Kevin Rouff und Paco Böckelmann zeigen, wie sich industrielle Nebenprodukte in universelle Materialien transformieren lassen. Das Ziel der Amsterdamer Designer alias Studio ThusThat: Verborgene Ressourcen nutzbar machen, Materialästhetiken hinterfragen und neue Perspektiven für nachhaltiges Design vermitteln. Ein Porträt.
von Markus Hieke

Man kann das, was Kevin Rouff und Paco Böckelmann in den letzten Jahren vollzogen haben, einen echten Senkrechtstart nennen. Eben noch Uniabsolventen, klopfen längst Forschungseinrichtungen und Industrieunternehmen bei ihnen an. Begegnet sind sich die beiden beim kombinierten „Innovation Design Engineering“-Studium am Imperial College und am Royal College of Art in London. Als sie 2019 – damals noch mit zwei Kommilitonen – zum Thema Rotschlamm experimentierten, reifte eine Erkenntnis schnell: Nicht die Überreste intensiver Industrien sind das Problem. Sondern die Tatsache, dass es noch immer kaum nennenswerte Bemühungen gibt, die Massen an mitunter giftigen Abfallprodukten sinnvoll weiterzuverwenden. Ihr Blick galt dem Abbau und der Verarbeitung von Bauxit, dem Ausgangsgestein für die Aluminiumproduktion.

Von Tabu zu Tableware
Der Nutzen des begehrten Leichtmetalls ist unumstritten, der Umgang mit dem Rotschlamm ist es dagegen schon. Um sich das mal zu vergegenwärtigen: Für jede Tonne des Wertstoffs Aluminium fällt gut eineinhalb Mal so viel des ätzenden, giftigen, teils radioaktiven Nebenprodukts an. Bislang lagern die Bauxitrückstände in riesigen, stetig wachsenden Auffangbecken inmitten fragiler Ökosysteme – in Brasiliens Urwäldern oder unweit der Küsten Australiens. Und das für immer. Sofern keine Katastrophe eintritt, wie beim Dammbruch von Bento Rodrigues in Brasilien im Jahr 2015 oder dem Unfall im westungarischen Kolontár 2010. Damals vergifteten bis zu 1,1 Millionen Kubikmeter des arsen- und quecksilberhaltigen Schlamms umliegendes Ackerland, Gewässer und Ortschaften. Die Gründe für diese risikobehaftete Praxis klingen banal: Es ist schlicht unwirtschaftlich, Verwertungsstrategien im industriellen Maßstab zu verfolgen. Hinzu kommen hohe Zertifizierungshürden und die Tatsache, dass viele vor dem Image der roten Hinterlassenschaft zurückschrecken.



Bereits während des Studiums begannen Kevin Rouff und Paco Böckelmann mit ihrem Langzeitprojekt „Red Mud“. Rotschlamm lässt sich mit entsprechenden Zuschlagstoffen ähnlich wie Keramik behandeln und dank seines hohen Oxidgehalts auch zu Glasuren verarbeiten. Die alkalische Eigenschaft des Materials wird beim Brennvorgang neutralisiert | Fotos: Studio ThusThat
Das Studententeam fand einen Weg, den giftigen Rotschlamm aufzupolieren. Aus dem Abfall schufen sie rostrote Tableware – Teller, Schalen, Teekannen und Vasen. Das Verfahren ähnelt der Keramikherstellung. Dabei werden die flüchtigen Bestandteile und Salze gebunden. „Das Hauptproblem bei Rotschlamm besteht darin, dass er aus sehr feinen Partikeln besteht und einen hohen Alkali- und Salzgehalt aufweist“, erklärt Kevin Rouff. „Als Staub kann er in die Luft und ins Wasser gelangen, die Laugen könnten in die Umwelt geraten. Das ist nicht per se schlimm – die Natur hat permanent mit Stäuben und Laugen zu tun, etwa mit Asche aus einem Feuer – doch es sind die großen Mengen, die ein Risiko darstellen. Wir sprechen hier von Millionen Tonnen in einem einzigen Gebiet.“ Der radioaktive Charakter der Bauxitrückstände kann zwar Anlass zur Sorge geben, erklärt Rouff, doch hängt dies von der Herkunft des Erzes ab. Die meisten Rotschlammstandorte liegen weit unter den Sicherheits-Schwellenwerten, und der Gehalt des Materials ähnelt dem von Granitgestein. Die Bauxitrückstände in dekorative Objekte zu verwandeln, war eine Methode, die Wahrnehmung des Materials zu hinterfragen. „Eine angemessene Größenordnung böte ein Einsatz im Bauwesen, also für Beton, Fliesen, Straßen und so weiter“, so Kevin Rouff. In Europa gebe es jedoch strenge Normen, die eine mögliche Verwendung des Materials in größerem Umfang einschränken.

