Er beherrschte das Subtile genauso wie das Plakative, jonglierte mit kunsthistorischen Zitaten und war manchmal auch sehr kommerziell: Über den 2020 verstorbenen New Yorker Grafiker gibt es schon eine ganze Reihe voluminöser Bücher. Doch das neuste, soeben erschienene Werk stellt alle bisherigen in den Schatten. Sein Titel lautet schlicht: POP. Aber darum geht es eigentlich gar nicht … oder doch?
Rezension von Gerrit Terstiege
„Eines der schlechtesten Redesigns aller Zeiten“, „bringt das alte Logo zurück” oder „das ist abscheulich”: Erst vor wenigen Wochen löste eine New Yorker City-Marketing-Aktion einen Shitstorm aus, wie er selten ist im Kommunikationsdesign. Weltweit regten sich Grafiker*innen in den sozialen Medien darüber auf, dass die Stadt am Hudson offenbar glaubte, mit einem fetten „WE❤NYC“ eben jenen berühmten Slogan „I❤NY“ von Milton Glaser aktualisieren zu müssen. Und in der Tat wirkt das Update einfach nur bemüht sowie typografisch und grafisch einfallslos. Irgendwie wollte da jemand schlauer sein als der Urheber. Der New Yorker Art Director und Glaser-Experte Steven Heller schreibt zum Beispiel über das Redesign: „Ist das einladend? Nein! Es sagt nicht „willkommen“, sondern „STOPP“. Der Text wird dann unharmonisch auf das zweite Element des Logos geklebt, sein bauchiges Emoji-Herz, das eindeutig auf das zartere Symbol von Glasers Original verweist, das das Herz als Chiffre für die Liebe verwendet. Die neue Version ist eine plumpe, sensationsheischende Variante …”
Steven Heller ist wütend
Man merkt seinen Zeilen an, dass Heller wütend ist über diese Ikonenschändung – schließlich ist Glasers Schaffen für ihn eine echte Herzensangelegenheit. Wer daran noch Zweifel hat, nehme das neue Buch „Milton Glaser POP“ zur Hand, sehe und staune. Heller, Autor beziehungsweise Co-Autor von weit über 100 Designbüchern, hat es zusammen mit Mirko Ilić, Illustrator, Branding-Experte und Professor an der New Yorker School of Visual Arts soeben herausgeben. Dritte im Bunde ist Beth Kleber, die Archiv-Leiterin des Milton Glaser Design Study Centers an der SVA.
Und dieses Buch ist deshalb so umwerfend geworden, weil zwei kluge verlegerische Entscheidungen getroffen wurden: zum einen beschränkt sich das Autoren-Trio auf Glasers stärkste Dekaden, die Sixties und die Seventies, zum anderen zeigt es aus diesen wirklich viel Wunderbares, Unbekanntes, so dass man völlig frappiert ist und in den Bann seiner wilden Farben und Formen gezogen wird.
Der Picasso des Grafikdesigns
Um es auf eine einfache Formel zu bringen: In den 1960er und 1970er Jahren war Milton Glaser der Picasso des Grafikdesigns. Das Label „Picasso“ steht hier nicht nur für weltumspannenden Erfolg bei Publikum und Kritik. Mit seinem Dylan-Poster und dem erwähnten Rhombus mit Herz hat er zweifellos grafische Ikonen geschaffen, die in Millionenauflage ihren Siegeszug um die Welt antraten. Doch Glaser hat auch etwas Wichtiges von dem spanischen Malerfürsten gelernt –1978 gab er in einem Interview zu: „Mein wahrer Mentor war Picasso – auf sehr spezielle Weise. Was ich von ihm gelernt habe, ist: Man kann seine eigene Geschichte über Board werfen und einfach weiterziehen, um beweglich zu bleiben. Picasso hat Qualität hervorgebracht in einer Vielzahl von Stilen. Man muss nicht gefangen bleiben in einer Konvention, sondern kann eine ganze Reihe stilistischer Positionen einnehmen, die sich sogar gegenseitig widersprechen. Das ist, glaube ich, das Wichtigste, was ich von Picasso gelernt habe.“
Riesiges stilistisches Spektrum
Die Bandbreite an unterschiedlichen Motiven, Medien, Themen, Sujets und Darstellungsweisen, die dieses neue Buch anschaulich macht, ist noch beeindruckender, wenn man sich klarmacht, dass hier nicht ein langes kreatives Leben ausgebreitet wird, sondern eben die 20, vielleicht auch 25 Jahre währende Hochphase eines Meisters seines Fachs. Diese begann eigentlich schon 1954, als Glaser zusammen mit Seymour Chwast die legendären Push Pin Studios gründete. Über diesen Werkkomplex hat Steven Heller bereits, zusammen mit Martin Venezky, einen ähnlich überzeugenden Bildband vorgelegt, an dem Chwast und Glaser mitwirkten. Hier gibt es nun aus der Frühzeit ein paar wirklich rührende Kritzeleien, zum Beispiel eine mit blauer Tinte in das Poesiealbum einer Mitschülerin gezeichnete, anthropomorphe Eisenbahn aus dem Jahr 1942.
