Historisch, aber keineswegs erledigt: Die Designbewegung Memphis ist Vierzig. Was ist aus dem Impuls geworden, der revolutionär und nett zugleich war und das Design auf Kommunikation umgestellt hat?
Von Thomas Wagner.
Mit Jubiläen ist es so eine Sache. Sie riechen oft muffig nach Pflichtübung und sind mit Archivstaub gepudert. Man verneigt sich öffentlich vor der Leistung einer Person oder Bewegung, deren historische Verdienste offensichtlich, aber längst vergangen, sprich: erledigt sind. Nicht realisierte Potenziale? Vielversprechende Möglichkeiten? Statt nach solchen zu suchen, geben wir uns lieber geschichtsblind, starren auf die Gegenwart und malen uns die Zukunft wahlweise als technoides Konsumschlaraffenland oder als freudlos graue Dystopie aus. In solchen Zeiten steht jeder Blick zurück im Verdacht, ebenso langweilig wie überflüssig zu sein. Die Designbewegung „Memphis“ ist Geschichte. Anfang der 1980er-Jahre in Mailand entstanden, wäre sie dieses Jahr Vierzig geworden – eigentlich kein Alter, um unter der Rubrik „War-mal-wichtig“ im Archiv abgelegt zu werden. War Memphis intellektueller Snobismus? Nur ein billiger Trick? Oder sind einige von Memphis ausgehende Impulse noch immer wichtig?
Revolutionär und nett zugleich
Memphis und all jene, die es in Gang gesetzt haben, wollten revolutionär und zugleich nett sein. Sie wollten das Eis des Funktionalismus aufsprengen und Dynamik in ein Designsystem bringen, das sich aus ihrer Perspektive nicht mehr auf der Höhe der Zeit bewegte, sich im immer gleichen Kreislauf von Auftrag, Entwurf, Produkt – Auftrag, Entwurf, Produkt usw. wiederholte. Memphis wollte schon deshalb nicht nur nett, sprich: angepasst sein, weil in der historischen Situation um 1980 Geschichte nicht länger unveränderbar erschien; sie wurde vielmehr – Stichwort Postmoderne – zu einem Spiel, das mit Verve, Humor und Ironie gespielt werden konnte. Was Ettore Sottsass, Michele de Lucchi und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter früher als andere im Design witterten, war eine Veränderung im Verhältnis zur Realen, der „Aufstand der Zeichen“. Hinzu kam: Man war sich bewusst geworden, dass alle „Lösungen“ nur vorläufig sein können, einen notwendigerweise provisorischen Charakter besitzen. Ein jedes hat seine Zeit – das galt es endlich zu begreifen und die daraus erwachsenden Konsequenzen zu ziehen. Da Memphis aufrütteln und auffallen wollte, posierte auf der Einladungskarte zur ersten Memphis-Ausstellung am 18. September 1981 nicht zufällig ein zähnefletschender Dinosaurier.
Einen neuen Weg finden
Als sich im Winter 1980/81 zu formieren begann, was sich dann „Memphis“ nannte, war die Gärung längst in Gang. Oder, korrekter ausgedrückt: das Krisenbewusstsein war epidemisch geworden. Eine kleine Gruppe Mailänder Architekt/innen und Designer/innen um Ettore Sottsass und Michele de Lucchi verspürte, wie Barbara Radice es ausdrückt, „das dringende Bedürfnis, einen neuen Weg zu finden, einen Weg zu anderen Räumen, anderen Environments und einem anderen Lebensimage“.
With the Memphis Blues again
Die Legende will es, dass bei einem Treffen am 11. Dezember 1980 in der Wohnung von Sottsass und Radice, bei dem auch Michele de Lucchi und Matteo Thun anwesend waren, permanent Bob Dylans Song „Stuck inside of Mobile with the Memphis Blues Again“ lief. Angeblich wollte niemand die Platte umdrehen, also sang Dylan immer wieder „Oh, Mama, can this really be the end / To be stuck inside of Mobile / With the Memphis blues again“. Mailand war zwar nicht Mobile, Alabama, aber auch dort glaubte man festzustecken. Der Name „Memphis“ taucht dann zum ersten Mal in Skizzenbüchern von de Lucchi auf. Er hat ihn auf die erste Seite geschrieben, direkt neben das Datum 11. Dezember 1980. Zum Memphis-Kollektiv gehörten dann, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, neben den bereits genannten Sottsass, seiner Ehefrau Barbara Radice, Michele de Lucchi und Matteo Thun auch Andrea Branzi, Nathalie du Pasquier, Alessandro Mendini ebenso wie Michael Graves, Massimo Iosa Ghini, Shiro Kuramata und George Sowden, Marco Zanini und Marco Zanuso.
Gegen die dämliche Langeweile
Plakat Ausstellung Memphis im Musée des Arts décoratifs in Bordeaux von Nathalie Du Pasquier, 1983. Foto: Delphine.delmares. Veröffentlicht von Wikimedia Commons, gemeinfrei nach UrhG §64. This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.
Die heiter gestimmte Angriffslust war – wie so oft – das Ergebnis eines Blues, einer melancholisch gefärbten, aber stattfindenden Reaktion auf die erstarrten Verhältnisse. Man stellte, Radice beschreibt es plastisch, die übliche Einrichtungsrituale in Frage: Die „beiden Ledersofas, die zackigen Wandappliquen im Art-Déco-Stil, monochrome Auslegeware und ,HiereinBild-DaeineSkulptur‘ von Spots beleuchtet, ,HiereinDrink-DorteineSalzstange‘, möglichst auf einem Teewagen aus Chrom und Glas“. Die lustvoll auftretende Revolte fiel nicht vom Himmel. Das Radical Design und, für kurze Zeit Alchimia, hatten den Boden bereitet, aber andere Schwerpunkte gesetzt, weshalb Memphis auch als Sezession der Ungeduldigen begann. Die Lust, gegen „die dämliche Langeweile“ vorzugehen, dem Designestablishment einen Schlag zu versetzen und eine Antwort auf das international „richtige“ Design zu finden, war entsprechend groß. Wie bei Revolten gegen den Status Quo nicht selten, war auch diese ein Aufstand gegen den vorherrschenden, sogenannten „guten Geschmack“.
