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Unsere Städte werden dominiert von Gebäuden aus mineralischen Baumaterialien wie Beton und Stahl, deren Rohstoffe beim Abbau Ökosysteme gefährden und in der Produktion sehr CO2-intensiv sind. Strategien der Low Tech-Architektur hingegen bieten Lösungen, wie auf Klimawandel und Energiekrise reagiert werden kann.

Von Nicole Vesting.

Wer sich die Mühe macht, bei der größten Internet-Suchmaschine nach Bildern zum Begriff „Architektur“ zu suchen, erhält eine illustre Auswahl ikonischer Werke: Repräsentative Kulturbauten nach dekonstruktivistischer Machart eines Frank O. Gehry oder im parametrischen Design à la Zaha Hadid, die konstruktiv an die Grenzen des Machbaren gehen und die Schwerkraft aufzuheben scheinen, gigantische Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, die genauso in New York, Lagos, Frankfurt, Katar, Mumbai, Shanghai, Tokio oder Sao Paolo zu finden sind oder Luxusvillen an exotischen Orten mit großdimensioniertem Swimming Pool.

Das Ergebnis dieser Internet-Recherche ist aber freilich insofern eine einseitige und verzerrte Darstellung, als die Mehrheit aller architektonischen Gebilde für nahezu die gesamte Zeit menschlicher Existenz aus einfachen biobasierten, lokal verfügbaren und nachhaltigen Baustoffen wie Holz, Lehm oder Stroh errichtet ist. Schon immer wussten sich Menschen mit kreativen Lösungen gegen die Unbilden von Wind und Wetter zu schützen, indem sie ihre Architektur an die örtlichen Gegebenheiten anpassten. Erst die Moderne predigte einen Universalismus, der im (post-)kolonialen Kontext dazu führte, dass europäische und westliche Architekturideen weltweit Verbreitung fanden. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts gab es skeptische Stimmen, die den Avantgarde-Gedanken des Modernismus infrage stellten. Zu nennen sei hier nur Bernard Rudofsky mit seiner legendären Ausstellung „Architecture without Architects“ von 1964 im Museum of Modern Art in New York – also der Institution, die gut drei Jahrzehnte zuvor den „International Style“ geprägt hatte. Rudofsky legte den Fokus auf eine in Vergessenheit geratene vernakuläre Architektur, die nicht nur intelligente Lösungen für angenehme Raumklimata, sondern auch eine Palette an Beispielen für ein in dieser Zeit neu aufkommendes Phänomen bot: gemeint ist das ökologische Bauen.

Low Tech-Architektur – eine Chance in Zeiten des Klimawandels

Auch wenn in den letzten 50 Jahren eine Vielzahl spannender Architektinnen und Architekten ökologisch nachhaltige Bauweisen (wieder-)entdeckt haben – zum Mainstream sind sie bis heute nicht geworden. Unsere Städte werden dominiert von Gebäuden aus mineralischen Baumaterialien wie Beton und Stahl, deren Rohstoffe beim Abbau Ökosysteme gefährden und in der Produktion sehr CO2-intensiv sind, sowie mit aufwendiger Heiz-, Lüftungs- und Klimatechnik ausgestattet sind, die einen hohen Energiebedarf haben.

In Zeiten von Klimawandel und Umweltzerstörung in Kombination mit einer nun drohenden Energiekrise werden Low Tech-Strategien in der Architektur zunehmend aufgegriffen und weiterentwickelt. Grundsätzliche Prämissen: robustes Bauen mit einfachen, sortenrein rezyklierbaren Baustoffen sowie dem weitgehenden Verzicht auf aufwendige, und dadurch fehleranfällige, wartungs- und nicht zuletzt energieintensive Technik.

Das Vorarlberger Architekturbüro Baumschlager Eberle beispielweise experimentiert seit ungefähr eineinhalb Jahrzehnten mit dem Konzept „2226“. Erster Prototyp war das Bürogebäude 2226 Lustenau, in dem die Architekten nach der Fertigstellung 2013 auch ihre eigenen Räume bezogen haben. Der sechsstöckige Kubus besitzt keine Heizung oder Klimatechnik. Stattdessen wird die Temperatur im Innenraum allein durch die Architektur selbst stets im Wohlfühlbereich von 22 bis 26 Grad – daher der Name des Konzepts – gehalten. Dafür sorgen dicke, hochdichte Außenwände aus Ziegeln, die im Sommer die Hitze lange draußen halten und im Winter die von Menschen und elektrischen Geräten produzierte Wärme gut speichern. Im Sommer regelt eine smarte Sensorik, die abends selbständig die Fenster öffnet, sodass kühle Luft einströmen kann, zusätzlich die Temperatur.

