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Paola Antonelli führt als Kuratorin und Autorin seit vielen Jahren eindrucksvoll vor Augen, wie stark Design die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft beeinflusst und unsere Lebenswelt prägt. Zugleich schärft sie mit ihrer Arbeit das Bewusstsein für einen verantwortungsvollen Umgang mit Design im Hinblick auf Mensch und Natur. Und das nicht nur bei Designern, sondern auch bei allen Menschen, die Produkte kaufen und in ihren Alltag integrieren.

Ein Interview von Lutz Dietzold.

Paola Antonelli Portrait
Paola Antonelli, Architektin und Kuratorin des Museum of Modern Art (MoMA) in New York. Foto: Marton Perlaki.

Als Kuratorin des MoMA haben Sie in vielen Ausstellungen gezeigt, dass Design Teil unseres Alltags ist. Dass es dabei um mehr geht als »schön gestaltete« Dinge. Die Ausstellung »Humble Masterpieces« im Jahr 2004 konzentrierte sich beispielsweise auf Alltagsgegenstände. Warum ist es Ihnen so wichtig, den Menschen die vielen Facetten von Design näherzubringen?

In unserem Leben ist alles Design: von der Ampel bis zum Display des Geldautomaten, vom Radweg bis zu Videospielen, von der Kaffeetasse bis zur Parkbank. Die Kunden sind dabei die Menschen, die Öffentlichkeit, und die Öffentlichkeit urteilt letztlich über die Qualität und Sinnhaftigkeit all dieser Objekte. Indem ich den Menschen so viele verschiedene Formen von Design wie möglich vorstelle, sorge ich dafür, dass sie diese auch im Alltag wahrnehmen, lernen, sie zu begutachten, und falls nötig bessere Designs zu fordern.

Sie haben Designer einmal als „die besten Synthesizer der Welt“ beschrieben – weil sie in ihrer Arbeit die perfekte Synthese aus menschlichen Bedürfnissen und den aktuellen Gegebenheiten schaffen, sei es aus Sicht der Ökonomie, der Produktion oder der Nachhaltigkeit. Mit welchem aktuellen Thema sollten sich Designer Ihrer Ansicht nach heutzutage besonders intensiv befassen?

Das ist schwer zu verallgemeinern, nicht nur weil es so viele verschiedene Formen von Design gibt, sondern auch weil alles miteinander zusammenhängt. Die Umweltkrise gibt meiner Ansicht nach die beste Antwort darauf: Wir müssen als Spezies insgesamt verantwortungsvoller werden. Designer tragen eine große Verantwortung und könnten uns allen sehr dabei helfen, unsere schlechten Angewohnheiten abzulegen.


„Wir müssen als Spezies insgesamt verantwortungsvoller werden.“


Was ist Ihrer Ansicht nach das größte Missverständnis oder die größte Fehleinschätzung, wenn Menschen über Design nachdenken?

Dass es nur um Styling/Dekoration/Verschönerung geht.

Wenn Sie für Ihre Ausstellungen recherchieren, womit können die Designer Sie am meisten überraschen?

Mit Empathie.

Installationsansicht von Broken Nature: Design Takes on Human Survival, XXII. Triennale di Milano, Mailand, 2018 - 2019
Installationsansicht von Broken Nature: Design Takes on Human Survival, XXII. Triennale di Milano, Mailand, 2018 – 2019. Foto: Gianluca Di Ioia.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen Design und Kunst beschreiben? Als zwei getrennte Welten? Als symbiotisch? Oder als etwas völlig anderes?

Als zwei getrennte Welten. Kunstwerke und Designobjekte mögen manchmal kaum voneinander zu unterscheiden sein, und manche Akteure (vor allem auf dem Kunstmarkt) ver suchen vielleicht auch aktiv, die Grenzen zu verwischen, aber es gibt einen deutlichen konzeptuellen Unterschied.

Haben sich die Grundprinzipien der Sammlung in den letzten Jahrzehnten verändert? Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf Ihre Strategie?

Wir haben schon vor einiger Zeit begonnen, digitales Design zu sammeln. Wir haben interaktive Stücke, Videospiele, Apps, digitale Schriften… Wir haben sogar den roten Pfeil von Google Maps und das @-Zeichen gesammelt. Wir verbringen einen großen Teil unseres Lebens in der digitalen Welt, daher müssen wir diese auch aus der Perspektive des Designsammlers betrachten.

Inwiefern hat Corona das Verhalten Ihrer Besucher verändert?

Wir hatten fast sechs Monate lang geschlossen. Jetzt ist das Museum wieder geöffnet, aber nur für sehr reduzierte Besucherzahlen. Außerdem gibt es keine Touristen, weder ausländische noch einheimische. Ich würde nicht sagen, dass sich das Verhalten verändert hat – es ist einfach alles zum Erliegen gekommen.


„Wir verbringen einen großen Teil unseres Lebens in der digitalen Welt, daher müssen wir diese auch aus der Perspektive des Designsammlers betrachten.“


Mit der Ausstellung »Safe« im Jahr 2005 haben Sie bereits eine Ausstellung begleitet, die sich mit der Rolle des Designs in Bezug auf Sicherheit und Risikomanagement befasst. Sind Sie der Ansicht, dass die Möglichkeiten, die sich in dieser Hinsicht bieten, bereits voll ausgeschöpft werden?

Ganz und gar nicht. Es wird auch in Zukunft immer neue Formen von Unsicherheiten und Gefahren geben, auf die Designer auf neue Weise Antworten finden müssen.

