Von Thomas Wagner.
Mit „100 Bücher, die alle Designer kennen sollten“ wollen René Spitz und Marcel Trauzenberg keine Leseliste zusammenstellen und schon gar keinen verbindlichen Kanon präsentieren. Stattdessen haben sie 100 Designerinnen und Designer nach ihrem Lieblingsbuch gefragt.
Ohne Zweifel: Lesen bildet – mögen die Vorzüge Schwarz auf Weiß gedruckter Gedanken und Argumente, genauer Beobachtungen oder verträumter Zeilen in Zeiten von Smartphone, Instagram und Podcast noch so skeptisch beäugt werden. Bleibt die bange Frage: Welche Bücher aus all der Fülle sollten es sein? Welche lohnen, gelesen, gar studiert zu werden? Lesen, um sich zu zerstreuen oder zu bilden, ist das Eine. Welche Bücher aber taugen dazu, Designer bei ihrem Tun anzuregen? Anders gefragt: Welches wäre das eine, das man, ob bekannt, abgelegen oder versnobt, unbedingt kennen sollte, wenn man Design praktiziert?
Der Titel „100 Bücher, die alle Designer kennen sollten“ (erschienen bei avedition) verspricht, für Abhilfe zu sorgen. Wobei die beiden Herausgeber René Spitz und Marcel Trauzenberg sogleich in ihrem Vorwort klarstellen: „Dieses Buch ist keine Leseliste. Niemand, der ganz bei Trost ist, nimmt sich die hier versammelten Titel einen nach dem anderen vor, kaut sie durch und stellt sie dann feinsäuberlich ins Regal. Dieses Buch ist keine Bucket List und keine Challenge für Social Media. Es will weder Trend noch Hype auslösen. Es ist auch keine Rezeptsammlung. Eher gleicht es einer Sammlung von Zutaten: Ein Strauß unterschiedlicher Gewürze als Angebot fürs individuelle Mischen. Ob das Ergebnis den jeweiligen Geschmack trifft, hängt von persönlichen Vorlieben, Neigung und Aneignung ab – sprich: von jeder Lesart.“
Dieses Buch ist keine Leseliste … keine Bucket List und keine Challenge für Social Media.
René Spitz/ Marcel Trauzenberg
Persönliche Empfehlungen statt Lektürekanon
Eine akademische Übung in Sachen Lektürekanon für Designer abzuhalten, liegt den Herausgebern also ebenso fern wie spezialisierte Listen zur thematischen Vertiefung oder eigene Lektüreerfahrungen auszubreiten. Stattdessen bedienen sie sich eines klugen Schachzugs. Um Monolog und Monotonie gleichermaßen zu vermeiden, den Blick zu weiten und unterschiedliche Zugänge zum Design zu eröffnen, setzen sie auf viele unterschiedliche Stimmen und Perspektiven. Deshalb haben sie 51 Designerinnen und 49 Designer gefragt, welches Buch sie besonders schätzen und weshalb sie es allen, die auf dem Feld der Gestaltung tätig sind – und solchen, die dort noch etwas werden wollen – empfehlen können.
Die Beiträge stammen aus aller Welt, kommen aus Australien, Neuseeland, Taiwan und Japan, aus dem Libanon, Chile und Brasilien, nicht nur aus Europa und den USA. Designstars haben sich ebenso beteiligt wie Newcomer, selbstständige Unternehmer und angestellte Gestalter, ganz gleich, ob sie Möbel, Maschinen oder Luxusgüter, Bilder, Marken oder digitale Medien gestalten. Die Hundertschaft, die sich auf das heitere Spiel eingelassen hat, liefert jeweils einen kurzen Text zu ihrem Favoriten – samt Foto des mehr oder weniger zerlesenen Exemplars. Gestaltet von Victor Malsy, sind beide, Text und Cover, alphabetisch nach den Namen der Designer sortiert, im Buch auf einer Doppelseite vereint.
Dinge anders als üblich sehen lernen
Und in der Tat: Die Vielfalt überrascht, entzückt zuweilen sogar, und die Begründungen ergeben ein anregendes Panorama. Ruedi Baur schätzt „Peters Synchronoptische Weltgeschichte“, weil sie es erlaubt, „die Geschichte unseres Planeten anders als üblich sehen zu können“. Shikuan Chen empfiehlt „waste“ von Brian Thill, weil es ihn skeptisch gegenüber seinem Tun gemacht hat und er sich seitdem die Frage stellt: „Brauchen wir noch einen weiteren weißen Becher, ein weiteres Smartphone oder noch eine Jeans?“ Sarah Cords erzählt, sie habe anhand der Lektüre von Michel Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ etwas über die „Schrift der Dinge“ und darüber erfahren, wie wertvoll es ist, Abstand zu nehmen, „sich immer wieder frei zu machen von bekannten Perspektiven und Maßstäben“.
