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Der Ingenieur Curt Fischer war Pionier der Entwicklung beweglicher Arbeitsleuchten mit lenkbarem Licht. 1923 begann er mit der Produktion seiner Leuchten, für die er zuvor die Marke Midgard ins Leben rief. Im Jahr 2015 übernahmen David Einsiedler und Joke Rasch das traditionsreiche Unternehmen, restrukturierten und verlegten es nach Hamburg. Unter ihrer Leitung entstehen Neuauflagen bedeutender Leuchten, die mit Originalwerkzeugen hergestellt werden, sowie aktuelle Neuentwicklungen wie die Ayno, die den Pioniercharakter der Marke in die Gegenwart weiterführen. Die Zusammenarbeit mit Designer Stefan Diez hat dazu beigetragen, dass sich Midgard vom traditionellen Ingenieursunternehmen zu einer wegweisenden zeitgenössischen Marke entwickeln konnte.

Von Heike Edelmann

Elektrisches Licht, das sich präzise ausrichten lässt, um Arbeitsplätze in Werkhallen schattenfrei zu beleuchten, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wegweisende Innovation. Bereits 1919 erhielt der Ingenieur Curt Fischer für seine erste bewegliche Leuchte ein Patent. Sie sollte zunächst die Arbeit in seinem Unternehmen erleichtern. Industriewerk Auma Ronneberger & Fischer war zu diesem Zeitpunkt ein Zulieferer der thüringischen Porzellanindustrie. Damals üblich waren herabhängende Industrieleuchten, mit der Folge, dass Arbeiter bei ihrer Tätigkeit selbst Schatten auf das Werkstück warfen, das sie bearbeiteten. Fischer erkannte das Problem und nutzte seinen außergewöhnlichen Einfallsreichtum, um eine völlig neue Lösung zu konstruieren – die ersten Leuchten mit lenkbarem Licht. Zunächst fertigte er sie für den eigenen Bedarf, doch auch andere Unternehmen interessierten sich für seine Erfindung und wollten die innovativen Leuchten nutzen. So ließ Curt Fischer 1922 das Warenzeichen Midgard eintragen und begann im Jahr darauf – nach der Hyperinflation – damit, seine mit nur einer Hand einstellbaren Lichtquellen in Serien zu fertigen. Aus dem Kontext der Werkhalle wanderten die Midgard-Leuchten rasch auch ins Büro und in Wohnräume. Fischer erweiterte das Portfolio kontinuierlich, beispielsweise um das Leuchtensystem Midgard modular. Darüber hinaus perfektionierte er Gelenke und Schirme seiner Leuchten, für viele seiner Neuerungen erhielt er Patente.

Am Bauhaus schätzte man Midgard-Leuchten

Die neuartigen, gut gestalteten Lichtquellen sorgten auch für Aufsehen in der Architektur- und Designszene der 1920er Jahre. Fischer korrespondierte mit Walter Gropius und belieferte das Bauhaus in Dessau. In der Stuttgarter Werkbundsiedlung 1927 waren seine Leuchten ebenso vertreten wie auf der Berliner Bauausstellung 1931. Midgard-Leuchten wurden unter anderem in Ateliers oder Wohnungen der Bauhaus-Direktoren Walter Gropius, Hannes Meyer sowie Ludwig Mies van der Rohe genutzt. Bauhausmeister wie Lyonel Feininger, Marcel Breuer und Gunta Stölzl schätzten sie in ihrem Umfeld ebenso wie Wilhelm Wagenfeld und Marianne Brandt, die selbst bedeutende Leuchten entwarfen. Auch viele andere avantgardistisch orientierte Kreative aus Architektur, Typografie, Film und Tanz begeisterten sich bereits in den 1920er-Jahren für Leuchten der Marke Midgard.

Midgard-Leuchten aus dem Jahr 1933
Handgezeichnete Modellübersicht verschiedener Midgard-Leuchten aus dem Jahr 1933 © Midgard

Ursache dafür dürfte die besondere Effizienz und Präzision der Leuchte Typ 113 gewesen sein, in Kombination mit einem elegant geschwungenen Stahlrohr, wie es bei damals neuen Möbeln zunehmend Verwendung fand. Auch manche Entwürfe aus dem Bauhaus Dessau stellte sie buchstäblich in den Schatten.

Midgard als Exportartikel der DDR

Zu DDR-Zeiten beteiligte sich der Staat ab 1963 am Industriewerk Auma, 1972 wurde das Unternehmen komplett enteignet und ins Volkseigentum überführt. Fischers Konstruktionen wurden weiterhin verwendet, die Leuchten aber mit minderwertigeren Materialien hergestellt. Nach dem Tod Curt Fischers 1956 hatte sein Sohn Wolfgang Fischer die Leitung der Firma übernommen, auch nach der Enteignung blieb er Betriebsleiter. Den Patent- und Markenschutz erneuerte er auf eigene Kosten. Bereits in den frühen 1950er-Jahren regte er seinen Vater an, sich mit dem Federzugprinzip zu beschäftigen. Das Ergebnis war die Federzugleuchte, ein Exportartikel der DDR, deren Material- und Verarbeitungsqualität sich im Laufe der Jahre stetig verschlechterte. Sie wurde weit unter den Herstellungskosten in westeuropäische Länder verkauft, Hauptabnehmer war der schwedische Ikea-Konzern. 1990 wurde der Familie die Firma rückübertragen. Zwar konnte Wolfgang Fischer schnell wieder die Geschicke seines Unternehmens leiten, aber die Marktsituation nach der Wiedervereinigung war unübersichtlich. Leuchtenhersteller standen mit Umstellung auf LED-Leuchtmitteln vor zusätzlichen Herausforderungen. War nun die Halbleitertechnik wichtiger als die mechanische Konstruktion einer Leuchte? Darauf galt es überzeugende Antworten zu finden. Der Ruhm der Marke Midgard war nach der Wende im Westen Deutschlands wie im Ausland verblasst, nur wenigen Kennern war sie noch präsent. Auch engagierte und mutige Neubelebungsversuche einer Tochter Wolfgang Fischers konnten daran nichts ändern.

