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Unter Begriffen wie „Multispecies Studies“ oder „Multispecies Justice“ wird ein Wandel in der menschenzentrierten Wissensproduktion gefordert. Dies hat auch Konsequenzen für die Gestaltungsdisziplinen. Wie kann die hierarchische Trennung von Mensch und Natur im Design aufgehoben werden? Ist nachhaltiges Design nur möglich, wenn auch andere Spezies und Ökosysteme in Designprozesse einbezogen werden? 

Von Lynn Harles

Platform for Humans and Birds, Studio Ossidiana | Foto: Riccardo de Vecchi

Im Jahr 2017 geschah etwas bis dahin Einzigartiges: Der Whanganui-Fluss in Neuseeland wurde als erster Fluss der Welt als juristische Person anerkannt. Damit folgte man dem Beispiel von Ländern wie Bolivien, Indien, Kolumbien und Ecuador, das bereits 2008 als erstes Land die Rechte der Natur in seiner Verfassung verankert hat. Weitere Initiativen sind auf dem Vormarsch, um der Natur das Recht zu verleihen, zu existieren, sich zu regenerieren, respektiert und im Schadensfall wiederhergestellt zu werden. Damit geht einher, dass der Mensch aus dem Zentrum der planetaren Umgestaltung heraustritt und Ökosysteme und natürliche Entitäten als Lebewesen mit eigenen Rechten anerkennt, anstatt sie lediglich als Ressourcen für menschliche Bedürfnisse zu betrachten. In diesen Ansätzen steckt zugleich eine radikale Antwort auf die ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, wie veränderndes Klima, Verlust der Biodiversität oder dem Aufkommen invasiver Arten. 

Der Mensch steht nicht länger im Zentrum

Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Anthropologie, der Soziologie oder den Umweltwissenschaften beobachten. Unter Begriffen wie „Multispecies Studies“ oder „Multispecies Justice“ wird ein Wandel in der menschenzentrierten Wissensproduktion gefordert, der die hierarchische Trennung zwischen Mensch und Natur aufhebt und beide Akteure gleichberechtigt in Beziehung zueinander setzt. Damit wird deutlich: Der Mensch büßt seine herausgehobene Position ein; er ist nur ein (optionaler) Teil komplexer Ökosysteme, die zerstört werden, bevor er ihre Bedeutung versteht. Zugleich beflügeln technologische Fortschritte wie künstliche Intelligenz den langgehegten Wunsch des Menschen, mit anderen Lebewesen kommunizieren zu können. Ein prominentes Beispiel ist das „Interspecies Internet“, ein Projekt von MIT und Google mit dem Ziel, die Kommunikation zwischen Menschen und anderen Arten zu ermöglichen.

Der „Kiki Prototyp“ – Die Berliner Designerin Rasa Weber hat ein künstliches Riff im Mittelmeer geschaffen. Designer: Rasa Weber. Taucher: Noémie Chabrier. Ort: STARESO, Calvi (FR). Datum: August 2023. | Alle Rechte vorbehalten: rasaweber.com

Design als Vermittlerin zwischen Mensch und Natur

Die Gleichzeitigkeit dieser Entwicklungen schließt auch die Gestaltungsdisziplin ein. Ansätze und neue Begriffe wie „Multispecies Design“, „Interspecies Design“ oder „More-Than-Human Design“ gewinnen in aktuellen Diskursen und Designprojekten an Bedeutung. Diese Ansätze brechen mit der menschenzentrierten Tradition von Design und handeln die Rolle von Design als Vermittlerin zwischen Mensch und Natur neu aus. Die Vertreter*innen dieser Ansätze sind überzeugt, nachhaltige Gestaltung sei nur dann möglich, wenn nicht nur die Bedürfnisse von Menschen, sondern auch die von Ökosystemen und anderen Arten im Zentrum von Designprozessen stehen. Diese Ansätze heben somit aktuelle Diskurse über die Verantwortung des Designs im Kontext ökologischer Nachhaltigkeit auf eine neue Ebene. Anstatt Natur als Inspirations- oder Materialquelle zu nutzen (wie in der Bionik oder dem Circular Design), wird gefordert, mit der Natur und primär für ihre Bedürfnisse zu gestalten. Damit stellen sie die Gestaltung vor eine Reihe neuer Fragen und Herausforderungen. Denn wenn ein Fluss und Ökosysteme eigene Rechte besitzen, wie können diese dann gleichberechtigt am Designprozess teilhaben?

