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Der stationäre Handel ist tot – es lebe der stationäre Handel! Totgesagte leben ja sprichwörtlich gerne länger und ich bin das Gejammer leid, dass die Innenstädte aussterben und Produkte bald nur noch online gekauft und mit Drohnen hin- und hergeflogen werden. Natürlich verändern Digitalisierung und Pandemie den Retail. Nicht nur bei Millenials, auch bei Silver Agern wächst der Einfluss von digitaler Werbung und Social Media auf das Kaufverhalten. Aber eins ist in den letzten Monaten doch klar geworden: Der stationäre Handel bleibt fester Bestandteil einer wirksamen Omnichannel-Strategie.

Von Lutz Dietzold.

Eine US-Studie ergab zum Beispiel, dass die Zahl der Besucher einer Website in einem Einzugsgebiet um 37 Prozent steigt, wenn eine Marke einen neuen Shop eröffnet. Das kommt dem immer beliebteren Click & Collect und Click & Reserve entgegen. Hier werden Kleidungsstücke online bestellt oder reserviert und im Geschäft anprobiert. Bei Nichtgefallen spart man sich die Rücksendung. Und das ist nur ein kleiner positiver Aspekt des stationären Handels.

Zusammenwirken vieler Kräfte für eine Marken-Symphonie

Die Herausforderung für den Retail der Zukunft ist, Offline und Online intelligent miteinander zu verknüpfen. Denn jeder mögliche Kontaktpunkt mit dem Kunden hat seinen einzigartigen Vorteil und sollte dementsprechend optimiert und individuell genutzt werden. Die Kunst besteht darin, ein konsistentes kanalübergreifendes Kauferlebnis zu orchestrieren. Ich betrachte den Retailer als Dirigenten, der mit viel Gespür und Kundenwissen dafür sorgt, dass Marken über die gesamte Customer Journey ihr Profil wahren. So wird das Vertrauen in eine Marke nachhaltig gestärkt. Die Möglichkeiten an den verschiedenen Touchpoints sind vielfältig und fordern die Kreativität des Händlers heraus!

Vom Point of Sale zum Live-Erlebnis

Woher kommt die große Angst vor einem Aussterben des stationären Handels? Der Boom der Online-Shopping-Angebote zog bald den Vorwurf nach sich, dass Millenials und die Generation Z ohnehin nur noch digital einkaufen. Laut Studien ist das Einkaufsverhalten der jungen Generationen zwar digitalbasiert. Dennoch wollen sie weiterhin den stationären Handel nutzen und Produkte vor Ort testen. Allerdings hat sich die Erwartungshaltung verändert. Millenials wünschen sich zum Beispiel, personalisierte Angebote in Echtzeit auf ihr Smartphone zu erhalten und schnellere Bezahlungsoptionen via Smartphone nutzen zu können. Das Bedürfnis kann ich gut verstehen – wer stellt sich schon gerne in eine lange Warteschlange?

Die Generation Z, für die soziale Verantwortung und Umweltbewusstsein eine zentrale Rolle spielen, gibt lieber Geld für ein Erlebnis aus, als sich etwas Materielles zu kaufen. Live-Marketing ist ein Stichwort, mit dem man in Zukunft punkten kann. Offline muss mehr bieten als reinen Produktverkauf. Das geht im Webshop schneller. Wenn ich mir die Zeit nehme, einen Laden aufzusuchen, möchte ich mehr erfahren und ausprobieren. Das ist besonders relevant für erklärungsbedürftige Produkte. Ich kann mir im Internet hundert Tests und Videos ansehen, ohne die Antwort auf meine persönliche Frage zu finden oder die Haptik eines Produktes zu erfahren. Einkaufen im stationären Handel muss sich immer mehr zu einem spannenden Mix aus Konsum, Entertainment und Inspiration entwickeln.

Die Generation Z, für die soziale Verantwortung und Umweltbewusstsein eine zentrale Rolle spielen, gibt lieber Geld für ein Erlebnis aus, als sich etwas Materielles zu kaufen.

