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Der Publizist und Wissenschaftler Jörg Stürzebecher ist am 16. August 2020 in Frankfurt am Main im Alter von 58 Jahren verstorben. In Gedenken an ihn veröffentlichen wir seinen Artikel „Schmalfett im Raster“ erneut. Er erschien erstmals 2003 in der anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Rat für Formgebung von Stephan Ott redaktionell konzipierten Publikation Anlage.1 spezial, S. 21-32.

Zum Nachruf zu Jörg Stürzebecher


Schmalfett im Raster

Von Jörg Stürzebecher

WER AN DEUTSCHE GEBRAUCHSGRAFIK und visuelle Kommunikation der letzten fünfzig Jahre denkt, der wird sicherlich Willy Fleckhaus als twen– und Suhrkamp-Gestalter erinnern, auch ulm mit Froshaug und Aicher, die Kasseler Schule mit ihren Bildfindern Hillmann und Rambow und den Schriftbildnern Chruxin, Schmidt und Schmidt-Rhen; er wird den Stuttgarter Einfluss auf Industriegrafik und Firmengesichter weltweit – Stankowski, Kapitzki und Duschek – herausstellen und auf Schriftgestalter wie Günter Gerhard Lange oder Kurt Weidemann hinweisen, eines aber wird er nicht: die besondere Bedeutung des Rat für Formgebung für Typografie und grafische Gestaltung betonen. Vielleicht wird er hier kurz innehalten und vergegenwärtigen, dass der Rat in seinem Selbstverständnis mit Formgebung eben Produktgestaltung meint und darauf feststellen, dass es Entsprechendes für die grafische Gestaltung in der Bundesrepublik nicht gibt. Da aber der Rat während der letzten fünfzig Jahre eine erhebliche Anzahl eigener Publikationen veröffentlicht hat, scheint es lohnend, nachzusehen, inwieweit sich grafische Tendenzen der Zeiten in diesen Publikationen widerspiegeln. Am Anfang der Rat-Veröffentlichungen stehen neben der in Nachfolge von Werkbund-Aktivitäten erstellten Deutschen Warenkunde die Jahresberichte der ersten Geschäftsführerin Mia Seeger. Brotschrift des Fließtextes in eine leichte Grotesk, Eigennamen werden versal gesetzt, Betonungen halbfett ausgezeichnet. Schmalhalb-fett sind Titel und Zwischenüberschriften gesetzt, die Pagina wie die groß geratenen Kapitelziffern finden im Bundsteg reichlich Raum. Auf Bilder wird zunächst verzichtet, gedruckt wird auf leicht gelbem Werkdruckpapier und das ganze in einen Umschlag aus getöntem Maschinenbütten eingeschlagen. Das ist nicht eben aufregend, aber es geht im Inhalt auch nicht um Ereignis, sondern um Berichterstattung. Da passt solche Nüchternheit. Werkgerecht wurde solche Gestaltung in der Entstehungszeit genannt, wo einzig die rostende Drahtheftung stört. Die hohen schmalen Titelbuchstaben im Symmetrieblock gemahnen an den Wiederaufbau mit den sich wiederholenden Rasterfassaden der Geschäftshäuser. Ohne Dekor vermitteln Material und Satz doch Bedeutung, da Maschinenbütten sehr schmutzempfindlich ist und damit der Bericht kein Prospekt, der zwischen Hauptgericht und Nachspeise durchblättert werden kann. Typografisch vermittelt der Bericht Bekanntes: Die schmalen Lettern sind aus der Industrie-werbung vertraut, das gelbe Innenseitenpapier und der Umschlag erinnern an gehobene Belletristik der Jahre. Eine Kombination, die durchaus überzeugt, denn wenn Mia Seeger auch über industrielle Formgebung berichtet, so tut sie das doch in einer sprachlich sehr persönlichen Weise, die das Wort „ich“ nicht scheut.

Zunächst noch Unsicheres in der Gestaltung findet bald Klärung, im Bericht für das Jahr 1959/1960 sind die Auszeichnungsarten reduziert, die Akzidenz-Grotesk besetzt asymmetrisch den Umschlag. Entscheidendes passiert allerdings mit der 1960 veröffentlichten Informationsschrift 2: Die Rastertypografie, in Fachkreisen bekannt geworden durch die 1958 erstmals erschienenen Zeitschriften ulm (Anthony Froshaug) und Neue Grafik (Richard P. Lohse, Josef Müller-Brockmann, Hans Neuburg, Carlo Vivarelli), hält Einzug im Rat. Hans Haderek integriert auf den Innenseiten Bilder und Kurztexte zu einem lebendigen Sachbüchlein, längst nicht nur über den Rat, sondern über den Stand der Dinge vorn Schiffssteuerstand bis zur Silberschale. Souverän auch die Umschlaggestaltung durch Anton Stankowski, der nicht den Innenseitenraster aufnimmt, sondern in konstruktiver Darstellung Prinzipien des typografischen Rasters in einer Progression erläutert. Kurz darauf entwirft Stankowski dann das noch heute verwendete Signet des Rat für Formgebung.