Vorhandenes Wissen einbeziehen und neues produzieren

Um das Potenzial von Multispecies-Ansätzen in der Designpraxis zu verstehen, braucht es zunächst ein erweitertes Verständnis dessen, was die Designleistung denn beinhaltet. Nach wie vor entspricht es der populären Meinung, dass die Zurschaustellung eines finalen Artefakts – sei es ein Produkt, eine Technologie oder eine Dienstleistung –, der Hauptbestandteil der Designaufgabe sei. Die eigentliche Kernleistung aber ist der Aufbau des Gestaltungsprozesses, der dem finalen Artefakt vorausgeht und oft im Verborgenen bleibt. Dieser Prozess besteht aus einem komplexen Zusammenspiel mit Expert*innen aus anderen Disziplinen und im Alltag Betroffenen, wobei unterschiedliches Wissen sowohl einbezogen als auch produziert wird. Hier wird deutlich, dass Gestaltung nicht nur Formgebung ist. Sie ist auch eine Form der Wissensproduktion und damit berechtigterweise eine eigenstände Form der Wissenschaft und Forschung. Gestaltung geht sogar noch einen Schritt weiter, indem sie das produzierte Wissen direkt in eine Anwendung übersetzt. Resultat eines Gestaltungsprozesses ist nicht immer nur ein reproduzierbares Artefakt, sondern auch ein Forschungsergebnis. Bisher erfolgen diese Wissensproduktionsprozesse, sei es in der Gestaltung oder den Wissenschaften, in erster Linie menschenzentriert.

Lösungen schaffen, die nicht zu weiteren Problemen führen

In Anbetracht der ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen kommt eine menschenzentrierte Wissensproduktion in der Gestaltung an ihre Grenzen. Alles, was gestaltet wird, hat auf unbestimmte Zeit einen direkten oder indirekten Einfluss auf die kosysteme. Nicht unbedingt im Guten und häufig auf eigene Kosten. Das bestärkt die Forderung, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die Umwelt in den Prozess einbezogen werden muss, um Lösungen zu schaffen, die nicht weitere Probleme herbeiführen. Hier fallen Multispecies-Ansätze im Design auf fruchtbaren Boden. Die Anwendungsbereiche sind dabei so vielfältig wie die Herausforderungen, die sie adressieren.

Relevante Anwendungsfelder

Zentrale Themen drehen sich um partizipative Prozesse in urbanen Lebensräumen, die Design, Architektur, Stadtplanung und Umweltwissenschaften zusammenführen. Initiativen wie die „Platform for Human and Birds“ von Studio Ossidiana hinterfragen, wie urbane Räume als Habitate sowohl für Menschen als auch für nicht menschliche Akteure gestaltet werden können. Solche Ansätze von „Multispecies Urbanism“ stellen wegweisende Lösungen für Städte dar, die im Klimawandel wichtige Biodiversitätsressourcen aufweisen können. Ein Beispiel aus dem ländlichen Raum, ist die Arbeit von Daniel Metcalfe, der in seinem „Hannafore Project“ zeigt, wie die Gestaltung von Wegplatten entlang einer Küstenpipeline in England die gemeinsame Nutzung von Wanderwegen und Habitate für Arten in Gezeitenzonen ermöglichen kann. Weitere relevante Anwendungsfelder entstehen an der Schnittstelle zum Umweltschutz und zu Renaturierungsinitiativen. Ein zukunftsweisendes Beispiel ist die Arbeit der Designerin Rasa Weber, die in ihrem Projekt Symbiocean Konzepte der Interspezies-Architektur in gefährdeten maritimen Zonen einführt, um neue Lebensräume für Korallen und ihre Ökosysteme zu schaffen. Dabei bezieht sie auch die Küstenanwohner gezielt in den Entwurfsprozess ein.

Eine trockene Schicht Kombucha ‚SCOBY‘ (Symbiotic Culture Of Bacteria and Yeasts), die bakterielle Zellulose enthält | Foto: Emma Sicher
Studio Circology – Gründung eines Interspecies Design Studios | Foto: Esther Kaya Stögerer, Jannis Kempkens

Bakterien und Insekten als Co-Designer

Auch in der Materialforschung ergeben sich neue Anwendungsfelder, wie das „Interspecies Design Studio“ von Esther Kaya Stögerer und Jannis Kempkens, oder das Projekt „SCOBY“ von Emma Sicher zeigen. Hier werden nicht menschliche Akteure, wie Bakterien oder Insekten als Co-Designer, in den Designprozess einbezogen, um Farben zu produzieren oder Materialien wachsen zu lassen. Diese Ansätze zeichnen sich auch durch ihre interdisziplinären Vorgehensweisen aus.