Forschung sichtbar machen
Wie kam es schließlich zur Gründung des Studios? „Paco und ich haben direkt nach der Uni weiter zusammengearbeitet“, erzählt Kevin Rouff. Für ihr Rotschlammprojekt hatten die Studenten sich wissenschaftliche Unterstützung an der KU Leuven in Belgien geholt. „Dort gibt es ein Labor, das auf Abfallströme verschiedenster Industrien spezialisiert ist.“ Dabei geht es um Bergbaurückstände, um Schlacke oder Asche, wie sie bei der Verbrennung von Hausmüll übrig bleibt. „Das Labor lud uns ein, mit seinen Wissenschaftler*innen zusammenzuarbeiten.“ Das Duo übersetzte die Erkenntnisse von knapp 20 Doktorand*innen in greifbare Designentwürfe. „Innerhalb von drei Monaten haben wir sechs Stühle, einen Esstisch, einige Vasen, Fliesen sowie Hänge- und Tischleuchten entwickelt. Manche davon waren sehr bizarr“, erinnert sich Rouff. Drei dieser Stücke finden sich mittlerweile in Museumssammlungen, unter anderem im London Design Museum. Andere Teile gingen in private Sammlungen. „Für uns war es das erste bezahlte Projekt. Daraus ging das Studio hervor.“
Von nun an sind sie mit immer mehr Institutionen und Unternehmen in Kontakt. „Wir gingen einfach mit dem Momentum.“ Ein Momentum, das sie auch für den Schritt nach Amsterdam nutzten. Paco hatte bereits vor seiner Zeit in London bei Joris Laarman in Amsterdam gearbeitet. Das Studio ist bekannt für seine innovativen, auch im architektonischen Maßstab realisierten 3D-Druck-Entwürfe. Als ein Freund sie auf ein frei gewordenes Studio aufmerksam machte, war der Entschluss gefasst. „Interessanterweise kommen viele unserer Kund*innen, vor allem im Architekturbereich, inzwischen aus Großbritannien, obwohl in den Benelux-Ländern sicherlich ein experimentelleres Klima vorherrscht.“
„Wir glauben, dass ein
wichtiger Teil der zukünftigen Nachhaltigkeitsbemühungen darin bestehen wird, dass wir unsere Wahrnehmung als Verbraucher*innen ändern …“
– Kevin Rouff
Sekundärästhetik etablieren
Sie selbst sehen sich als Kommunikatoren, unterstützen Unternehmen dabei, Ansätze für die Verarbeitung von Neben- und Abfallprodukten weiterzuverfolgen. In einem Projekt mit dem Titel „One-Side-Sawn“ beleuchten sie einen anderen Aspekt der Aluminiumherstellung.
Der Hintergrund: Wird frisches Aluminium in tonnenschwere Quader gegossen, entsteht dabei eine faltige Oberfläche, welche vor der Auslieferung an die Weiterverarbeitung glatt abgeschnitten wird. Üblicherweise werden diese Ränder direkt wieder eingeschmolzen und zu neuen Quadern geformt. Studio ThusThat schuf aus ihnen Möbel: Regale, Spiegel, Tische, Sessel. „Wir verstehen diese Abschnitte nicht als Abfall. Unsere Idee war es, diese Ränder in einer Form einzusetzen, die wir Sekundärästhetik nennen“, erklärt der Designer.