Dabei kann das Live-Erlebnis in Form einer Markeninszenierung, die alle Sinne anspricht und eine reale Interaktion mit Gleichgesinnten ermöglicht, ideal mit Social Media verknüpft werden. So bietet eine digitale Wall im Nike Flagshipstore in Paris, die mit Installationen in New York und Shanghai verknüpft ist, die Kontaktaufnahme mit der globalen Sport-Gemeinschaft. On- und Offline-Kanäle lassen sich perfekt ergänzen. Die individuelle Customer-Journey legt den Bedarf und das Zeitfenster fest, kanalübergreifende Strategien können allen Kundentypen und Generationen gerecht werden. Für kleinere Einzelhändler, die keine eigenen Social Media-Kanäle bespielen können, bieten sich lokale Portale an. Hier gibt es bereits einige schöne Beispiele von Händlern, die sich zusammengeschlossen haben – gemeinsam Weichen für die Zukunft stellen ist die Devise.

Der Marktplatz für den Handel von morgen

Marktplätze waren schon in der Antike von großer Bedeutung. Seitdem hat sich viel geändert. Wurden Märkte in den letzten Jahren vor allem von Touristen wegen ihres Lokalkolorits aufgesucht, werden heute weltweit lokale Märkte wieder von den Einheimischen frequentiert. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, regionale Waren zu kaufen – um lokale Produzenten zu unterstützen, aus nachhaltigen Gründen und weil das Vertrauen in regionale Produkte nach diversen Skandalen der Lebensmittelindustrie gewachsen ist.

Die spannendste Entwicklung für mich ist allerdings eine andere: das Bestreben alteingesessener Brands, markenübergreifende On- und Offline-Marktplätze zu bilden. Warum das Feld Amazon und Co. überlassen, wenn man sich in der eigenen Branche und dem Land viel besser auskennt und individuellere Services anbieten kann? Diese Vernetzung von Marken ist für alle von Vorteil – sowohl für die Produzenten als auch für die Händler und nicht zuletzt für den Endverbraucher. Rose Bike, ein Radhändler aus Bocholt, macht es vor: 1907 gegründet, wird das Unternehmen nun von der Urenkelin des Gründers und ihrem Mann für das neue Jahrtausend fit gemacht. Rose möchte sich zum Marktplatz rund um das Thema Räder wandeln. 80 Prozent des Umsatzes werden bereits online erzielt, nicht nur mit der eigenen Marke, sondern auch von anderen Herstellern, die ihre Produkte auf der Plattform auf Provisionsbasis verkaufen können. Digitale und stationäre Serviceangebote verschmelzen, der Umsatz steigt, eine Expansion ist bereits geplant.

Waren Marken früher reine Einzelkämpfer und hatten die Befürchtung, Kunden an den Wettbewerb zu verlieren, werden heute Türen geöffnet – gemeinsam ist man stärker und kann Vertrieb und Marktplätze gestalten. Bei aller Vernetzung – online, offline, markenübergreifend – müssen Marken natürlich darauf achten, ihr Profil zu wahren. Ich bin sicher, dass dies gelingen kann. Hier sind Mut, Kreativität und neue Konzepte gefragt: eine Herausforderung und Chance für Handel wie für Marken gleichermaßen!

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Lutz Dietzold, Geschäftsführer Rat für Formgebung

Lutz Dietzold, Geschäftsführer Rat für Formgebung © Lutz Sternstein

Lutz Dietzold (*1966) ist seit 2002 Geschäftsführer des Rat für Formgebung. Zuvor war er selbstständig in der Designkommunikation tätig und verantwortete als Geschäftsführer des hessischen Designzentrums die strategische Neuausrichtung der Designförderung.

Fundiert auf seinem Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Germanistik in Frankfurt hat Lutz Dietzold langjährige Expertise in den Bereichen Design, Marke und Innovation. Sein Augenmerk gilt zudem der Förderung von Design und Designnachwuchs. Seit 2011 ist er Beiratsmitglied der Mia-Seeger-Stiftung und Mitglied im Vorstand der Stiftung Deutsches Design Museum, dessen Vorsitz er 2020 übernahm. Im selben Jahr wurde er in den Beirat des Dieselkuratoriums berufen und setzt sich dafür ein, die Vorreiterrolle wirtschaftlich erfolgreicher Innovatoren zu stärken.

Zudem engagiert sich Lutz Dietzold für die verstärkt internationale Ausrichtung des Rat für Formgebung und seines weltweiten Netzwerks von führenden Unternehmen aus Industrie und Wirtschaft. Dazu zählt der Aufbau einer Tochtergesellschaft in China.

Lutz Dietzold veröffentlicht regelmäßig Beiträge und hält national und international Vorträge zu einer Vielzahl von Themen. Daneben ist er Mitglied in zahlreichen Gremien und Jurys sowie Projektbeirat des Bundespreis Ecodesign des Bundesumweltministeriums.

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