Equine Eyes (2024) Alan Hook | Photo: Vlatko Mitashev

Sehen wie ein Pferd

Zudem ergeben sich an der Schnittstelle zur Technologieforschung interdisziplinäre Nischen, wie „Animal Aided Design“ und „Animal-Computer Interaction“. Ein Beispiel ist das Projekt „Equine Eyes“ von Alan Hook, welches das Sensorium von anderen Arten, etwa Pferden, für Menschen zugänglich macht und mittels Design Empathie für andere Lebensformen fördern möchte. Zu guter Letzt zeigen sich zukünftige Potenziale an der Schnittstelle zwischen Design, Demokratie und Klimapolitik. Ein prominentes Beispiel ist das Projekt „Future Assembly“ von Studio Other Spaces 2021 auf der Architektur-Biennale in Venedig. Hier wurde hinterfragt, wie die Vereinten Nationen Menschenrechte vor dem Hintergrund ökologischer Krisen auf nicht menschliche Akteure erweitert werden können. Diese Schnittstellen stellen ein Spannungsfeld für eine Designdisziplin dar, die in den kommenden Jahren ihre politische Dimension unter dem Motto „Design for Democracy“ weiter ausverhandeln möchte.

Die produktorientierte Logik des Designs durchbrechen

Um die Zukunftspotenziale von Multispecies-Ansätzen zu erkennen, muss vor allem die produktorientierte Logik des Designs durchbrochen werden. Obwohl viele der neuen Ansätze spekulativen Charakter haben, führen sie zu relevanten Fragestellungen und neuen Erkenntnissen. Ein weiterer Mehrwert von Multispecies Design liegt in der Art und Weise, wie wir unsere Designprozesse zukünftig gestalten. Eine Erweiterung der menschlichen Sinneswahrnehmung und Perspektivenvielfalt ist notwendig, um im Einklang mit nicht menschlichen Akteuren zu gestalten. Weiterhin erfordert es ein anderes Verständnis von Zeit, das nicht ausschließlich auf unsere eigene Lebensspanne abzielt. Multispecies Design bietet zudem die Chance, zu erkennen, dass die menschliche Intelligenz nur eine von vielen Formen ist. Wird Intelligenz als Fähigkeit definiert, sich an Veränderungen anzupassen, so fällt auf, dass wir paradoxerweise genau daran zu scheitern scheinen.

Menschenzentrierte Denkmuster aufbrechen

Multispecies Design ist eine Einladung, über den menschengemachten Tellerrand hinauszublicken. Dabei erteilt uns die Naturgeschichte wertvolle Lektionen über Resilienz und Scheitern. Obwohl viele Handlungsfelder und Methoden für Multispecies Design noch in einer experimentellen Phase stecken, lohnt es, sich frühzeitig mit den vielfältigen Potenzialen auseinanderzusetzen. Indem wir die gewohnten menschenzentrierten Denkmuster in der Gestaltung aufbrechen, finden wir neue Wege, den Designprozess noch stärker als bisher zu anderen Disziplinen hin zu öffnen. So können gerade vor dem Hintergrund sozial-ökologischer Krisen dringend benötigte Transferpotentiale in Wissenschaft, Umweltschutz und Politik entstehen. Zumal Multispecies Design dazu auffordert, sich bewusst auf Andersartigkeit einzulassen und neue Blickwinkel einzunehmen.

Foto: Lynn Harles

Über die Autorin

Lynn Harles ist Designforscherin und lebt in Berlin. Sie widmet sich den vielfältigen Rollen von Design im Kontext gesellschaftlicher und ökologischer Herausforderungen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Schnittstelle zwischen Design und den Naturwissenschaften. Sie war u.a. am Fraunhofer-Institut und am Museum für Naturkunde in Berlin tätig. Zurzeit promoviert sie an der Bauhaus-Universität in Weimar. Sie publiziert wissenschaftliche Publikationen und schrieb für führende Designmagazine wie Slanted und Form Magazin. Weitere Informationen zu Lynn Harles unter www.studioharles.com


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