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Stephan Merkle ist bei ABB Building and Home Automation Solutions angetreten, um ein neues Designteam aufzubauen. Im Interview erklärt der Global Head of Design, wie er globale Designkonsistenz mit nutzerzentrierter Innovation verbindet, um emotionale Kundenerlebnisse zu schaffen und das volle Potenzial der Marken ABB, Busch-Jaeger, Niessen und EVE auszuschöpfen.

Interview von Thomas Huber

Stephan Merkle ist seit Oktober 2023 Global Head of Design ABB, Building and Home Automation Solutions | © ABB

Herr Merkle, Sie sind noch recht neu in der Rolle des Global Head of Design. Warum hat ABB diese globale Funktion geschaffen?

ABB will damit eine zentrale Instanz schaffen, um unternehmensübergreifend begeisternde Kundenerlebnisse zu gestalten. Deshalb haben wir die Designdisziplin für die gesamte Produktgruppe zur strategischen Funktion weiterentwickelt. Unsere Vision im Team ist, dass wir in den relevanten Prozessen der Produktentwicklung und der Gestaltung der Kundenbeziehungen einen wichtigen Beitrag leisten wollen. Wir wollen dabei wichtige Verantwortungsbereiche übernehmen. Diese reichen von der globalen Design-Konsistenz bis hin zur lokalen nutzerzentrierten Innovation und Differenzierung. Gleichzeitig unterstützen wir die BHAS-Marken wie ABB, Busch-Jaeger, Niessen und EVE durch ausführende Industriedesign- und UX/UI-Designaktivitäten sowie der Guideline-Erstellung für unterschiedlichste Produktentwicklungsbedarfe.

Die vier genannten Marken sind ja bereits sehr stark im Markt vertreten und haben sich auch im Design stark profiliert. Wo sehen Sie da Schwächen?

Ich sehe bei den vier starken Marken der ABB-Gruppe keine Schwächen. Wir wollen aber gemeinsam mit den Markenverantwortlichen die Stärken stärken und die Designentscheidungen unmittelbar aus den jeweiligen Markenwerten ableiten. Damit können wir auch in einem klassischer ingenieurgetriebenen Marktumfeld neben den technischen Features auch die emotionale Dimension der Kundenbeziehung stärker ausspielen. Wenn das Produkterlebnis mit den Aussagen der Markenkommunikation übereinstimmt, steigt erfahrungsgemäß die Kundenzufriedenheit und Wiederkaufbereitschaft. Eine bessere Ausschöpfung der Markenpotentiale eröffnet deshalb der ABB-Gruppe ein großes Potential an Wachstumschancen.

Wie gehen Sie dabei vor? Wie emotionalisiert man ein technologiegetriebenes Unternehmen wie die ABB-Gruppe? 

Einfach, indem man die vorhandene Designkompetenz stärker für die Gestaltung übergreifender Kundenerlebnisse und für die Emotionalisierung der Kommunikation nutzt, um die Stärken der einzelnen Marken auch vollständig auszuspielen. Da gibt es große Potentiale. Zum Beispiel wollen bestimmte Zielgruppen im Marktsegment der gut-informierten, wertorientierten und digital-affinen Kunden bestimmte Produkte einsetzen, um Geld oder Energie einzusparen, Komfort und Well-Being zu erleben und um mehr Sicherheit zu erhalten. Bislang sprechen die Marken der ABB nur den Teil der rationalen Motive vollständig an, und weniger die emotionalen und lebensweltlichen Dimensionen, die bei der Kaufentscheidung eine mindestens genauso wichtige Rolle spielen. Denn die gleichen Nutzer wollen vielleicht auch mit originellen und smarten Produkten Spaß an der kreativen Nutzung und Unterhaltung haben. Wer ein tolles technisches Produkt hat und dann auch noch auf dem Klavier der Emotionen spielen kann, erhöht die Begehrlichkeit und Inspiration einer Marke ganz entscheidend. 

