Mobile Wohncontainer und Plug-In-Cities – lässt sich heute noch von den urbanen Utopien der 1960er- und 1970er-Jahren, wie dem Nakagin Capsule Tower, lernen? Haben Konzepte modularer Architektur noch Einfluss auf das Bauen? Und welche Wünsche stecken im heutigen Trend zu „Tiny Houses“?
Von Thomas Wagner.
Die Stadt gilt in allen Hochkulturen als das große Labor des Lebens, als ein sich ständig verändernder und erneuernder Organismus. Staufreie und klimaneutrale Mobilität, die Erzeugung sauberer Energie, gemeinschaftliches Zusammenleben und Arbeiten – an Vorstellungen, was die Stadt der Zukunft leisten soll, herrscht aktuell kein Mangel: Die Green City soll Stadtklima und Lebensqualität verbessern, die Smart City im Namen der Effizienz und des Klimaschutzes für eine komplett vernetzte und sensorgesteuerte Struktur sorgen. Die Herausforderungen könnten größer kaum sein, zumal sich auch in diesen Visionen die Beziehung zwischen Technologie und Urbanismus, bleibt sie abstrakt, als ambivalent erweist.
Als die Städte laufen lernten
Städte, so könnte man meinen, lassen sich vereinfacht als eine Kombination aus Infrastruktur und Immobilien beschreiben. Dabei wird übersehen, dass die globale Mobilmachung nicht nur Schiffe, Eisenbahnen, Flugzeuge und das Automobil hervorgebracht, sondern sich nach und nach auch des an sich immobilen Bereichs des Wohnens bemächtigt hat. Nicht nur die modernen Arbeitsnomaden, auch die Städte sollten fortan in immer neuen Innovationsschüben dynamisiert werden. Es liegt noch nicht allzu lang zurück, da propagierten die Architekten und Designer der Gruppe „Superstudio“ neue Idealstädte. In den Köpfen und auf dem Papier entstanden die frech und bunt auftretende, von Pop Art und Mondlandung inspirierte „Living“-, „Walking“- und „Plug-in“-Cities von Archigram ebenso wie die während des Kalten Krieges ersonnenen Wohnkapseln von „Future Systems“ und – last but not least – die zwischen Utopie und Dystopie schwankenden „New Babylon“-Modelle des niederländischen Malers und Bildhauers Constant. Bei all diesen Visionen fällt auf: Es handelt sich im großen Maßstab um sich über den Erdboden erhebende oder sich fortbewegende Stadtareale, im kleineren um serielle Zellstrukturen, bewegliche Systeme, Kapsel-Konzepte und Plug-in-Module. Ob sie, als sie entstanden sind, euphorisch oder warnend gemeint waren, zeugt am Ende nur von den Ambivalenzen, die jedem Blick voraus unweigerlich anhaften.
Der Prototyp einer Plug-in-City: Der Nakagin Capsule Tower
Ein Prototyp auf dem Weg zu einer „Plug-in-City“, wie sie sich die freundlichen Revoluzzer von Archigram und Co. vorgestellt hatten, war der „Nakagin Capsule Tower“ in Tokio, der nach langem Siechtum gerade abgerissen wurde. Als die britische Popband „Living in a box“ Mitte der 1980er-Jahre den gleichnamigen Song herausbrachte und fragte, „Am I living in a box, Am I living in a cardboard box?”, war die nomadische Transformation des urbanen Wohnens als Pop-Phänomen im Grunde schon wieder aus der Mode gekommen. Anders in Japan, wo Ende der 1950er-Jahre aus dem Begriff „shinchintaisha“ (was im Japanischen „Stoffwechsel“ bedeutet) eine Richtung des Bauens und der Stadtplanung entstand, die im Englischen als „Metabolism“ bezeichnet wird und den Austausch von Material und Energie zwischen Organismus und Außenwelt, ein regelmäßiges Ersetzen des Alten durch Neues beschreibt. Technoide Zukunftsvisionen und buddhistische Zyklusvorstellungen sollten einander ergänzen, der Lebenszyklus von Geburt und Wachstum auf Städtebau und Architektur übertragen werden. Flexible und erweiterbare Großstrukturen (vergleichbar Stamm und Ästen eines Baumes) sollten dies möglich machen, indem Module (vergleichbar mit den Blättern) bei Bedarf hinzugefügt oder ausgetauscht werden sollten. Wie Lebensadern sollten Bahnen, Straßen, Wege und Aufzüge mit den gebauten Strukturen zu urbanen Organismen verwoben werden, in denen zukünftige Massengesellschaften leben und arbeiten sollten. Die Kapsel fungierte dabei als Basiseinheit metabolischer Systeme. In Ergänzung zu den vertikalen Einheiten entstanden techno-organische Konzepte für „Floating Cities“, „Cluster in the Air“, eine „Helix City“ und viele Visionen mehr.