Die Low Tech-Architektur des Bürogebäudes 2226 in Lustenau sorgt für Wohlfühl-Temperaturen im Innenraum.
Foto: Eduard Hueber, archphoto © Baumschlager Eberle Architekten
Im Sommer regelt eine smarte Sensorik, die abends selbständig die Fenster öffnet, zusätzlich die Temperatur.
Foto: Eduard Hueber, archphoto © Baumschlager Eberle Architekten

Auch Florian Nagler Architekten aus München propagieren eine neue Low Tech-Architektur. Die vielfach preisgekrönten Forschungshäuser in Bad Aibling sind drei gleichaussehende Wohngebäude – sie unterscheiden sich lediglich in der Wahl der Baumaterialien, nämlich Holz, Beton beziehungsweise Ziegel. Die Wohnungen kommen ebenfalls ohne Klimatechnik aus und besitzen lediglich simple Heizkörper und Fensterfalzlüfter. Für die jeweils dreistöckigen Gebäude mit Satteldach entschieden sich die Architekten für dreilagiges Brettsperrholz mit Luftkammern, unbewährter Dämmbeton mit Blähton und -Glas sowie Hochlochziegel.

Forschungshäuser in Bad Aibling, Florian Nagler Architekten
© Sebastian Schels

Formal unterscheiden sich die Gebäude lediglich in konstruktiven Details. So kamen als Fenster- und Türsturz beim Holz ein horizontaler Abschluss, beim Beton ein Halbkreis- und beim Ziegel ein Segmentbogen zum Einsatz. Die Konstruktion folgt damit der jedem Material inhärenten optimalen Kräfteverteilung. Idee bei den drei auf den ersten Blick identisch erscheinenden Gebäuden ist, vergleichbare Daten hinsichtlich verschiedener Innenraumparameter wie Temperatur, Luftfeuchte sowie Energieverbrauch zu generieren. In verschiedenen Zimmern verbaute Sensoren liefern unter Realbedingungen – sprich: während die Bewohnerinnen und Bewohner das Haus benutzen – zu allen Jahreszeiten und über mehrere Jahre handfeste Daten. Dass von der TU München, an der Florian Nagler am Lehrstuhl für Entwerfen und Konstruieren auch als Professor arbeitet, durchgeführte Projekt wertet die Informationen aus und will so die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Baustoffe quantifizierbar machen.

Auch die Innenräume sind in Bad Aibling energetisch optimiert. Dem finalen Entwurf vorangegangen waren Aberhunderte von Computersimulationen, die hinsichtlich Grundrissgeometrien, Raumhöhen und Fenstergrößen die idealen – also ressourcen- und energieschonendsten – Varianten berechneten. Interessanterweise vergleicht Nagler selbst die daraus entstandenen 18 Quadratmeter großen und mit drei Meter nach heutigem Maßstab ungewöhnlich hohen Räume mit dem klassischen Altbau. Der Rückgriff auf prämoderne Architekturformen ist hier aber nicht als nostalgische Traditionspflege misszuverstehen, sondern bezieht sich auf den Umgang mit Material und Konstruktion. Es sind also die Low Tech-Aspekte vorvergangener Tage, die in der Architektur wieder hochaktuell sind.

Genau darauf beziehen sich auch ZRS Architekten Ingenieure aus Berlin. Derzeit projektieren sind als ARGE mit Bruno Fioretti Marquez in Kooperation mit Stadt und Land-Wohnbauten-Gesellschaft in Alt-Britz am Südrand von Berlin ein mit Naglers Forschungshäusern durchaus vergleichbares Pilotprojekt. Für ihren nachhaltigen Geschosswohnungsbau werden zwei Zwillinge errichtet, hier jedoch einmal in Holz-Lehm- und einmal in Ziegel-Holz-Bauweise.

Die auf rautenförmigen Grundriss geplanten Häuser schließen an den Enden eines bestehenden U-förmigen Wohnbaus an. Die Nachverdichtung will so den Stadtraum klarer definieren. Die seit Jahrhunderten verwendeten klimaaktiven Baustoffe Lehm, Ziegel und Lehm besitzen hervorragende Eigenschaften hinsichtlich der Regulierung der Innentemperaturen. Sie sollen auch in Alt-Britz Klima- und Lüftungstechnik überflüssig machen und den Einsatz von Gebäudetechnik generell möglichst reduzieren. Das Anfang 2021 gestartete Projekt wird durch die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz gefördert und soll Mitte 2024 fertig gestellt werden. Das gemeinsam von der TU Berlin, der Universität Stuttgart und der TU Braunschweig begleitete Forschungsprojekt soll schließlich weitere Erkenntnisse für die Etablierung von klima- und kreislaufgerechten Bauen im großen Maßstab liefern.

Nachhaltiger Geschossbau in Holz-Lehm- und Ziegel-Holz-Bauweise von ZRS Architekten Ingenieure aus Berlin
© Bruno Fioretti Marquez GmbH in Arbeitsgemeinschaft mit ZRS Architekten 

Die drei Projekte beweisen beispielhaft, dass Low Tech-Architektur keinesfalls mit einer Minderung des Lebens- und Qualitätsstandards einhergeht. Im Gegenteil sorgen sie mit einfachen Mitteln und natürlichen Baustoffen für sehr gesundes Raumklima. Die Ausnutzung von nahezu wartungsfreien Techniken erhöht außerdem das Wohlbefinden im alltäglichen Leben. Gerade auf eine längere Sicht hin gerechnet ist Low Tech nicht nur ressourcenschonender, sondern sogar kostengünstiger. So bleibt die Hoffnung, dass immer mehr Architekt/innen, Bauherr/innen und Investor/innen diese Ideen aufgreifen und umsetzen.


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