Aber wirklich spannend wird es, wenn wir uns in die zahllosen Cover vertiefen, die Glaser in den sechziger und siebziger Jahren illustriert hat. Und damit sind hier vor allem Buchtitel, Schallplatten- und Magazincover gemeint, also die kulturelle Seite des Packaging Designs, bei der sich Inhalt und Form charmant umspielen dürfen, ohne zu viel zu verraten. Das trifft vor allem auf seine Ausschmückungen literarischer Werke zu, von Walt Whitman, über Virginia Woolf und Hermann Hesse bis zu Tom Wolfe, wo wir alles sehen von der feinen Linienzeichnung mit Kreuzschraffur, über das zarte Aquarell bis zur Collage. Bei den Musikalben, für die er Motive entwickelt hat, gibt es auch knallige, laute Arbeiten, mit Komplementärkontrasten, farbigen Balken, Blitzen, Regenbögen und Art Deco-Anspielungen. Und immer wieder Porträts im Profil, mal nach rechts, mal nach links schauend wie auf dem millionenfach gedruckten Dylan-Poster, dem ein kleiner Scherenschnitt von Marcel Duchamp zugrunde lag. Apropos Dylan: Hier erfahren wir auch, dass das berühmte „Woodstock“-Festival wohl auch wegen Milton Glaser eben dort stattgefunden hat: der Grafiker hatte in der Nähe bereits ein Haus mit seiner Frau Shirley, machte Dylans Manager auf ein zum Verkauf stehendes Gebäude in direkter Nachbarschaft aufmerksam – was bald darauf auch den Songwriter mit seiner Familie nach Woodstock lockte. Nur war die Idee, man könne Dylan für einen Auftritt gewinnen, wenn man ein Festival mit 400.000 Menschen direkt vor seiner Tür plant, ganz und gar nicht von Erfolg gekrönt.
Abschied vom Psychedelic Design
Die langhaarig-fröhlichen Hippies und der coole, glatzköpfige Grafiker aus der Bronx wollten übrigens nie so recht zusammenpassen. So stark Glaser bis heute mit dem sauber durch Linien getrennten, psychedelischen Stil assoziiert ist – so leicht konnte er sich davon trennen, als sich die Zeiten änderten. Schulterzuckend sprach er rückblickend davon, das sei eigentlich alles nichts weiter als „Malen nach Zahlen“ gewesen. Da ging es ihm ähnlich wie seinem deutschen Kollegen und Pendant Heinz Edelmann, der nach der Art Direction von „Yellow Submarine“ zu neuen Ufern aufbrach. Was auch die Verwechselbarkeit der beiden Grafiker, die sich sehr schätzten, für immer beendete. Aber in diesem Buch merkt man eigentlich nichts von einem stilistischen Wandel von den Sechzigern zu den Siebzigern, denn es gehen die Dekaden wild durcheinander. Das Herausgebertrio setzt klugerweise andere Schwerpunkte, geht nicht chronologisch vor, sondern gruppiert die Kapitel etwa nach „Silhouetten und Schatten“, „Rahmen und Geometrien“ oder „Schrifttypen und Symbolen“.
Man könnte jetzt fragen: Was hat all das mit unserer heutigen Zeit zu tun? Was kann man von einer 60 Jahre alten Zeichnung lernen? Was kümmern uns noch Plakate, Taschenbuchcover und Zeitschriftentitel mit meist verstorbenen Stars, mit Themen, die längst erkaltet sind. Nun, genau diese Fragen werden sofort beantwortet, wenn man dieses Buch aufschlägt, zu blättern und zu lesen beginnt, und von der visuellen Kraft, Präzision und Subtilität Glasers gefangen wird. Und überhaupt, was kümmern uns die Felsenzeichnungen von Lascaux und Chauvet? Wem Geschichte egal ist, wem Kultur, Kunst, Design und Dichtung, Menschen und Musik egal sind, der wird auch nicht für dieses Buch zu begeistern sein. Auf alle anderen wartet ein sensationelles Panoptikum, eine Augenweide, eine Verzauberung.
Milton Glaser: POP
Steven Heller, Mirko Ilić, Beth Kleber
Hardcover, 30,5 × 26,7 cm
288 Seiten, 1.100 Illustrationen
Englisch
Phaidon / Monacelli
47,99 Euro
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