Der Nakagin Capsule Tower
Mit dem 1972 errichteten „Nakagin Capsule Tower“ reagierte der Architekt Kisho Kurokawa auf eine der zentralen Forderungen des Metabolismus. Der Bau bestand aus 140 Wohn- und Büroeinheiten in Containergröße, die in zwei Kerntürmen aus Stahl mit elf beziehungsweise 13 Stockwerken verankert wurden. Bei Bedarf sollten die Module ergänzt, kombiniert und neu arrangiert werden können. Ursprünglich umfasste jedes einzelne Modul Einbauten wie Schränke, Bad, Bett und eine komplette Technikeinheit mit Telefon und Tonbandgerät. Kurokawa hatte sich darüber hinaus vorgestellt, solche Kerntürme würden an vielen Stellen des Landes entstehen, womit die Bewohnerinnen und Bewohner mitsamt ihren eingerichteten Kapseln von Stadt zu Stadt hätten ziehen können. Aus diesem Teil der Vision wurde bekanntlich nichts. Die Neun-Quadratmeter-Einheiten mit ihren charakteristischen kreisrunden Fenstern im Space-Age-Stil der Siebzigerjahre blieben, wo sie waren. Gleichwohl gilt der Capsule Tower vielen als gebaute Utopie einer vertikal verdichteten Stadt als einer der wichtigsten Nachkriegsbauten Japans.
Innenansicht und Detail des Nakagin Capsule Tower © Nakagin Capsule Tower Preservation and Restoration Project
So faszinierend einerseits und so praxisfremd das Konzept andererseits erscheinen mag, so wenig dürfen dabei die ökonomischen Voraussetzungen des Metabolismus übersehen werden. Nicht nur spirituelle Tradition und technischer Fortschritt galt es in Einklang zu bringen. Es galt auch auf Wohnungsmangel und die ökonomischen Verhältnisse zu reagieren: In Tokio, wo Wohnraum extrem knapp und teuer wurde, versprachen kleine mobile Wohnkapseln Abhilfe. In einer übervollen Metropole in winzigen Boxen leben zu müssen offenbarte zugleich die Probleme, die daraus entstanden. So verkörpert der Nakagin Capsule Tower bis heute das andauernde Schwanken zwischen dem unverbrüchlichen Glauben an Technik und Fortschritt und dem Erschrecken über die Folgen realisierter Visionen.
Nukleare Stadt und personalisierte Container
Wie intensiv schon in den 1950er-Jahren über eine Transformation der Städte nachgedacht wurde, zeigt eine Serie von Skizzen, die Joe Colombo 1952 angefertigt hat. In seiner architektonischen Vision einer „Nuklearen Stadt“ imaginiert er kugelförmige Wohnhäuser, die sich der Sonne zuwenden, aber auch im Erdboden verschwinden können, wohin Infrastruktur und Industrieproduktion verlagert wurden. Im Rückblick verbindet sich auch hier der Optimismus, fast alles planen und realisieren zu können, mit einer Technikgläubigkeit, die wenig Rücksicht nimmt auf alternative soziale und ökologische Vorstellungen.
