Seine Entwürfe sind originell, oft extravagant, manchmal extrem. Die opulente Werkschau „Works 84 – 24“ über Marc Newsons Schaffen der letzten 40 Jahre zeigt, warum der Australier so berühmt ist und was Industriedesign auf höchstem Niveau bedeutet.
Rezension von Thomas Wagner

Sessel, Liege, Restaurant, Bar, Flugzeug und Raumschiff, Boot und Megayacht, Uhr, Trinkglas, Jacke und Schuh, Badewanne und Armatur, Brille, Wasserkocher, Kamera und Fernglas, Füllfederhalter und vieles mehr – es gibt kaum eine Designaufgabe, die Marc Newson in den letzten 40 Jahren nicht auf eine besondere Weise gelöst hat, sei es als Massenprodukt, als Unikat oder in limitierter Auflage. Seit Newson in den 1980er Jahre begann, mit Aluminiumblech und biomorphen Formen zu experimentieren, hat er das Industriedesign wie im Sturm erobert. Mit „Marc Newson. Works 84 – 24“ hat der Taschen Verlag nun ein exzellentes Werkverzeichnis vorgelegt, das jeden, der an Designprozessen interessiert ist, in Staunen versetzt. Was hier geboten wird, ist nicht einfach ein Überblick über 40 Schaffensjahre, sondern ein opulent bebildertes und instruktives Panorama von Entwürfen, die ihresgleichen suchen.
Marc Newson, daran besteht kein Zweifel, hat mit seinen oft bahnbrechenden Entwürfen die Sicht auf bestimmte Dinge verändert und mit seiner Vielseitigkeit und vor allem mit seinem Willen zur Präzision das Industriedesign auf ein neues Niveau gehoben – vergleichbar nur mit Größen wie Raymond Loewy oder den Eames. Newson, auch darin eine Ausnahmeerscheinung, wird als einziger Industriedesigner von Gagosian und außerdem von der Galerie kreo vertreten. Führende Museen auf der ganzen Welt haben ihm Retrospektiven gewidmet und seine Projekte werden weltweit in den ständigen Sammlungen von mehr als 40 Institutionen gezeigt.



Abbildungen aus dem Buch „Marc Newson. Works 84-24“, Taschen Verlag, Köln 2024
Die Dinge sprechen für sich
Werkverzeichnisse gelten gemeinhin als Fleißaufgabe. Dass sie keineswegs bürokratisch, sondern enorm inspirierend sein können, zeigt der Band „Marc Newson. Works 84 – 24“. Hier wird nichts verkündet (schon gar keine bessere Welt). Hier werden auch keine halbgaren Ideen für die Tat genommen. Hier sprechen originelle und konsequent gestaltete Dinge für sich – und die Disziplin Industriedesign. Wer nach der Lektüre des Bandes immer noch glaubt, die Zukunft des Gestaltens beschränke sich auf Black-Boxes mit Bildschirm (oder seltsamer Brillen) und entsprechender Software, um in eine von Programmierer*innen entworfene kitschige Konsumwelt zu entfliehen, der irrt oder glaubt an Märchenonkel aus dem Silicon Valley. Selbst wer den Band nur durchblättert, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Nicht nur über der Fülle und Spannbreite von Newsons Schaffen, sondern vor allem über die verblüffende Originalität, mit der er immer wieder vermeintlich ausgereizte Designaufgaben zu lösen vermochte.
Angereichert mit Zitaten des Designers
Im Stil einer Enzyklopädie werden Newsons Arbeiten chronologisch und nach Kategorien geordnet: Objekte, Möbel, Interieur, Transport sowie Schmuck und Uhren. Skizzen, Zeichnungen und Fotografien stellen die Entwürfe vor, mit Zitaten des Designers angereicherte Beschreibungen erläutern den Entstehungsprozess. Abgerundet wird das Panorama durch einen visuellen Index von Newsons Gesamtwerk, eine Chronologie seines Lebens, eine Bibliographie und Ausstellungsgeschichte. Alison Castle, die mit Marc Newson befreundet ist und den Band herausgegeben hat, schreibt in ihrem Vorwort: „Marc Newson muss nicht vorgestellt werden, und dementsprechend geht es in diesem Buch ohne weitere Vorbemerkungen direkt ans Eingemachte.“