Das 196o für Kompaktinformationen entdeckte Quadratformat wird Rat-Berichte und die Kataloge des Bundespreis Gute Form bis in die 198oer Jahre bestimmen. Dabei überzeugt die Gestaltung der Gute Form-Kataloge der Jahre 1972 und 1973 durch überlegte Materialästhetik. Christian Ahlers, der beide Bändchen entwirft, lässt 1972 das Gute Form-Signet in einer Glühbirne drucktechnisch leuchten, indem er den Folienumschlag rückseitig schwarz serigrafiert und die nächste Seite gelb bedruckt. Der experimentelle Umgang mit Material und Farbe erinnert an die seinerzeit aktuellen Kunstströmungen zwischen Kinetik und Pop-Art. Ein Jahr später kommt dann beim Rat das Ende des bis dahin favorisierten Blocksatzes und der Beginn der reproduzierten Schreibmaschinenschrift.

Es ist die Zeit nach der antiautoritären Revolte um 1968, eine Zeit vielfältiger Proteste und Initiativen, in der nicht ewige Werte verlangt sind, sondern aktuelle Diskussionen. Nicht das fertige Werk, sondern die Anmerkung bestimmt etwa den universitären Alltag, in dem Inhalte wichtiger sind als Formen und Raubdrucke, und hektografierte „Paper“ kursieren. „Gestaltung“ wird dabei vielerorts als suspekt oder bloß affirmativ verachtet. Der Rat reagiert auf die veränderten Interessen durchaus, indem er die Grundbedürfnisse im Wohnbereich beim Bundespreis 1973 thematisiert.


Christian Ahlers gestaltet den Katalog des Preises als Montage, die die unterschiedliche Herkunft des Text- und Bildmaterials betont und dieses nicht mehr in einen Raster einpasst. Da wird ein Brief faksimiliert und Texte werden einmal composergesetzt, dann wieder mit der elektrischen Schreibmaschine geschrieben. Bezeichnenderweise wird auch das Wort „Gute Form“ in den Hintergrund gedrängt und der Inhalt in bedrucktes Packpapier gepackt. Dass Gestaltung auch Information ist, wie Hans Rudolf Lutz 1977 formuliert, dass Schreibmaschinenschrift formal innovativ eingesetzt werden kann – erinnert sei hier an die frühen Kinderbuchgestaltungen von Ann & Paul Rand oder die Schreibmaschinentypografien von Helmut Schmidt-Rhen, Wolfgang Schmidt oder Christian Chruxin -‚ dies ist im Rat Mitte der siebziger Jahre kein Thema. Ökonomische Verarbeitung von Information ist gefragt, als 1972 der erste Design-Report erscheint, der Titel gestaltet mit LetraSet, der frühen Typografie für Nicht-Typografen. Einseitig im Schnelloffset bedrucktes, billiges Papier, das ganze zum schnelleren Zerlegen einfach geklammert, das ist nicht werk-, aber informationsgerecht. Und passt zu einem Gestaltungsbegriff, der handschmeichelnde Formen als unexakt ablehnt und statt dessen postuliert: „Design ist messbar“. Freilich steht der Rat mit dieser allseitig reduzierten Gestaltung nicht allein, auch große Verlage setzen auf den neuen Schnellsatz, der in Reihen wie Fischer Format, hanserrnanuskripte oder Luchterhand Typoskript das holzhaltige Papier zum avantgardistischen Potenzial verklärt.

Die 1980er Jahre können im Produktdesign wie in der Gebrauchsgrafik dadurch charakterisiert werden, dass einerseits der Spätfunktionalismus weitergeführt wird und dabei nicht selten in Konvention erstarrt, andererseits Experimente zwar gefeiert, im Regelfall aber nur – wenn überhaupt – kurz produziert werden. Im öffentlichen Bewusstsein verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen Mode und Gestaltung, was auch an der inflationären Verwendung des Begriffes Design ablesbar ist. Unentschieden zeigen sich auch die Veröffentlichungen des Rates. Als Beispiel einer Fortführung funktionalistischer Tradition kann hier der Katalog Design: Vorausdenken für den Menschen (1984) stehen. Der Gestalter Eckhard Neumann nutzt diese erste Präsentation bundesrepublikanischer Gestaltung in der DDR dazu, überlegene Technologie als alltäglich vorzustellen und damit Sehnsüchte zu wecken. Neumann, ehemals Schüler der HFG ULM und Forscher der Gestaltungstraditionen vor allem im Umfeld des Konstruktivismus’, bilanziert im Futura-Satz das sachliche Gestaltungspotenzial in der Bundesrepublik unter vollständiger Auslassung der Tendenzen des Neuen Deutschen Designs.

