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Bild: Roman Raacke

Stets offen für Begegnungen und Anregungen: Der Industriedesigner Peter Raacke hat die Designgeschichte in Deutschland miterlebt und mitgestaltet. Nun ist er mit 93 Jahren in Berlin gestorben.

Von Thomas Wagner.

Wir schreiben Januar 1968. Wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ berichtet, griff ein Deutscher im Studio der New Yorker Fernsehgesellschaft NBC zum Messer. Vor der Kamera, heißt es in dem Bericht mit der Überschrift „Stabiler Otto“, „schnitt, bog und knickte der Hanauer Designer Peter Raacke, 39, ,das erste wirklich moderne Möbelstück‘ zurecht: Nach fünf Minuten Arbeitszeit erkannten die Zuschauer auf dem Bildschirm einen Stuhl“. Dieser Stuhl, erläuterte Raacke, ist aus Wellpappe. Er „verträgt anderthalb Tonnen Druck und hält zwei Jahre – dann wirft man ihn weg“. In der Zeit der Studentenrevolte, als viele alte Zöpfe abgeschnitten wurden, propagierte Peter Raacke mit seinen billigen, leichten und recycelbaren Wegwerf-Möbeln ganz neue und wenig bürgerliche Wohnvorstellungen. „Möbel“, sagte er, „sind nicht zum Besitzen, sondern zum Verbrauchen bestimmt.“ 20.000 Bestellungen für die – laut „Spiegel“ – „formschönen, aber nicht allzu bequemen Papp-Ottos“ seien beim Designer im letzten Vierteljahr eingegangen, „zu Stück-Preisen zwischen acht und 84 Mark“. Den Vertrieb hatte Ellen Raacke, Peter Raackes erste Frau, übernommen, weil eine Herstellung nur möglich war, wenn sich der Designer verpflichtete, 10.000 Stück abzunehmen.

Balance halten zwischen Gebrauch und Gestalt

Man könnte den 1928 in Hanau geborenen Peter Raacke einen kecken Balancekünstler nennen. Hat er doch in allem, was er während seiner langen und erfolgreichen Laufbahn gestaltet hat, das Gleichgewicht zu halten versucht – zwischen Gebrauch und Gestalt, Nützlichkeit und Schönheit. Vielleicht auch zwischen Experimentierfreude und Formwille, Avantgarde und Tradition. Und wie bei Menschen üblich, die festen Mutes sicher auf schmalem Grat wandeln und sich spielend zwischen den Extremen aufrecht halten, statt sich einem schroffen Entweder – Oder unterzuordnen, neigte sich auch sein Schaffen als Industriedesigner mal mehr zur einen, mal mehr zur anderen Seite. Um geschmeidig zu bleiben und nicht abzustürzen.

Werbung der Firma papp faltmöbel
Werbung der Firma papp faltmöbel ellen raacke, Grafische Konzeption und Text: Thomas Nittner, Foto: Abisag Tüllmann

Zugleich hat Peter Raacke die Arbeit des Gestaltens nie als unpolitische Tätigkeit verstanden. Was es auch zu entwerfen galt, der Sache musste eine gesellschaftlich und politisch sinnvolle Perspektive gegeben werden. Und weil die Balance nur halten kann, wer sich beweglich zeigt, gerieten viele der Entwürfe Raackes unkonventionell – und wurden gerade dadurch zurecht berühmt und zu Design-Klassikern. Angefangen bei dem bis heute untrennbar mit Raackes Namen verknüpften Edelstahlbesteck „mono-a“ von 1959 über die diversen Pappmöbel von 1968 bis zu dem farbigen Werkzeugkoffer aus Kunststoff für die Firma Ruddies Burgmöbel von 1966 und den Rattan-Möbeln von 1974.

Raacke hat die Designgeschichte in Deutschland miterlebt und mitgestaltet

Faltanleitung für Ecksessel 1968
Faltanleitung für Ecksessel 1968

Peter Raacke, der stets heiter, offen und wach auf Begegnungen und Anregungen reagierte, hat die Designgeschichte in Deutschland miterlebt und mitgestaltet. Dass er zum Goldschmied und Emailleur ausgebildet wurde, schulte sein Gespür für Material und fürs feine Detail. Mit Kenntnissen ausgestattet, die ihm Karl Lang und August Bock, der Lehrer von Wilhelm Wagenfeld und Christian Dell, an der Zeichenakademie Hanau, aber auch Walter Lochmüller in Schwäbisch Gmünd und Elisabeth Treskow in Köln vermittelt hatten, bezog er Anfang der fünfziger Jahre Wohnung und Atelier in Darmstadt – nicht irgendwo, sondern im Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe. Dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war, zeigte sich bei den legendären „Darmstädter Gesprächen“. Hier begegnete Raacke Otto Bartning, Theodor Heuss, Theodor W. Adorno und vielen anderen, die über Fragen nach Mensch, Technik und Raum nachdachten. Die gesellschaftspolitische Dimension des Designs blieb Raacke in der Folge immer wichtig. Auch, als er in den frühen 1950er-Jahren an der Werkkunstschule Saarbrücken, Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahren an der Staatlichen Werkkunstschule Kassel, und von 1963 bis 1967 an der HfG Ulm lehrte. Raacke war Mitgründer des Werkbunds Saar und des Verbandes Deutscher Industrie Designer (VDID). Von 1968 bis 1993 lehrte er 25 Jahre lang Industrial Design an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und arbeitete auch danach in Berlin-Zehlendorf in seinem Büro raacke design.