Die Binsenweisheit aller Designer*innen lautet ja, dass man erst die Kunden besser kennenlernen muss, um deren Produkt- und Markenerlebnis zu verbessern …

Die ABB-Marken kennen ihre Kunden schon sehr gut. Hier können wir auf stabile Kundenbeziehungen aufbauen. Unsere Aufgabe ist es, das Wissen um gesellschaftliche Trends und Befunde aus Studien zu den Marktbedürfnissen, Zielgruppenanalysen und weitere Consumer-Insights zu operationalisieren. Dieses Wissen wird unternehmensintern für die einzelnen Bereiche passgenau aufbereitet und dient dann als Diskussionsgrundlage in allen relevanten Geschäftsentscheidungen, die die Produkt- und Nutzererlebnisse definieren. Wie in allen anderen Unternehmen auch, ist es ganz entscheidend, die Designfunktion so früh wie möglich an dem Produktentwicklungsprozess zu beteiligen, um die Werte der Marke von Anfang an konkret für die Ausgestaltung der Kundenbeziehungen zu nutzen. Das ist nicht nur für uns Designer spannend, sondern für alle Beteiligten, die am Nutzungserlebnis arbeiten. Die Analyse sozio-ökonomischer und kultureller Trends erweitert dabei den Horizont und sorgt für Inspiration bei allen Beteiligten. Und es zeigt sich, dass eine intensive Nutzerforschung auch sehr schnell das Kundenerlebnis verbessern kann. Die Aufgabe der Designer ist darüber hinaus, aus der Markenpositionierung der einzelnen Marken die jeweiligen Design-Stories abzuleiten und um emotionale und ästhetische Differenzierungsmerkmale zu ergänzen. Damit entstehen im Laufe der Zeit global anwendbare Design-Prinzipien für jede Marke, die für die Kontextualisierung und das Alignment der einzelnen Produktdesign-Aktivitäten und für mehr interne Vernetzung bei der Entwicklung des übergreifenden Kundenerlebnisses sorgen. 

Stephan Merkle (Global Head of Design) im Austausch mit Dörte Thinius (Global Head of Product Design) und Till Martensmeier (Head of UX/UI Design) | © ABB

Sie haben in Ihrer Funktion auch eine globale Verantwortung. Wie kann man sich das vorstellen?

Die ABB-BHAS-Gruppe ist mit seinen Marken in vielen Märkten der Welt vertreten und teilweise auch ganz unterschiedlich positioniert. Da sind kulturelle und historisch ganz spezifische Faktoren zu berücksichtigen. Da braucht man viel Fingerspitzengefühl und sollte sich unbedingt auf die lokalen Insider verlassen und nicht zu zentralistisch vorgehen, was ja gerade Designern oft schwerfällt. Aber die regionalen Unterschiede sind überhaupt nicht trivial. Da geht es um unterschiedliche technische Spezifikationen im Stromnetz, Regulierungsvorgaben, Zertifizierungen, Installationsgewohnheiten, Ausbildungsstandards bei den Installateuren und so weiter. Es gibt auch ganz unterschiedliche lokale Bedürfnisse in Bezug auf Ästhetik, Materialität, Farben, kulturelle Eigenheiten und soziale Mentalitäten. Da kann man nicht mit einem globalen Kamm durchpflügen.

Designer werden ja oft belächelt, weil sie in ihrem Elfenbeinturm von Schönheit und Einfachheit träumen, aber von der Arbeit an der Kundenfront keine Ahnung haben. Wie verankern Sie diese Design-Prinzipien in einer so großen, globalen und komplexen Organisation wie der ABB-Gruppe mit ihren ganz unterschiedlichen Marken?

Wir wollen nicht als Experten im Elfenbeinturm versauern. Wir haben den Anspruch, unsere Arbeit im gesamten Unternehmen demokratisch verfügbar zu machen. Mit einer strukturierten Arbeit am Kundenerlebnis entwickelt sich mit der Zeit ein klares und einfaches Regelwerk, das allen Mitarbeitenden, die an der Herstellung des Kunden- und Produkterlebnisses arbeiten, eine effiziente Hilfestellung anbietet und vor allem unternehmensübergreifend die nötigen Standards definiert. Das erhöht die Prozesseffizienz des gesamten Produktentwicklungsteams immens – Stichwort Time-to-Market. Alle können darauf zurückgreifen und sie nutzen. Im Idealfall gibt es dann gar keine Design Police, die ständig mit Blaulicht, quietschenden Reifen und einem Megafon eingreifen muss. Das will ja niemand.

