Ein streitbarer Tausendsassa war er schon: Am 15. Dezember wäre der Typograph, Grafiker, Berater, Schriftgelehrte, Essayist, Redner und Hochschullehrer Kurt Weidemann 100 Jahre alt geworden.
Von Thomas Wagner
Kurt Weidemann (1922 bis 2011) wäre am 15. Dezember 100 Jahre alt geworden. An ihn zu erinnern, ist kein leichtes Unterfangen. Da der Mensch nicht mehr unter uns weilt, kann man den Akzent nur am Rande auf seine Persönlichkeit mit ihrem zuweilen etwas schroffen Charme legen. Bleibt, was man leichtfertig „sein Werk“ nennt, also alles das, was Kurt Weidemann in, mit und um die Typographie gestaltet hat, samt seinen vielen anderen Tätigkeiten. Ihn deshalb als Typograf und Grafiker zu bezeichnen, erfasst aber auch nur einen Teil der Wahrheit. Was Kurt Weidemann rund um Zeichen, Schrift und Typographie geleistet hat, lässt sich gerade nicht unabhängig von seinem Temperament, der Vielfalt seiner Tätigkeiten und der Spannweite seiner Äußerungen verstehen. Wäre der Begriff nicht als lebensfern entwertet, man könnte ihn einen Schriftgelehrten nennen. Wobei dann immer noch unerwähnt bliebe, wie virtuos er auch die gesprochene Sprache als Kommunikationsmedium einzusetzen verstand. Ihn der weitgespannten Rubrik Visuelle Kommunikation zuzuschlagen, führt nur dann weiter, wenn man „visuell“ und „Kommunikation“ sowohl zusammen, als auch jeweils für sich betrachtet. Kurt Weidemann hat zum Beispiel, einer seiner Buchtitel belegt es, „Worte – auf die Waage gelegt – auf die Schippe genommen“. Sprich, sie so genau abgewogen wie einer, der die Sprache liebt und beherrscht, sie handzuhaben weiß wie ein Schriftsteller. Kurzum: Kurt Weidemann passt in keine Schublade. Es müssen, wenn überhaupt, deren viele sein. Weshalb gilt: Will man ihn charakterisieren, muss man ihn zumindest ausführlich zitieren.
Kurt Weidemann liebte das Buchstabengewimmel
Seinen Überlegungen über Worte vorangestellt hat der geschichtsbewusste Literaturkenner Kurt Weidemann (ob Heine, Goethe, Schwitters oder Konfuzius, er kennt und zitiert sie alle) nicht zufällig ein Gedicht des gerade verstorbenen Hans Magnus Enzensberger mit dem Titel „Altes Medium“. Es beginnt mit den Worten: „Was Sie vor Augen haben, / meine Damen und Herren, / dieses Gewimmel, / das sind Buchstaben. / Entschuldigen Sie. / Entschuldigen Sie. / Schwer zu entziffern, / ich weiß, ich weiß. / Eine Zumutung. / Sie hätten es lieber audiovisuell, / digital und in Farbe.“ Ja, audiovisuell, digital und in Farbe hätten den Zugang zur Welt heute viele gern. Weidemann aber hielt sich, keineswegs aus Ignoranz gegenüber Neuerungen, bewusst an das einfache Handwerkszeug. Wir werden später darauf zurückkommen.