Neustart der Markenprodukte in Hamburg

Um diese Zeit erweiterte David Einsiedler seine Sammlung historischer Arbeitsleuchten. Dabei wurde er durch Zufall auf alte Midgard-Leuchten aufmerksam, deren Qualität und Konstruktion ihn begeisterten. Er trat in Kontakt mit der dritten Generation der Familie Fischer und übernahm 2015 gemeinsam mit seiner Frau Joke Rasch den Traditionsbetrieb aus Thüringen. Beide waren von der Idee, sich mit der Produktion von Midgard-Leuchten selbständig zu machen so überzeugt, dass sie ihre festen Jobs aufgaben. David Einsiedler und Joke Rasch restrukturierten das Unternehmen, heute produzieren sie historische Entwürfe von Curt Fischer auf Originalwerkzeugen. Auch legen sie Reeditionen von Curt Fischers Gelenkleuchten in Hamburg auf, viele traditionelle Zulieferer sind daran beteiligt.

Originalwerkzeuge für die Herstellung

2017 legte Midgard Curt Fischers Maschinenleuchte neu auf, ein modulares und frei konfigurierbares System. Auch die Federzugleuchte wird unter Verwendung von Originalwerkzeugen nun wieder hergestellt. 2019 erschien die am Bauhaus verwendete Leuchte Typ 113 als limitierte Reedition unter Verwendung von Originaltechniken und -Materialien und nach der einst von Kandem gefertigten Pendelleuchte K831 kam Ende des Jahres 2022 die Schwenkleuchte K830 wall neu auf den Markt, die 1931 von dem Designer Werner Glasenapp entworfen wurde. Alle diese Neuauflagen bedeutender historischer Leuchten entsprechen heutigen Ansprüchen an Funktion, Design und Lichttechnik.

Midgard-Leuchte Typ 113
Historische Aufnahme der Midgard-Leuchte Typ 113 in einer von Marcel Breuer gestalteten Wohnung eines Gebäudes der Stuttgarter Weißenhof-Siedlung von Mart Stam © Midgard
Reedition Typ 113 Midgard
Aktuelle Reedition der Leuchte Typ 113 von Midgard © Midgard

Nachhaltig und innovativ – die ikonische Ayno

Unter der Leitung von Einsiedler und Rasch entstehen auch innovative neue Leuchten wie die mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Design als „Vorreiter“ ausgezeichnete Ayno-Familie.

Midgard / Diez Office
Flexibler Fiberglasstab, der durch das Leuchtenkabel der Ayno zu einem Bogen gespannt wird. © Midgard / Diez Office / Foto: J.Mauloubier

Mit der Ayno entwarf Industriedesigner Stefan Diez die erste neue Midgard-Leuchte seit den 1950er-Jahren. Die Innovationskraft dieser neuen Leuchtenfamilie entspricht ganz der Tradition des Unternehmens als Hersteller mit Pioniergeist. Ayno greift die Konstruktionsideen Curt Fischers auf und übersetzt sie, auf das Wesentliche reduziert und mit einem hohen gestalterischen Niveau in die Gegenwart. Das zentrale Merkmal der aus Boden-, Tisch- und Wandleuchten ist ein Fiberglasstab, der durch ihr Leuchtenkabel zu einem Bogen gespannt wird. Die Eigenspannung des Stabes sorgt dafür, dass die Leuchten ganz ohne Gelenke auskommen. Allein durch das stufenlose Verschieben der beiden Verstellringe an Fuß- und Kopfteil wird der flexible Stab der Ayno in die gewünschte Position gebogen und das Licht dahin gerichtet, wo es gebraucht wird. Der Radius des Bogens lässt sich durch die Ringe beliebig variieren, die Feinjustierung erfolgt dann über den schwenkbaren Leuchtenschirm mit integrierter LED.

Zum Konzept gehört, dass die Leuchten dieser Kollektion sehr leicht sind und aus wenigen Bauteilen bestehen. Hauptbestandteile der Leuchte werden aus den Materialien Stahl, Fiberglas und Kunststoff gefertigt und können daher sortenrein recycelt werden. Lange Liefer- und Transportketten vermeidet Midgard, indem der Hersteller die Komponenten weltweit auf lokalen Märkten eingekauft, statt vollständig montierte Leuchten rund um den Globus zu schicken. Zudem ist die Ayno eine der ersten LED-Leuchten, die der Anwender selbst werkzeugfrei reparieren und dadurch ihre Lebensdauer verlängern kann. So setzte die neue Produktreihe auf zeitgemäße Weise die Tradition Curt Fischers fort, wegweisende und zukunftsorientierte Leuchten herzustellen. Midgard hat den Wandel vom traditionellen Ingenieursunternehmen zur zeitgenössischen Marke für den Objekt- und Wohnbereich vollzogen, mit einer Mischung aus originalgetreuen Neuauflagen und vorbildlichen Neuentwicklungen. Damit einhergehend kooperiert das Pionierunternehmen bei der Gestaltung erstmals mit einem zeitgenössischen Designer.


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