Lernen, wie man Dinge herstellt
Es war wohl kein Zufall, dass Marc Newson, geboren am 20. Oktober 1963 in Sydney, von 1982 bis 1984 Schmuckdesign und Bildhauerei am Sydney College of the Arts studierte. Er wollte lernen, „wie man Dinge herstellt“. Seine ersten Stücke, eine Serie von Armbändern, waren, wie es heißt, das Ergebnis seiner Liebesaffäre mit der Myford Super 7-Drehmaschine“. Die Armbänder wurden aus Aluminium gefertigt, das zu Newsons bevorzugtem Material werden sollte. Im dritten Studienjahr beginnt er die Arbeit an der Recamière „LC1“, so etwas wie dem Prototyp der „Lockheed Lounge“, die zwei Jahre später seinen legendären Ruf als Industriedesigner begründete. Als er sechs Stühle für eine Ausstellung mit dem Titel „Seating for Six“ (Sitzen für sechs) anfertigen soll, stellt er sie sich als eine geschwungene organische Form vor, die an einen Quecksilberfleck erinnert. Nach erfolglosen Versuchen mit einem Metallskelett greift er auf Techniken zurück, die für die Herstellung von Surfbrettern verwendet werden. Indem er die Form aus Schaumstoff herstellt und mit Glasfasern aushärtet, erhält er einen selbsttragenden, stabilen Kern, auf den er die Metalloberfläche auftragen kann. Statt für Klebstoff entscheidet sich Newson für die „ehrlichere“ Technik sichtbaren Nietens, die dem Objekt einen handwerklichen Touch gab, den Newson bevorzugte. Stück für Stück hämmert er jedes Blech auf einem Lederbeutel zurecht (eine typische Silberschmiedetechnik), passt es an, schneidet, feilt, bohrt und nietet es auf die Form. Auf diese Weise entsteht ein „sehr retro Flugzeug-Look, wie eine alte DC3“. Das Stück sollte von Anfang an aerodynamisch aussehen , und „die Nieten haben es in einem viel größeren Maße aufschreien lassen, als ich es mir je vorgestellt hatte“. Entfernt erinnert die LC1 an die Chaiselongue, auf der Madame Récamier auf dem Porträt von Jacques-Louis David aus dem Jahr 1800 ruht.
Technisch überformte Körpersilhouette
Einen ähnlichen Bezug zum Neoklassizismus (Newson spricht von der „Anmaßung der Kunstschule“), weist auch der im folgenden Jahr entstandene „Pod of Drawers“ auf. Der an eine Körpersilhouette erinnernde Schubladenkasten (der, wie man in dem Band erfährt, offen die Form von André Groults mit Haifischhaut überzogenen „Chiffonnier Anthropomorphe“ von 1925 kopiert) und der „Charlotte Chair“ fungieren als experimentelle Gelenkstellen auf dem Weg zu Newsons hybrider Designsprache, die Historie und Hochtechnologie auf einzigartige Weise miteinander verschmelzen lässt. Dabei ist sein Ansatz technisch, ästhetisch und historisch eine Art Komposit – wie seine Recamière.
![LOCKHEED LOUNGE, 1988 POD/MARC NEWSON EDITION, Riveted aluminum, GRP, rubberized paint (edition of 10 + 4 artist’s proofs [black feet] + 1 prototype [white feet]) © Marc Newson](https://ndion.de/wp-content/uploads/2024/04/024A_NEWSON_ART_2ND_ED_CE_86910-Large-jpeg.webp)
Die legendäre Lockheed Lounge
Aus dem Wunsch, ein weiteres Objekt nach demselben Verfahren herzustellen, entstand die legendäre „Lockheed Lounge“. Newson wollte zwei Probleme lösen: „Erstens fühlte sich die LC1, zu derivativ und postmodern‘ an, und zweitens war die Form nicht so mehrdeutig oder fließend, wie er es beabsichtigt hatte.“ Auch war die Lockheed Lounge nicht als Einzelobjekt gedacht, sondern sollte in einer Auflage von mehreren Exemplaren hergestellt werden. Das erste Exemplar wurde nicht sofort verkauft, fand in der Presse aber breite Aufmerksamkeit. In den folgenden Jahren wuchs die Popularität der Lockheed Lounge, bis sie zu einer Ikone wurde, die, wie es heißt, „rückblickend eng mit dem Paradigmenwechsel verbunden ist, der sich Ende der 1980er Jahre mit dem Aufkommen des Phänomens Designkunst vollzog. (2006 erzielte sie den höchsten Preis, der jemals für ein Werk eines lebenden Designers gezahlt wurde; 2015 brach sie mit einem Preis von 3,7 Millionen US-Dollar ihren eigenen Rekord.)
Der „Embryo Chair“ von Newson ist stark vom Surfen inspiriert und vereint spritzgegossenen Polyurethanschaum, bunte Neoprenbeschichtung sowie einen inneren Stahlrahmen. Dies führt zu der charakteristischen Mischung aus organischen Formen, warmen Materialien und Hightech-Elementen, wie etwa den durchlaufenden Stahlbeinen des Stuhls. „Einige Eigenschaften dieses Stuhls“, so Newson, „legten die DNA für vieles fest, was ich danach machen sollte. Es ist wahrscheinlich eines der Dinge mit dem größten Wiedererkennungswert, die ich gemacht habe, und eines der ersten in ästhetischer Hinsicht wirklich gut gelösten Stücke.“