Leben mit und im Personal Container
Im Bereich der Inneneinrichtung setzte Colombo auf kompakte Miniküchen und sogenannte „Personal Container“, bewegliche und transportable Multifunktionsmöbel, die nach dem Prinzip eines Schrankkoffers konstruiert waren und nach dem Öffnen wie ein Paravent einen abgeschirmten Bereich schufen. Die Version „Study Container“ etwa enthielt neben einem ausklappbaren Schreibtisch ein Bücheregal und eine Kommode (man braucht nicht viel Fantasie um zu bemerken, dass einige aktuelle Designlösungen fürs Homeoffice von Colombos Containern inspiriert wurden). Es gab „Women-Container“ ebenso wie „Man-Container“, bis ins Detail auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten. Die Tendenz zu multifunktionalen Containerlösungen und Systemmöbeln ist auch bei anderen Designern in den Sechziger- und Siebzigerjahren unübersehbar. Kompakte, kostengünstige und modular aufgebaute Lösungen für kleine Wohneinheiten mit wenig Platz wie Colombos „Programmierbare Wohnsystem T14“ (1968), das aus einer Serie von Behältern aus gegossenen und laminierten Kunststoffpaneelen bestand, die mittels Magneten verbunden werden konnten und aus denen eine komplette Einrichtung entstehen konnte, lassen erahnen, wie sehr der Zeitgeist schon damals auf multifunktionale Raumkapseln, Container, Boxes und Blasen versessen war. Nicht nur Verner Panton richtete die kompakten Wohnzellen des Pop-Zeitalters in psychedelischen Farben als schützende Höhle für moderne Nomaden ein, auch Joe Colombo feierte 1969 bei der Kölner Möbelmesse in Zusammenarbeit mit Bayer mit seiner „Visiona I“ das Wohnen in funktional durchgestylten und medial vernetzten Zellen und Wohlfühlblasen.
Container und Raumkapsel
In den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren, abermals in den 1960er- und 1970er-Jahren, war der Glaube noch groß, mittels architektonischer Visionen und leicht zu verarbeitenden Materialien wie Kunststoff ließen sich die Berge der Zukunft versetzen. Mit der Entdeckung des „Raumschiffs Erde“ ging nicht nur Richard Buckminster Fullers Einsicht einher, es gebe für dieses keine Bedienungsanleitung. Wer von der Raumfahrt fasziniert ist und die Erde als abgeschlossenes Raumschiff mit der Menschheit als Besatzung begreift, für den sind Wohnkapseln selbstverständlicher Teil einer populären Kultur, die alle Lebensbereiche umfasst und verändert. Nicht zufällig lautete Friedrich Kieslers Leitmotiv, zur Formel verkürzt: „Function follows vision, vision follows reality“. Zu den Ikonen einer visionären Architektur zählt bis heute sein „Endless House“ – obwohl oder gerade, weil es nie realisiert wurde. Und auch in seinem „Correalismus“ propagierte er „das Bild eines unmittelbaren Verwirbelns der Umwelten“, das jede Trennung zwischen Objekten, Gewohnheiten und Wünschen aufhebt.
Auf welches aktuelle Bedürfnis antworten heutige Visionen?
Die Frage, die es heute zu beantworten gilt, lautet denn auch: Auf welches aktuelle Bedürfnis antworten smarte, grüne und mobile Stadtmodelle? Welche Probleme können sie lösen und welche Interessen werden mit ihnen verfolgt? Wie man an Projekten wie dem für Oslo konzipierten Hochhaus „Regenerative High-Rise“ sieht, sind bewegliche Raumeinheiten zum Arbeiten und Wohnen längst wieder en vogue, wenn auch in veränderter Form. In Zeiten, da Energie knapp wird und das Klima zu kippen droht, wird die Forderung, Städte und Gebäude sollten sich leicht und schnell an die Nöte und Bedürfnisse der Bewohner anpassen lassen, zunehmend wichtiger. Verdankt sich etwa der unübersehbare Trend zu bescheidenen „Tiny Houses“ im Grünen allein ökonomischem Druck oder lässt sich darin eine weniger urbane als naturselige Variante der Wohnkapsel erkennen? Ganz so, als hätte sich die techno-spirituelle Einbildungskraft japanischer Metabolisten mit amerikanischen Aussteigerfantasien, die urbane Wohnkapseln mit Thoreaus Hütte am See Walden Pond zu einem von der Klimakrise befeuerten Wunsch nach Ruhe, Frieden und Autarkie jenseits der Stadt verbunden.
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