Als Experte für nachhaltige Stadtplanung und Künstliche Intelligenz ist Siegfried Zhiqiang Wu weltweit gefragt. Seit dem Studium in Berlin bewegt er sich zwischen der deutschen und der chinesischen Bautradition. Ein Gespräch über Innovation, Kreislaufwirtschaft und die ideale Stadt.
Interview von Benjamin Pfeifer


Herr Professor Wu, als Architekt und Stadtplaner beschäftigen Sie sich intensiv mit den Herausforderungen des nachhaltigen Bauens. Was verstehen Sie darunter, und welche Rolle spielt Technologie in diesem Prozess?
Nachhaltige Stadtplanung bedeutet für mich, dass wir Städte entwickeln, die sich langfristig und im Einklang mit der Natur und den Menschen entfalten können. Das geht weit über den Bau neuer Strukturen hinaus. Nachhaltigkeit ist dabei immer ein Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft. Eine Stadt kann sich nur nachhaltig entwickeln, wenn sie einerseits Rücksicht auf ihre historischen Schichten nimmt und gleichzeitig flexibel für kommende Generationen bleibt. Technologie spielt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle, vor allem durch Simulationen und Datenanalyse. Moderne Werkzeuge ermöglichen uns, ökologische und soziale Auswirkungen besser vorauszusehen und realistisch zu simulieren – sei es für den Verkehr, die Ressourcennutzung oder auch die Klimaanpassung.
Es geht darum, Technologie als Brücke zwischen Mensch und Natur zu begreifen und somit auch die Städte resilient und lebensfähig zu halten. Unsere Rolle als Stadtplaner darf sich allerdings nicht in der Benutzung der neuesten Technologie erschöpfen: Wir müssen genau hinsehen und vor allem zuhören. Welche Bedürfnisse haben die Menschen? Welche Traditionen hat ein Ort? Unsere Aufgabe ist es, die Gene – wenn man so will: die DNA – der Stadt zu lesen und sie sensibel weiterzuentwickeln.
Wie kann Künstliche Intelligenz die Stadtplanung verändern und das Leben in Megastädten wie Shanghai verbessern?
Künstliche Intelligenz bietet eine völlig neue Dimension für die Stadtplanung. Sie kann riesige Datenmengen verarbeiten und Gesetzmäßigkeiten erkennen, die für uns Planer sonst unsichtbar bleiben. Stellen Sie sich vor, wir könnten das tägliche Leben einer Stadt in Echtzeit analysieren – wie sich Menschen bewegen, wann Verkehrsspitzen auftreten, welche Plätze besonders gut genutzt werden. KI kann helfen, städtische Systeme dynamischer, resilienter und effizienter zu machen. Ein gutes Beispiel ist das Verkehrsmanagement. In einer Stadt wie Shanghai ist die Verkehrssteuerung eine immense Herausforderung. KI kann Muster im Verkehrsfluss erkennen und Vorschläge machen, um Verkehrswege effizienter zu gestalten oder das öffentliche Verkehrssystem besser zu verteilen. Aber es geht nicht nur um Technologie allein – KI sollte im Dienst der Lebensqualität stehen, das ist mir besonders wichtig. Sie soll Menschen helfen, Probleme und Hindernisse in ihrem Alltag zu überwinden und zur ökologischen wie sozialen Balance beitragen.
„KI sollte im Dienst der Lebensqualität stehen, das ist mir besonders wichtig. Sie soll Menschen helfen, Probleme und Hindernisse in ihrem Alltag zu überwinden und zur ökologischen wie sozialen Balance beitragen.“
– Prof. Siegfried Zhiqiang Wu

Sie sind ein Verfechter der Kreislaufwirtschaft in der Architektur und Stadtplanung. Wie lässt sich dieses Prinzip in die Praxis umsetzen?
Kreislaufwirtschaft bedeutet, dass wir vorhandene Strukturen und Materialien möglichst wiederverwenden und sinnvoll umnutzen, anstatt sie abzureißen und Neues zu bauen. In Shanghai und anderen Großstädten gibt es zahlreiche alte Industrie- oder Universitätsbauten, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben. Solche Gebäude sehe ich als wertvolle Ressourcen, nicht als Müll. Sie sind Teil der städtischen Identität und tragen kulturelle und soziale Bedeutung. Ein konkretes Beispiel ist das Projekt der alten Expo-Gebäude in Shanghai, die wir nicht einfach abgerissen haben. Stattdessen wurden sie zu Kultur- und Gemeinschaftszentren umfunktioniert, die bis heute genutzt werden. Kreislaufwirtschaft ist also weit mehr als nur Materialrecycling – sie ist ein Verständnis für die Geschichte und die emotionale Bedeutung von Räumen in der Stadt.
Sie arbeiten an der Schnittstelle zwischen chinesischer und westlicher Architektur. Welche Unterschiede sehen Sie in der Stadtplanung der beiden Kulturen?
Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Geschwindigkeit und der Herangehensweise. In China herrscht ein starkes Tempo in der Stadtentwicklung. Viele unserer Städte sind in wenigen Jahrzehnten aus dem Boden gewachsen, und oft muss schnell gehandelt werden, um den Bedarf zu decken. In westlichen Ländern, besonders in Deutschland, nimmt die Planung und Beteiligung der Öffentlichkeit viel mehr Zeit in Anspruch. Das hat Vor- und Nachteile. In China erkennen wir zunehmend, dass Qualität und Langlebigkeit ebenso wichtig sind wie Geschwindigkeit. Wir schauen daher vermehrt auf westliche Konzepte, die langfristige Nachhaltigkeit betonen und das kulturelle Erbe in den Mittelpunkt stellen. Doch wir entwickeln auch unsere eigene Identität in der Stadtplanung. Die Herausforderung besteht darin, die besten Aspekte beider Ansätze zu integrieren, ohne unsere kulturelle Authentizität zu verlieren.