In der Sägeanlage von BIKAR fallen die Aluminiumabschnitte an, die bei der Produktion der Serie „One-Side-Sawn“ zum Einsatz kommen / Foto: Studio ThusThat
Warum ist das interessant? „Wenn wir an Aluminium denken, stellen wir uns in der Regel perfektes Metall vor. Wie für die meisten Materialien, die wir als Verbraucher*innen konsumieren, hinterfragen wir nicht genug, wie Dinge hergestellt werden und auf welchem Weg Materialien in unsere Hände gelangt sind.“ Während die verarbeitende Industrie später makellose Produkte liefert, die tausendfach reproduzierbar sind, nähert sich Studio ThusThat anhand von „One-Side-Sawn“ einer Ästhetik, die unpoliert und einzigartig wirkt. „Wir glauben, dass ein wichtiger Teil der zukünftigen Nachhaltigkeitsbemühungen darin bestehen wird, dass wir unsere Wahrnehmung als Verbraucher*innen ändern und nicht mehr erwarten können, dass alles aus unberührtem Virgin-Material geschaffen ist.“



Studio ThusThat nutzt die Ästhetik frisch gegossener Aluminiumblöcke, deren raue Oberfläche üblicherweise abgeschnitten und wieder eingeschmolzen wird. Für „One-Side-Sawn“ schufen sie aus den massiven Platten Möbelstücke und Wandspiegel. / Foto: Studio ThusThat
Natürlich erreichen sie mit solchen Konzepten nicht die Massen. Die Mehrzahl ihrer bisherigen Entwürfe ließe sich wohl eher als Collectibles konsumieren. Das zeigt sich auch bei einem Thema, aus dem heraus sich gerade doch ein breitenwirksames Vorhaben entwickelt. Es geht um die Verwendung von Schlacke, die bei der Herstellung und dem Recycling von Kupfer oder Stahl anfällt. Auch hier bleiben Industrieunternehmen bisher auf ihrem Abfall sitzen. Mit „This Is Copper“ zeigt das Duo, wie sich die schwarze, lavaähnliche Masse nutzen lässt. Kevin Rouff und Paco Böckelmann schlagen Beistelltische und Leuchten vor, für die sie die Schlacke als Geopolymer einsetzen und daraus einen zementfreien Beton herstellen. Daraus geformte schwarze Klumpen verbinden sie mit Elementen aus gehämmertem Kupfer. Das Potenzial ist aber noch viel größer. In diesen Tagen gründen die beiden ein neues Unternehmen, mit dem sie Baumaterialien, zunächst für den Interior-Gebrauch, später auch für Architekturvorhaben anbieten wollen.
Bei Studio ThusThat, das ist spürbar, ist man Feuer und Flamme, dem vermeintlich Wertlosen einen Wert zu geben und Perspektiven umzukehren. Kevin Rouff und Paco Böckelmann beginnen da, wo andere das Ende sehen – ein Ende, das zu viel Potenzial offenlässt, um es zu ignorieren.




Auch Schlacke, die bei der Verarbeitung der meisten Metalle anfällt, ist ein bislang wenig genutztes Nebenprodukt. In „This Is Copper“ verwandeln Rouff und Böckelmann die lavaähnliche Masse in Beistelltische und Leuchten. / Foto: Studio ThusThat

Über den Autor
Markus Hieke ist freier Journalist und Autor mit Schwerpunkt auf Interior-/ Produktdesign und Architektur. Mit einem Hintergrund im Kommunikationsdesign, fand er 2013 zum Schreiben und erlangt seither eine feste Stimme in namhaften deutschen und internationalen Fach- und Publikumsmedien. Gestaltung für ein breites Publikum greifbar zu machen, versteht er für sich als Auftrag und nähert sich diesem anhand von Porträts, Interviews und Hintergrundreportagen zu Protagonist*innen und Themen von Handwerk bis Zirkularität, auch abseits des Rampenlichts.
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