Auch an Würdigungen und Bilanzen herrschte kein Mangel: 2003 wurde er mit der Werkschau „50 Jahre Peter Raacke Design“ im Deutschen Technikmuseum Berlin geehrt; 2004 folgte die Ausstellung „50 Jahre Peter Raacke Design – gestalten für den Gebrauch“ im Goldschmiedehaus Hanau, 2005 im Deutschen Klingenmuseum in Solingen die Retrospektive „Peter Raacke – Gestalten für den Gebrauch“. Und 2008 zeigte das Bauhaus-Archiv Museum für Gestaltung in Berlin die Ausstellung „Peter Raacke: einfach modern – Vom Handwerk zum Design“.

Das Besteck mono-a war zu seiner Zeit eine Revolution

Raackes legendäres Besteck „mono-a“ war zu seiner Zeit eine Revolution auf dem Esstisch. Mit seinen gestreckten geraden Linien, mit präzisen Kanten und kreisförmigen Rundungen wirkte es ebenso schlicht wie modern und ungewöhnlich. Trotzdem konnte es sich auf den internationalen Märkten durchsetzen und wird bis heute in zahlreichen Varianten hergestellt. Jörg Petruschat vermutet eine Verbindung zum skandinavischen Design, konstatiert bei Raacke aber zu Recht auch eine Freude an einem „Lebensstil, in dessen Mittelpunkt die Suche nach einem Genuss stand, der nicht auf den Besitz von Dingen, sondern auf das Erlebnis, auf die Lust und Freude am Leben gerichtet war – wozu die Erkundung von Lebensstilen, die Selbstinszenierungen, der Zugang zu Raffinement und Lebenskunst“ zählten.

History Product "Mono A"
Peter Raacke, mono-a, Monoblockbesteck aus Edelstahl für die Hessischen Metallwerke Gebr. Seibel, 1959. © Mono GmbH
Briefmarke Design in Deutschland: Peter Raacke
Briefmarke „Design in Deutschland“: Peter Raacke. Foto: Mono GmbH

Ein Koffer nicht nur fürs Heimwerken

Werkzeugkoffer für die Firma Ruddies Burgmöbel
Werkzeugkoffer für die Firma Ruddies Burgmöbel, Polypropylen, Ulm 1966

Zu Raackes Entwürfen, die Designgeschichte geschrieben haben, zählt auch sein Kunststoffkoffer – kein Reiseutensil, sondern ein Tapezierkoffer für Heimwerkerinnen und Heimwerker. Die im Spritzgussverfahren hergestellte Schale aus Polypropylen bildet die prägnante Großform, das „Filmscharnier“ setzt den entscheidenden Akzent. „Jeder Alltagserfahrung widersprechend“, so Walter Scheiffele, „lässt sich das dünne Kunststoffscharnier unendlich oft bewegen, ohne abzureißen, ein Effekt aus der ‚Wunderwelt der Kunststoffe’. Tatsächlich besteht das Scharnier lediglich aus der ‚Querschnittsverengung‘ des Polypropylens, aus dem der Koffer geformt ist.“ Es sind die Details, die den Unterschied machen: der Griff, die feine Profilierung der Schalenränder, die vernickelten Druckknöpfe, die Narbung der Oberfläche.

Dass selbst ein so versierter Designer und weltoffener Balancekünstler wie Peter Raacke das zeitliche Gleichgewicht zwischen Entwurf und Erfolg nicht immer ausbalancieren konnte, zeigt sich, neben den Pappmöblen, die eindeutig ihrer Zeit voraus waren, auch an dem Kunststoffkoffer, der in Rot Ende der Sechziger auch gern zum „Revoluzzer-Koffer“ avancierte. Weil Heimwerkerinnen und Heimwerker im Baumarkt lieber zur Plastiktüte griffen, setzte sich der Koffer erst durch, als Raacke ihn als universell verwendbaren „Leerkoffer“ anbot.

Wie seine Familie mitgeteilt hat, ist Peter Raacke am 20. März im Alter von 93 Jahren in Berlin gestorben. Die von ihm gestalteten Dinge mögen bleiben, seine menschenfreundliche Lebendigkeit werden wir vermissen.


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