Inwieweit fließt die deutsche Baugeschichte in Ihre Arbeit ein, und wie verbinden Sie diese mit der chinesischen Tradition?
Die deutsche Baugeschichte inspiriert mich nach wie vor. Ich habe knapp zehn Jahre in Berlin gelebt und die Stadt des 19. Jahrhunderts – die klassischen gründerzeitlichen Stadtviertel – intensiv studiert. Berlin-Kreuzberg kommt meinem Ideal eines lebendigen Viertels, das von den Bewohnern angenommen wird, sehr nahe. Deutsche Architekten und Stadtplaner haben, vermittelt durch einen starken Denkmalschutz, eine Art entwickelt, Geschichte und Moderne zu verbinden. In China haben wir eine reiche, jahrhundertealte Baugeschichte, doch oft fehlt es an einem systematischen Ansatz, sie in die moderne Stadtgestaltung zu integrieren. Ich sehe es als meine Aufgabe, dieses historische Erbe lebendig zu halten und so zu gestalten, dass es auch den Anforderungen der Gegenwart gerecht wird. Hier können wir viel von der deutschen Präzision und dem Respekt für das Alte lernen.

Sie wurden gerade mit dem ICONIC Award 2024 für das Ningbo Academician Center in der Provinz Zhejiang ausgezeichnet. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie und Ihre Arbeit?
Der ICONIC Award ist für mich eine wunderbare Bestätigung meiner Arbeit und meiner Überzeugung, dass Architektur und Stadtplanung einen nachhaltigen und sozialen Beitrag leisten müssen. Das Ningbo Academician Center ist eine Art Innovations- und Akademiezentrum. Unser Ansatz war es, den verfallenen Campus umfassend zu renovieren und zu transformieren. Er ist ein Symbol für das, was Architektur leisten kann: Räume schaffen, die sowohl funktional als auch ästhetisch überzeugen und den Bedürfnissen der Menschen entsprechen. Heute umfasst das Areal zwei renovierte Lehrgebäude an den Rändern, ein neu errichtetes Besucherzentrum und einen neuen Vorlesungssaal. Die einzelnen Gebäude sind durch eine Brücke miteinander verbunden. Architektur, Städtebau und Landschaft bilden eine Einheit und entwickeln die Identität des Ortes weiter.

Prof. Dr.-Ing. Siegfried Zhiqiang Wu
Prof. Dr.-Ing. Siegfried Zhiqiang Wu zählt zu den international führenden Stadtplanern und Experten für KI-gestützte Planung. Als Professor an der Tongji-Universität und Gründer des College of Design and Innovation setzt er sich mit innovativen Methoden und Praxisansätzen zur Förderung globaler urbaner Nachhaltigkeit auseinander.
Zu seinen bekanntesten Projekten zählen die Expo Shanghai 2010, die Internationale Gartenbauausstellung in Qingdao 2014 sowie der Wiederaufbauplan für Dujiangyan nach dem Erdbeben in Sichuan. Er ist Mitglied zahlreicher Akademien und Verbände, darunter die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und die Chinese Academy of Engineering (CAE). Nach seinem Master in Stadtplanung an der Tongji-Universität 1985 promovierte er 1994 an der Technischen Universität Berlin im Bereich Stadt- und Regionalplanung und promovierte zum Thema „Globalisierung der Großstädte um die Jahrtausendwende“.

Über die ICONIC AWARDS 2024: Innovative Architecture
ZUKUNFTSWEISEND, GANZHEITLICH, INNOVATIV – Der international angesehene Award prämiert ganzheitliche Projekte aus den Bereichen Stadt- und Architekturgestaltung, Innenarchitektur, Produktdesign und Markenkommunikation.
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