Dass Design keines-falls gesellschaftlich neutral ist, zeigt sich auch in der Entscheidung, ausschließlich Farb-abbildungen in dem Katalog zu verwenden, eine angesichts vergleichbarer DDR-Publikationen deutliche Betonung westlicher Überlegenheit.

Neben solchen Fortführungen kommt es auch zu produktiven Entdeckungen. Vieles, was Anfang bis Mitte der 1980er Jahre unter dem der Pop-Musik entlehnten Label New Wave produziert wird, ist Remake wesentlich älterer Gestaltung. Vor allem die Arbeiten des in Basel lehrenden Wolfgang Weingart werden zwischen Los Angeles und Berlin unverstanden geplündert, um der neuen Unübersichtlichkeit das passende Outfit zu geben. Auch der Rat beugt sich dem schicken Lifestyle-Diktat, wie Peter Gornigs Katalog für den Bundespreis Gute Form 1985/86 zum Textildesign belegt. Flächenschichtungen und geometrisierende Einzüge illustrieren die anbiedernde Sprache des Kataloges, der am Ende fragt: „Zu wenig Bock auf gute Form?“

Der Umzug des Rates auf das Frankfurter Messegelände 1987 bedeutet eine inhaltliche Zäsur. Der neue Geschäftsführer Michael Erlhoff hat sichtlich Spaß daran, die bis dahin den Rat bestimmenden Industrie-Designer zu verunsichern, etwa durch die kurzfristige Präsentation der Capitello-Sitzgelegenheit (Studio 65) im Rat-Foyer an einem Sitzungstag des Präsidiums. Ob italienisches Anti-Design oder geschweißte Blechregale der „Black&Decker-Generation“, Erlhoff läuft nicht dem Zeitgeist hinterher, sondern nimmt ihn vorweg. Und er weiß, dass Gestaltung Neugier wecken kann, also Teil der Innovation ist. Er setzt auf Quereinsteiger und junge Mitarbeiter, gibt Spezialinteressen im Design Report Raum und schätzt das Detail als Gradmesser der Qualität. Vor allem durch den damals noch in Offenbach studierenden Michael Lenz wird die Formatvielfalt in Rat-Publikationen zum Normalfall. Der Objektcharakter der Publikationen beginnt, hier ein kompaktes Kleinformat für die International Edition (1988; Elisabeth Budde), dort ein dickpappiger Umschlag, der wenigen Seiten Gewicht gibt, oder auch die Hinterfragung des Gebrauchswertes wie in den Katalog Die Anschaulichkeit des Unsichtbaren (1988; Michael Lenz), wo das ungewohnte Format einen strengen Raster verbirgt. Und fehlt einmal versehentlich der Autorenhinweis, so wird eben handsigniert und aus der Basisinformation das ironische Zitat eines Künstlerbuches. Michael Lenz‘ Arbeit begründet den gestalterischen Pluralismus der Rat-Veröffentlichungen der vergangenen fünfzehn Jahre.


Da können Christof Gassner und Catharina Bormann 1992 in Der breite und die schmalen Wege Recycling-Papier der Hochglanzästhetik gegenüberstellen, da geben Tibor Kalman/Kim Maley 1997 in bestem Fake-Design der MTV-Generation Illustrationen zum Vorsitzenden Rolf Fehlbaum, und da scheitert ein Jahr später Surface mit endlosen Versalzeilen, falsch gesetzten Auslassungszeichen und unlesbaren Text-Bildeinfügungen im Katalog Bundespreis Produktdesign.

Designpublikationen, einstmals entsprechend dem in den sechziger Jahren durchgesetzten Begriff „Design“ als Sachaussagen gestaltet, nähern sich nun im Rat gelegentlich dem Kunst-, vor allem dem Künstlerbuch an. So erinnert die Gestaltung der Anthologie Beyond the Borders (Dorthe Meinhardt/Sven Voelker) etwa an die Textbilder und -skulpturen von Peter Downsbrough oder Lawrence Weiner. Der Rat erweist sich hier auf der Höhe des Zeitgeistes, der Motorräder in Kunstmuseen ausstellt und Museen für Kunsthandwerk in solche für angewandte Kunst umbenennt.

Und gegenwärtig? Notwendig ist das, was heute im Auftrag des Rat für Formgebung gestaltet wird, zeitgenössisch, ob es auch zeitentsprechend ist, möchte der Autor nicht vorgeben.

Er muss es auch nicht. Denn das aktuelle Beweismaterial liegt in den Händen der Leser.

Beides Geschichte: Das frühe CAD-Design und die DDR, Katalogumschlag 1984 (Eckhard Neumann).


Erstveröffentlichung in: ANLAGE.1 Spezial. 50 Jahre deutsches Design. Hrsg. Andrej Kupetz für den Rat für Formgebung, Frankfurt/M., 2003

Bildnachweis: Rat für Formgebung

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