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Von Thomas Wagner

Oberflächen verändern, Dimensionen wandeln, Realitätsebenen mischen sich: Die digitale Transformation macht Mixed Realities und den Gestaltwandel unserer Gebrauchsgegenstände zur alltäglichen Erfahrung.

Nichts muss bleiben, was es ist: Mit einem Fingertipp wird bei Bedarf aus einem Telefon eine Taschenlampe, aus der Wetterkarte ein Kompass, aus dem Fahrplan ein Klavier oder eine Trommel. Auch das Display im Auto wechselt nicht mehr allein die Farbe; Design und selbst Bedienelemente erscheinen oder verschwinden wie von Geisterhand. Die Gestalt der Welt hat sich verflüssigt, das Prinzip der Metamorphose alle Lebensbereiche ergriffen.

Auf diversen Oberflächen lässt Software einen fortwährenden Wechsel von Form und Funktion zur alltäglichen Erfahrung werden. Mehr und mehr entstehen dadurch gemischte Wirklichkeiten, in denen sich feste physische Körper und fluide, virtuelle Erscheinungen überlagern und verquicken: die Virtual- Reality-Brille im Concept Store; die Augmented-Reality-App für digitalen Support beim Einrichten der Wohnung; die interaktive Lichtinstallation im Museum. Oftmals wirkt, was da über die digitale Haut irgendeiner Blackbox huscht, fast wirklicher als die angeblich so harte Realität.

Die aktuellen technischen Konzepte haben ihre eigene faszinierende Magie, die Sache selbst aber ist nicht wirklich neu. Schon der Vorsokratiker Heraklit lehrte, alles fließe, entstehe und vergehe in einem Prozess ewigen Wandels. Und der Philosoph Tommaso Campanella war im 16. Jahrhundert davon überzeugt, Technologie werde nur so lange als Magie bezeichnet, bis ihre Prinzipien verstanden würden. Entsprechend definierte er Magie als all das, »was die Wissenschaftler in Nachahmung der Natur oder, um ihr zu helfen, mit Hilfe einer unbekannten Kunst vollbringen«. Ist, was einst Magie genannt wurde, heute also schlicht mittels neuartiger Verfahren technisch machbar und praktisch anwendbar geworden? Doch selbst wenn man die mächtigen Kräfte kennt, die in der Software wirken, erscheinen die Interfaces und »Mixed Realities«, die von ihr erzeugt werden, für den Nutzer und Betrachter, als seien sie durch Zauberei entstanden.

VR-Brille Microsoft HoloLens in Aktion
© Microsoft Germany Press

Das Prinzip Metamorphose

Das Prinzip der Metamorphose (von griechisch metamorphosis, Umgestaltung) kennt man aus der Mythologie, dem Schamanismus, aus Volkssage, Märchen und Literatur, wo es den Gestaltenwechsel einer Gottheit, eines mythischen Wesens oder eines Menschen beschreibt, sei dessen Umgestaltung dauerhaft oder temporär. Wenn etwa der Göttervater Zeus während seiner Liebesabenteuer gern die Gestalt wechselt, sich als Stier der Europa, als Schwan der Leda, als goldener Regen der Danae nähert, so setzen die digitalen Wechseloberflächen mehr oder weniger auf denselben Effekt. Mag er technisch auch weit entfernt sein vom täuschenden Spiel eines Bewohners des alten Götterhimmels – auch ein Algorithmus ist mehr als nur ein praktisch einsetzbares Programm.

Erlauben Photoshop, 3ds Max und andere Gestaltungsprogramme etwa das Morphen von Oberflächen mit wenigen Klicks, so wirkt das Verfahren nicht nur magisch; es trägt auch noch Züge jener Geheimwissenschaften, wie sie im Mittelalter und der Renaissance nur ein Magier beherrschte. Sogar das hinter den arkanen Praktiken eines solchen Zauberpriesters verborgene Geschäftsgeheimnis kehrt in ähnlicher Weise wieder, wenn jeglicher Einblick in die innere Logik des Algorithmus verweigert wird. Die maßgeschneiderte Werbung auf den Pinnwänden unserer sozialen Medien, das individualisierte Suchergebnis bei Google – auch die digitalen Zauberer von heute wollen ein machtvolles Wissen verkaufen.

Der Magier der Renaissance mag der Erste gewesen sein, der dem Menschen in der natürlichen Welt, die er nach seinen Bedürfnissen umgestalten könne, eine aktive Rolle zuerkannte. In der Zwischenzeit sind ihm viele als Lieferanten von Wundern aller Art nachgefolgt, vor alle der Wissenschaftler und der Ingenieur, seit einiger Zeit auch der  IT-Spezialist. Selbst im Image von Unternehmensberatungen ist die Nähe zu jenen Magi und Astrologen noch spürbar, die einst Fürsten und Patriziern Vorhersagen für Kriege oder kaufm.nnische Wagnisse anboten.

Eines indes hat sich verändert: Aus einer natürlichen Magie, die der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen versuchte, ist eine praktische Magie geworden. An Götter glaubt zwar keiner mehr; und auch die Zauberei zeigt ihre Tricks nur noch auf der Unterhaltungsbühne. Die praktische Magie aber wirkt – trotz aller Rationalisierungen. Es braucht nur einen kurzen Fingerzeig, schon vermischen sich unsere Realitäten.


Zuerst erschienen im designreport 05/2018. Beitragsbild © Microsoft Deutschland Presse.

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