftfahrzeugbauentwicklung in Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz). 1962 wurde er Kandidat im Verband Bildender Künstler Deutschlands, um freiberuflich arbeiten zu können. Dietel wirkte auch als Lehrer. Von 1967-1975 unterrichtete er an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, ab 1977 an der Fachschule Angewandte Kunst Schneeberg, deren Direktor er von 1986 bis 1990 war.

Das Offene Prinzip

Dietel arbeitete nicht nur als Designer; er entwickelte auch eine eigene Gestaltungsphilosophie, in deren Mittelpunkt das „Offene Prinzip“ steht. Nach diesem soll ein gestalteter Entwurf offen sein für Pflege, Reparatur und, falls technische Neuerungen es nötig machen, den Austausch einzelner Komponenten. Nachvollziehbar wird das Prinzip, das an zahlreiche Vorbilder anknüpft, beispielsweise an dem Moped S 50 für den Hersteller Simson Suhl. Aufbauend auf den Grundentwurf von Clauss Dietel und Lutz Rudolph von 1967 folgten bis zum Ende der DDR rund 15 Generationen des Kleinkraftrades. Die weitgehend frei platzierten Elemente der modularen Bauweise konnten immer wieder verwendet werden, selbst wenn sie technisch erneuert wurden. Auch individuelle Varianten wurden auf diese Weise möglich. So entstanden in der Kombination mit modisch neutralen Formen langlebige und ökologische Objekte.

Die fünf großen L der Gestaltung

Anfang der 1980er-Jahre veröffentlichte Dietel unter dem Titel „Die fünf großen L“ seine Produktphilosophie, in die das Offene Prinzip ebenso eingeflossen ist wie Fragen der Langlebigkeit und des Gebrauchs. Für Dietel galt: „Langlebig“ sollten unsere Dinge sein:

„Menschliches weist über die Zeit eines Menschen hinaus. Nicht für den Tag und baldiges Wegwerfen, sondern für langes Nutzen sind die Sachen zu gestalten. Gebrauchspatina als ästhetischer Reiz des Nutzens und Brauchens muss dafür an den Produkten möglich sein. Nicht vor, sondern nach dem Nutzensende soll der moralische Verschleiß liegen. Die Alten fertigten und bauten Dinge, die mindestens drei Generationen nutzten. Heute wirft eine Generation sehr oft die Dinge mehr als dreimal weg. Dieses Prinzip ist durch Haltung zu überwinden. Sie setzt ein ‚offenes Prinzip der Gestaltung‘ voraus.“

Dietels Grundprinzip eines „lebendigen Funktionalismus“ wandte sich gegen „geschlossene, monofunktionelle und technizistische Praktiken“ und stellte im Sinne des Sozialismus eine „Ökonomie der Qualität und des Gebrauchs“ einer „Ökonomie des Profits“ entgegen.

Nicht nur langlebig, auch „leicht“ müssten „unsere Dinge werden, um es uns nicht so schwer zu machen“. „Lütt“ („klein“ oder auch neudeutsch „little“) sollte jede Sache im Raum sein, mache alles Dingliche, das seine Funktion bei kleinstem Volumen erreiche, doch den Menschen größer: „Es soll sich dienend verhalten, den Menschen wenig belasten – ihn freisetzen“. Ferner (L Nummer vier) „lebensfreundlich“ solle „die zweite Natur erwachsen, die der Mensch sich erschafft. Als „gesellschaftliches Wesen“, aber von „biologischer Natur“, kann er „bei dem Risiko seiner Existenz darauf nicht verzichten“. Entsprechend forderte Dietel – aus einem anderen Gesellschaftsmodell heraus und lange vor den Debatten um Nachhaltigkeit versus Greenwashing: „Fertigung, Verteilung und Nutzung der Dinge müssen deshalb durch ihre Gestaltung auf ökologische Verantwortung hin entwickelt werden. Alle biologischen Prozesse sollen nicht belastet, sondern gefördert werden“.

Die fünf großen L

• Langlebig
• Leicht
• Lütt (klein)
• Lebensfreundlich
• Leise

Und, last but not least, „leise möchten die Dinge um uns sich verhalten“, „förderlich dem Gespräch, dienend der Muse, dem Spiel und der schöpferischen Anstrengung – sie alle nicht störend“. Wenn Dietel hinzusetzte, Lärm sei „noch immer zu bekämpfen wie die Pest“ und die „Geräusche der Dinge“ harrten noch weitgehend der gestaltenden Ordnung“, um „sie verwandt zu machen der Sprache und der Musik“, so spricht auch daraus ein ganzheitliches und synästhetisches Verständnis von Gestaltung.

1992 hatte Dietel in einem Interview mit Elke Trappschuh angemerkt, die Erfahrungen der Ost-Designenden könnten auch im Westen von Interesse sein. Worauf Trappschuh geantwortet hat: „Wenn man die Möglichkeit hat, zwischen vielen bunten Puppen auszuwählen, ist die Poverté eigentlich immer das Letzte, was man freiwillig wählt.“ Jenseits der Frage, wie Entwürfe, die in einer Plan- und oft auch Mangelwirtschaft entstanden sind, auf einen an optische Anreize, rasch wechselnde Konsumgüter und aggressives Marketing gewöhnten westlichen Blick wirken, lässt sich an Dietels Ethik der Gestaltung eine Perspektive studieren, die vorschnell auf dem Müllhaufen der Geschichte landete und längst wieder an Aktualität gewonnen hat. Wie seine Familie mitteilte, ist Clauss Dietel am 2. Januar im Alter von 87 Jahren in Chemnitz gestorben.

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