Die DB und die Busenbogen
Was die Unternehmen angeht, für die Kurt Weidemann tätig wurde, so waren es viele und nicht eben die kleinsten. Die Liste ist so lang wie illuster. Sie reicht von Verlagen wie Klett, Ullstein, Propyläen und Siedler bis zur Deutschen Bundespost, von Konzernen wie Shell, Mercedes-Benz (wo er mehrere Dutzend bis dahin verwendeten Schriften durch seine Schriftfamilie „Corporate A.S.E.“ ersetzte), Deutsche Bank, Bankgesellschaft Berlin, Merck, Porsche (hier machte er das Wappen klar und den Namenszug unverwechselbar) und Zeiss. 1993 beauftragte ihn die Deutsche Bahn AG damit, ihr von der westdeutschen Bundesbahn übernommenes Logo zu überarbeiten. Weidemanns Lösung: Er setzte die Buchstaben „DB“ nun positiv Rot auf Weiß, was die Prägnanz erhöhte und der Bahn zudem viel Geld für Siebdruckfarbe sparte. (Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete unter den Titel „Zu viele Busenbogen“ über den damals zwischen Kurt Weidemann und dem Kollegen Erik Spiekermann entbrannten Streit über die Qualität des neuen Logos. „Wie die Kesselflicker“ stritten sich die beiden international bekannten Schrift-Gestalter.)
Lauter Chefsachen
Wie auch immer man das aus der Distanz bewerten mag, wenn es um das Erscheinungsbild eines – womöglich weltweit agierenden – Konzerns ging, waren für Weidemann naturgemäß die Chefs gefragt. Dass Hierarchien und Machtverhältnisse dabei eine Rolle spielen, war ihm bewusst. Also sprach er mit Edzard Reuter, Heinz Dürr, Wolf Jobst Siedler, Heinrich Klotz und Lothar Späth. Als Kommunikator war er, wie man heute sagt, derart gut vernetzt, dass sich sogar Landesfürsten von ihm zum Frühstücksgespräch einladen ließen. Mit Alfred Herrhausen, dem 1989 bei einem Bombenattentat getöteten Vorstandsprecher der Deutschen Bank, war er nicht nur befreundet; er hat auch dessen Schriften herausgegeben. Natürlich hat Weidemann auch neue Schriften entwickelt – wie die „Biblica“ (später ITC Weidemann) und die „Corporate“. „Zehn Gebote zur Typographie“ hat er ebenfalls aufgestellt, was bei seinem Selbstbewusstsein kaum überraschen kann. Er hat er auch vieles gestaltet, ohne dass sein Name erwähnt wäre.
Hinter dem Produkt verschwinden
Gestalten zu können, war Weidemanns Elixier. Dabei bestand er darauf, wie Uta Brandes es formuliert, das „Individuum möge etwas so Gelungenes kreieren, dass es hinter seinem Produkt verschwindet (und sich dieses leisten kann, so wäre hinzuzufügen)“. Ob es um die Ullstein-Ausgabe von Hegels „Phänomenologie des Geistes“, um die blau-blau-weißen Thieme-Bände zu medizinischen Themen oder einen Geschäftsbericht der Daimler-Benz AG geht, an Eigensinn und Prägnanz hat es seinen Entwürfen nie gemangelt. Seine Ambitionen galten dabei stets der Lesbarkeit. Wer liest, soll Sinn und Bedeutung des Textes erfassen, nicht durch Extravaganzen des Grafikers daran gehindert werden. Das zu erreichen, blieb harte Arbeit, die man dem Ergebnis nicht ansehen sollte. In dem Band „Worte und Werte“, in dem Kurt Weidemann besonders prägnante Sprüche und Sentenzen aus seinen Reden und Texten wie Aphorismen zusammengestellt hat, heißt es: „Schrift zum Lesen vor die Augen der Menschen zu bringen ist eine Dienstleistung. Je ruhiger, einfacher und unaufdringlicher das gemacht wird, desto besser ist es.“
An ihrer Sprache die Zeit studieren