Das Designteam von ABB und Busch-Jaeger setzt sich beim Produktdesign intensiv mit den Kundenansprüchen und -bedürfnissen auseinander | © ABB

Was haben Sie in Ihrer neuen Funktion bisher erreicht?

Wir haben zunächst einmal eine Roadmap bzw. einen Stufenplan entwickelt, mit dem die Designfunktion ihren Beitrag bei der Gestaltung des Kundenerlebnis Schritt für Schritt in enger Abstimmung mit den Marken- und Produktteams angehen wird und Design immer mehr in den unterschiedlichen Phasen der Innovations- und Produktentwicklung verankert.

Wir haben zusätzlich ein Experience Lab gegründet, in dem wir ganz unterschiedliche Experten aus allen Disziplinen zusammenbringen. Da legen wir das Produkt auf den OP-Tisch und betrachten es aus allen Perspektiven. Da gibt es auf der einen Seite den Produktmanager, dem die Time-to-Market wichtig ist, und auf der anderen Seite ist der Ingenieur, der erfahrungsbedingt auf ganz bestimmte LEDs setzt. Dann geht es um die Haptik von Oberflächen, das Sound-Design eines Lichtschalters oder um die unterschiedlichen ästhetischen Anforderungen zwischen einem skandinavischen und einem italienischen Markt. Alle diese kleinen Entscheidungen beeinflussen das Nutzererlebnis, welche das Designteam bewusst in solchen Formaten zum Thema macht und im Ergebnis in Experience Requirements für die weitere Produktentwicklung festhält. Deshalb ist dieses Experience Lab ein spannendes Experiment, dass schon heute große Potenziale aufzeigt und im Unternehmen bereits als enormer Mehrwert wahrgenommen wird. 

Glauben Sie, dass Design in einem großen Konzern dabei helfen kann, den Unternehmenswert zu steigern?


Wichtig sind am Anfang auch Pilotprojekte, die nachweisen, dass der Designhebel tatsächlich zu einer stärkeren Kundenbindung, einer höheren Kundenzufriedenheit und Wiederkaufsbereitschaft führt und die Akquise von Neukunden stark unterstützt. Dieser Wirkungsnachweis gepaart mit interner Überzeugungsarbeit wird dazu führen, dass die Integration der Designfunktion in den gesamten Produktentwicklungsprozess als Erfolgsfaktor im Unternehmen angesehen wird. Mit dem wachsenden Wissen über die Nutzerbedürfnisse und Erlebnisdimensionen wird sich im Laufe der Zeit im gesamten Unternehmen ein großer Schatz von Business Intelligence aufbauen.

Diese Business Intelligence kann dann für die Entwicklung neuer Produkte und systemischer Lösungen genutzt werden, weil das Unternehmen dann sehr viel besser weiß, welche Marktbedürfnisse welche Innovationen benötigen. Damit ist auch die Chance deutlich erhöht, dass diese Innovationen auch erfolgreich im Markt sein werden und damit ganz wesentlich zum Wachstum des Gesamtunternehmens beitragen. Ich bin davon überzeugt, dass die Designfunktion wertorientierte Geschäftsentscheidungen befördert. Denn mit den entsprechenden Design-Prinzipien können die Produkt- und Dienstleistungsprozesse fokussierter und effizienter durchgeführt und die Risiken von Fehlentwicklungen minimiert werden. Damit steigen die Chancen, mit einem technisch und emotional perfekten neuen Lösungsangebot bestehende und neue Kunden zu überzeugen. Mit Hilfe der Designfunktion entstehen nützliche und sehr begehrenswerte Portfolios, die dann auch einen Premiumpreis rechtfertigen. Durch die bessere Ausschöpfung von Marktpotentialen kann die Designfunktion deshalb durchaus einen wirkungsvollen Beitrag zur Steigerung des Unternehmenswertes beitragen. Design ist Equity!

Eine erkennbare Designkonsistenz innerhalb der Produktlinien ist entscheidend. Touchpanels und Lichtschalter sind die sichtbare Verkörperung der Gebäudetechnik | © ABB

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