Für Sakia Diez führte der Auktionskatalog der Sammlung von Leonore Doolan und Harold Morris zu einem Aha-Moment. Und während Michael Dyer die Kürze und Präzision von Wittgensteins „Tractatus“ preist, erzählt Polina Dyer von ihrer Kindheit und einem russischen Kochbuch. Naoto Fukasawa wiederum empfiehlt die Lektüre von Álvaro Siza Vieiras „The Function of Beauty“, weil der Architekt, wenn es darum geht, etwa eine Treppe zu gestalten, einfach anfängt: „Für ihn“, notiert Fukasawa, „geht es nicht um sich und seine eigene Philosophie. Nur um Intuition. Das ist wahre Schönheit“.
Die Beiträge stammen aus aller Welt. Designstars haben sich ebenso beteiligt wie Newcomer, selbstständige Unternehmer und angestellte Gestalter … ein anregendes Panorama.
Thomas Wagner
Irgendwann ertappt man sich beim Blättern und Lesen dabei, dass man besonders nach den Ausreißern, den Überraschungen und exotischen Titeln Ausschau hält. Was es doch noch alles zu entdecken gibt. So findet Juli Gudehus in den schönsten Sagen des Abendlandes „Verführung, Lust, List, Inszenierung, Farben, Symbolik, Macht, Ordnung, Kreativität, Destruktivität und vieles andere“ und setzt hinzu: „Und das hat mit Gestaltung zu tun“. Man staunt, wenn Fons Hickmann bekennt, er habe Roland Barthes Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ wie „kein anderes gelesen und lese es weiter“, oder wenn Greg Lynn in Herman Melvilles „Moby-Dick oder Der Wal“ Texte entdeckt, die sich „auf das Problem der Definition der Verwendung und der Methoden zur Herstellung eines Objekts beziehen, vom Gebäude bis zum Fingerhut“. Helfen für Eva Müller Rilkes „Briefe an einen jungen Dichter“, den Künstler in sich zu festigen, stärkt sich Laura Preston an den täglichen Routinen, wie sie Mason Currey in „Daily Rituals“ anhand von Künstlern beschreibt, weil „dieses kreative Leben ein Marathon und kein Sprint ist“.
Inga Sempé empfiehlt
„Lolita“ von Vladimir NabokovChristy Cole und Jane Briggs empfehlen „The Italian Avant-Garde 1968 -76“
hrsg. von Alex Coles und Catharine Rossi
100 Selbstportraits mit Buch
Schade nur, besonders bei abseitigeren Titeln, dass allein das Cover abgebildet und um knappe bibliografische Angaben ergänzt ist. Gern hätte man mehr über das empfohlene Buch und seinen Autor erfahren. Dasselbe gilt für die Designer: Wo leben sie, was tun sie? Da all das ausgeblendet bleibt, rückt die persönliche Lektüre der Empfehlenden mehr ins Zentrum, als die Bücher selbst. Diese liefern zwar die unterschiedlichsten Zutaten, die Rezepte indes verstecken sich in den Begründungen. Dabei steht manchmal der Bezug der Lektüre zum Gestalten im Allgemeinen im Vordergrund; ein anderes Mal sind es ganz persönliche und biografische Umstände, die zu der Auswahl geführt haben. Dann erhellt der Text die Kindheit, erzählt, wo und wann das Buch gekauft wurde oder wodurch es über viele Jahre zu einem treuen Begleiter geworden ist.
Auch wenn in den Begründungen hier und da so manches Klischee zum Vorschein kommt, wie Kreative ticken, es lohnt, in dieser Bibliothek auf Entdeckungsreise zu gehen. So stellt dieses Buch der Bücher am Ende eben keinen Kanon auf. Was es entfaltet, ist ein facettenreiches Panorama der Lieblingsbücher von Kreativen, das vergnügt in 100 Selbstportraits mit Buch bestätigt: Lesen bildet schon deshalb, weil es so viele unterschiedliche Bücher gibt.
100 Bücher, die alle Designer kennen sollten
Hrsg. von René Spitz und Marcel Trauzenberg
avedition, Stuttgart 2019
gebunden, 212 Seiten, 100 Abbildungen
ISBN 978-3-89986-319-2
€ 29
Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
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