Dass Weidemann so vieles mehr als ein Schriftsetzer war, bestätigen auch seine zahlreichen Reden und Essays. Angesichts fortschreitender Spezialisierung im Design zielte er auf das Ganze. An der Sprache, so Kurt Weidemann, könnten wir unsere Zeit studieren und uns selbst kontrollieren. Entsprechend wusste er etwa zum werbenden Dampfplaudern und zur Gier nach Originalität zu sagen: „Nachdenken, bevor man nichts sagt, ist gelegentlich der bessere Weg.“ Und als Empfehlung: „Bevor man fragt, was ankommt, sollte man wissen, worauf es ankommt.“ An anderer Stelle macht Weidemann deutlich: „Wer sich nicht klar mitteilen kann, kann auch nicht klar denken.“ Was solche Nachdenklichkeit für das Design bedeutet, fasste er ebenso leichthändig wie treffend zusammen: „Design ist heute – und wird es zukünftig noch mehr sein – ein Designdenken: Es erfasst die Visualisierung oder visuelle Übersetzung unsichtbarer Vorgänge, die Verknüpfung bisher unverknüpfter Funktionen und Tätigkeiten, die Umsetzung von Ungewissheiten in Verstehbares, in Einsichtiges.“ Weidemann war nicht nur Kommunikator, Berater, Redner, Essayist und Schriftgelehrter, er lehrte auch, nicht weniger intensiv wie er alles andere betrieb. Dabei nahm er sich, was er selber schrieb, zu Herzen: „Die Relativität unserer Urteilskraft wird von Vorteilen geleitet. Aus Vorteilen können Vorurteile werden. Die haben meist einen festeren Stand als der Standpunktwechsel in der Urteilsfähigkeit.“ Ergo: Da man ihn nicht mehr lebendig erleben kann, lese man nach, was er gesagt und geschrieben hat.
Aküfi und Zeichen-Setzung
Kurt Weidemann hielt die Muttersprache für „die wirkliche Heimat des Menschen“. So gut er kommunizieren konnte, so klar war er sich der Großartigkeit des Schweigens bewusst. Genüsslich geißelte er den „Aküfi, den Abkürzungsfimmel. Im heutigen Verstümmelungswahn verliere die Sprache ihr Leben, der Satz seinen Klang und seine Melodie. („Die Esüdro (Einkaufsgenossenschaft süddeutscher Drogisten) kaufte einst für den Südrofa (Süddeutschen Drogeriefachverband) ein. Solche Lautverbindungen muss man auf der Zunge zergehen lassen. Da ist man endgültig bei den Lall-Lauten von Donald Duck angelangt und sollte konsequenterweise den Firmensitz nach Disneyland verlegen, um sich dort heimisch zu fühlen.“) Zur Zeichen-Setzung bei der Textgestaltung wusste er natürlich auch etwas zu sagen. So führte er an dem Satz „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ vor, wie in der Satzgestaltung mit einem Gedankenstrich oder einem Punkt „einer unabdingbaren Gegebenheit“ Bedeutung verliehen werden kann. Über Kurt Weidemann gäbe es noch vieles zu sagen. Wir halten uns lieber an den Dichter. Enzensbergers Gedicht geht so weiter:
„Aber wem es wirklich ernst ist / mit virtual reality, / sagen wir mal: / Füllest wieder Busch und Tal, / oder: Einsamer nie / als im August, oder auch:/ Die Nacht schwingt ihre Fahn, / der kommt mit wenig aus. // Sechsundzwanzig / dieser schwarz-weißen Tänzer, / ganz ohne Graphik-Display / und CD-ROM, / als Hardware ein Bleistiftstummel / das ist alles.“ Weidemann hielt sich daran. Der Bleistiftstummel funktionierte auf jedem Fetzen Papier, ganz ohne Strom und Internetzugang. Der Dichter beschließt seine Zeilen derweil: „Entschuldigen Sie. / Entschuldigen Sie bitte. / Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. / Aber Sie wissen ja, wie das ist: / Manche verlernen es nie.“
Kurt 100
Zum 100. Geburtstag lädt das Stadtpalais Stuttgart am 15. Dezember zu einem Abend mit Gesprächspanel und der Studierenden-Ausstellung „Kurt 100“ ein. An den Gespräch teilnehmen werden u.a. Petra Kiedaisch mit Jan-Peter Tripp und Heike Schiller, OA Krimmel mit Jochen Rädeker und Olaf Leu sowie Markus Merz mit Dietmar Henneka und Tassilo von Grolman. Weitere Informationen unter www.stadtpalais-stuttgart.de.
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