Installationsansicht von Neri Oxman: Material Ecology, The Museum of Modern Art, New York, 2020.
Installationsansicht von Neri Oxman: Material Ecology, The Museum of Modern Art, New York, 2020. Foto: Denis Doorly.

Im Zusammenhang mit Ihrer Ausstellung »Design and the Elastic Mind« haben Sie den Designer als den wichtigsten Change Agent in unserem Alltag beschrieben. Design vermittelt zwischen den enormen und zunehmend rasanten Veränderungen in unserem Alltag und schafft Systeme, die es uns Menschen ermöglichen, mit diesen Veränderungen umzugehen. Was werden die nächsten großen Herausforderungen für Designer sein?

Ich habe gerade ein Interview mit einem Astrophysiker darüber geführt, wie Design uns bei Reisen ins All und dem Versuch, neue Planeten zu besiedeln, helfen kann. Aber vielleicht ist das etwas weit hergeholt. In der näheren Zukunft sehe ich zunächst einmal eine tiefe Krise, die uns noch eine ganze Weile beschäftigen wird. Ich sehe eine Umweltkrise, Bedrohungen für Demokratien auf der ganzen Welt, Ungerechtigkeit und Intoleranz, Armut, Jugendarbeitslosigkeit, sogar in den reichsten Ländern. Design allein kann keine Lösungen für all diese Probleme finden, es sollte aber Teil interdisziplinärer Forschungsgruppen sein. Die Politik muss neue Wege finden, wie wir zusammenleben und unser Auskommen finden können.

Wie wichtig sind Ihnen die Themen Innovation und technischer Fortschritt im Zusammenhang mit Design?

Technologie ist extrem wichtig, sie sollte aber nicht der zentrale Orientierungspunkt für alles sein. Ich mag Objekte, die Technologie als gezieltes und effektives Mittel einsetzen.

Welche Eigenschaft oder Fähigkeit sollte ein Designer unbedingt haben?

Neben Talent und einer guten Ausbildung würde ich sagen: Empathie und Respekt.

Installationsansicht von Items: Is Fashion Modern?, The Museum of Modern Art, New York, 2017 - 2018
Installationsansicht von Items: Is Fashion Modern?, The Museum of Modern Art, New York, 2017 – 2018. Foto: Martin Seck.

Zu welchem Thema planen Sie Ihre nächste Ausstellung?

Dabei wird es um Interspecies Design gehen. Es ist noch nicht offiziell im Ausstellungskalender, aber ich drücke uns fest die Daumen.

Was inspiriert Sie in Ihrer Arbeit?

An Inspiration fehlt es mir wirklich nicht! So viele Dinge inspirieren mich, am allermeisten aber die Kreativität und die Arbeit anderer. Und die New Yorker inspirieren mich ganz besonders. Ich lebe seit 27 Jahren in dieser Stadt und bekomme einfach nicht genug von ihr und ihren Einwohnern.

Was ist Ihr liebster unterschätzter Alltagsgegenstand?

Gibt es so etwas? Dann gäbe es doch keine »Humble Masterpieces«, oder?


„So viele Dinge inspirieren mich, am allermeisten aber die Kreativität und die Arbeit anderer. Und die New Yorker inspirieren mich ganz besonders.“


Paola Antonelli

Paola Antonelli wurde 1963 auf Sardinien geboren und studierte Architektur am Polytechnikum in Mailand. Bevor sie 1994 Kuratorin am Museum of Modern Art (MoMA) in New York wurde, lehrte sie Design-Theorie und -Geschichte an der University of California in Los Angeles. Seit 2007 ist sie am MoMA Senior Kuratorin für den Bereich Design und Architektur. Als Kuratorin am MoMA sorgte sie von Anfang an für Furore – mit Ausstellungen, in denen sie Alltagsprodukte museal inszenierte, z. B. mit »Thresholds: Contemporary Design from the Netherlands« (1996), »Humble Masterpieces« (2004) oder »Design and the Elastic Mind« (2008). Wie wichtig Design heutzutage ist, zeigte Antonelli jüngst als Kuratorin der XXII. Mailänder Triennale, die unter dem Titel »Broken Nature« auf die Notwendigkeit von nachhaltigem Design aufmerksam machte. Paola Antonelli hat mit ihrer bisherigen Arbeit, ob als Kuratorin, als Herausgeberin oder als Autorin, außerordentlich dazu beigetragen, dass Design von einer breiten Öffentlichkeit nicht nur auf Ästhetik und Funktion reduziert wird, sondern vielmehr als vielfältiges Kulturgut – und damit als Teil einer sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Identität – wahrgenommen wird.

Paola Antonelli ist im Rahmen des German Design Award mit der Auszeichnung »Personality of the Year 2021« geehrt worden. Dieses Interview wurde erstalig im Katalog des German Design Awards 2021 veröffentlicht.

Paola Antonelli im Video-Interview bei »All Eyes On«

Das »All Eyes On« Studio
Foto: Daniel Banner

»All Eyes On« ist das digitalen Programm rund um den German Design Award 2021. In einem Zeitraum von insgesamt vier Wochen präsentiert Ihnen der Rat für Formgebung in verschiedenen Formaten die Gold-Gewinner, ihre Projekte sowie Interviews und Talk-Runden mit Design-Experten, Unternehmern und Journalisten. Im Fokus der Talks stehen Trend- und Designthemen rund um Innovation, Marke, Nachhaltigkeit und Digitalisierung.

Ein besondere Highlights ist das Interview mit »Personality of the Year« Paola Antonelli am 10. März 2021 um 10:00 Uhr. Das Interview kann auf der Website von »All Eyes On« und anschießend auf dem YouTube-Kanal des Rat für Formgebung verfolgt werden.


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