Dinge, in denen sich der Zeitgeist wiederfindet
Was Newson von den späten 1980er Jahren bis in die Gegenwart realisiert hat, war nicht nur originell, oft sogar extravagant; es war auch Pop. Aber eben nicht allein. Stets vermählte sich die freche, bunte Warenästhetik des Pop mit den metallisch kühlen Oberflächen einer Maschinentechnologie. Verschiebt man den Fokus etwas, könnte man auch sagen, Newson mische und verbinde in seiner Formensprache immer wieder organoide skulpturale und technoide Elemente auf eine neuartige Weise mit historischen Reminiszenzen. Wobei es ihm, ohne eklektizistisch zu werden, immer wieder gelang, innovative Lösungen zu finden und Dinge zu entwerfen, in denen sich der Zeitgeist wiederfindet – ob es um die Interieurs von Restaurants geht, um eine First Class Lounges für die australische Fluggesellschaft „Qantas“, um das legendäre „021C Concept Car“ für Ford („Ein Auto, das es wagt, völlig neu darüber nachzudenken, wie das Design eines Autos die Erfahrung des Benutzers verbessern kann.“) oder um den so bizarren wie faszinierenden Entwurf des Konzeptflugzeugs „Kelvin 40“ für die Fondation Cartier. Bis hin zu den Megayachten „Solaris“ und „Nausicaä“ bewegen sich Newsons Entwürfe jenseits der üblichen Norm.
Es gäbe sich noch viele weitere Projekte zu entdecken. Fest steht: Dieser Band ist nicht nur ästhetisch ein Leckerbissen für jede Designerin und jeden Designer, sondern vor allem eine riesige Inspirationsquelle. Auf jeder Seite und bei jedem instruktiv beschriebenen Objekt wird deutlich, was Newson umgetrieben hat, wie er vorgegangen ist, was ihn gereizt hat – und welche Schwierigkeiten auftraten. Kurz: Bei Newson lässt sich unendlich viel lernen über Design, die Kraft von Ideen, die endlosen Mühen der Realisierung und das Glück des Gelingens.

Marc Newson. Works 84-24
Köln, Taschen Verlag, 2024
496 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Ausgabe: Englisch
ISBN 978-3-8365-7101-2
150,00 Euro
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