Dass es im Design, das an der Schnittstelle von Ästhetik und Ökonomie agiert, nicht nur neue Technologien und Materialien sind, die Veränderungen bewirken, sondern auch ästhetische Entscheidungen, die kommunikativ wirken, lässt sich bei Memphis beobachten, auch wenn viele das heute vergessen zu haben scheinen. Tatsache ist: Als Memphis antrat, musste die Bild- und Produktsprache dringend aktualisiert werden. Was es gab, fühlte sich, wie Sottsass zu sagen pflegte, „nach einer Weile an wie Pappe kauen“. Man brauchte also, so Radice in einem Interview, „ein bisschen Senf, nicht wahr?“ Der Stoff für eine gute Show war da, die Show selbst aber hatte noch nicht begonnen. Also legte man die Betonung, dem Geist der Zeit entsprechend, ganz auf Kommunikation statt auf Funktion.
Frontalangriff auf eine purifizierte Moderne
Schon allein die Muster – bunt bedrucktes Resopal – wirkten wie ein Frontalangriff auf die purifizierte Moderne aus Glas, Chrom im White Cube. Das Verhältnis von „High and Low“ wurde postmodern umgekehrt: Resopal war vulgär, arm, unecht, ein Stück schlechter Geschmack aus der Subkultur. Und es hatte einen entscheidenden Vorteil: Es nahm der Dekoration ihre Anonymität und Abstraktheit. Gerade weil Material und Dekor comic- und klischeehaft daherkamen und über keine hochkulturellen Weihen verfügten, erschienen sie unbelastet.
Die Flächen ziert kein Akanthusblatt und sie tragen keine Palmetten, sondern, nach einer frühen Zeichnung von Sottsass, unter anderem wimmelnde „Bakterien“. Auch die klar auszumachende Form der Möbel wird von Mustern wie von Viren und Bakterien befallen, die sie zersetzen. Die Muster fressen die Form auf. Mittels Resopal, bedrucktem Glas, galvanisiertem Blech, geriffeltem Metall, Neonröhren und farbigen Glühbirnen werden neue kulturelle Codes programmiert. Die Materialien zeigen nicht länger technische Funktionen an, sie steigern und irritieren die Wahrnehmung. Was zählt, sind Image und kommunikative Wirkung. Man konzentriert sich auf die Elemente, die das Objekt bestimmen, nicht auf das Objekt selbst als Einheit. „Jeder Zufall“, so Sottsass, „bekommt seine formale und dekorative Identität. Ein Memphis-Tisch ist Dekoration. Struktur und Dekor sind identisch.“
Rückkehr der Barbaren
Anders als in früheren Diskussionen um die Moderne erscheint das Ornament nun nicht mehr als Verbrechen, sondern als Versprechen. Adolf Loos wird der Kopf gleichsam mit neuen Mustern tätowiert. Räume lösen sich in flirtenden Dekors auf, Wohnen wird zur anarchischen Partyzone. Sinnlich, lustvoll, höflich und konsumorientiert eroberten die Memphis-Barbaren die ach so zivilisierten, aber nach Pappe schmeckenden Zonen zurück. Das moderne Biedermeier scheint auf Droge zu sein; es entsteht ein eigener Pop-Kosmos – vollgestopft mit Zeitgeistbotschaften. Memphis übt keine Kritik an der Massenkultur. Es setzt vielmehr auf deren Ausdrucksstärke und ihren ständigen Wandel.
Jenseits von Fortschritt und Utopie
Dass Memphis das Geschehen in der Welt und der Warenproduktion nicht als festgelegt, sondern als Hypothese von Wahrscheinlichkeiten aufgefasst hat, hat die Bestimmung und Botschaft des Designs verändert. Dazu gehört: Es gibt immer Möglichkeiten jenseits vorhandener Routinen. Für Sottsass und seine Mitstreiter/innen war immer klar: Design besitzt keinen überzeitlichen, gar metaphysischen Wert; es gehört zur Kultur und verändert sich mit dieser. Weil es im Geist der Hypothese auftrat und keine Lösungen versprach (die sich ohnehin als unhaltbar erweisen würden), konnte Memphis so erfrischend, verstörend und befreiend auftreten. Dabei stand es Anthropologie und Soziologie näher als Ingenieurwesen und Marketing. Bei allem Überschwang blieb man zugleich nüchtern und realistisch; weder glaubte man an einen Fortschritt noch malte man sich Utopien aus. Stattdessen konzentrierte man die Kräfte auf die expressiven und emotionalen Beziehungen zwischen Personen und Objekten.
Darin, und vorgemacht zu haben, dass man im Design revolutionär und zugleich kommunikativ und konsumorientiert agieren kann, liegt ein Impuls der, jenseits aller Muster, Farben und Materialien, auch heute einen Aufbruch motivieren könnte. Gelingen könnte ein solcher allerdings nur, wenn man sich darauf besönne, dass es mehr bedarf als einer abstrakt-antikapitalistischen Gesinnung und einer nur behaupteten Moral nachhaltigen Produzierens, um im und mit Design einer verschwenderischen Lebensweise an die Wurzeln zu gehen. Beißt das Design nicht auch heute viel zu oft und viel zu selbstverständlich auf Dingen herum, die sich anfühlen „wie Pappe kauen“?
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