6 Min Lesezeit

Mehr denn je spielen Technologien eine zentrale Rolle für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Je mehr Relevanz diese Technologien für die soziale Teilhabe haben, desto mehr muss über Bedeutung ihrer Gestaltung sowie ihre Verfügbarkeit und Nicht-Verfügbarkeit gesprochen werden. „Technoprivilege“ ist der Begriff, den Hendrik-Jan Grievink, Mitgründer des niederländischen Next Nature Networks, in den Diskurs gebracht hat.

Von Carl Friedrich Then.

Check your technoprivilege
Wer die Fragen von Hendrik-Jan Grievink bejahen kann, ist bereits in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens privilegiert, © Hendrik-Jan Grievink

Die Digitalisierung ist heute von entscheidender Bedeutung, wenn es um Entwicklungsmöglichkeiten, Wohlstand und das gesellschaftliche Zusammenleben geht. Politik und Wirtschaft unternehmen – mehr oder weniger erfolgreich – große Anstrengungen, wenn es darum geht Verwaltung, Arbeitsprozesse und Konsum durch digitale Angebote flexibler, effizienter und resilienter zu machen. Designer*innen haben bei diesen Veränderungen eine wichtige Rolle inne, wenn Schnittstellen zwischen technischen Innovationen und Nutzer*innen gestaltet werden müssen. Aber umso wichtiger die digitale Welt wird, umso wichtiger ist es auch für Gestalter*innen darüber nachzudenken, welche Folgen die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit neuer Technologien für die Gesellschaft und deren Zusammenhalt hat.


Eine digitale Welt mit all ihren Vorteilen ist nur förderlich, wenn sie möglichst viele Menschen nutzen können.


So war in Lockdown-Zeiten das große Potenzial digitaler Technologien zu sehen, wenn es darum ging Arbeitsprozesse beispielsweise remote und virtuell weiterzuführen – Stichwort: Home Office. Jedoch zeigte sich auch, dass gerade Menschen aus einkommensschwachen Gesellschaftsschichten von diesen Möglichkeiten nicht profitierten. Das lag nicht nur an den wenig digitalisierten Arbeitsplätzen im Niedriglohnsektor, sondern mitunter schlicht an der Nicht-Verfügbarkeit von ausreichend geeigneten digitalen Endgeräten, die zum Beispiel den Fernunterricht für Schüler*innen möglich gemacht hätte.

Eine Problematik, die sich unter anderem auch bei der Einführung der Corona-Warn-App wiederholte. Denn nur Smartphone-Besitzer*innen konnten sie nutzen, und dann zunächst auch nur, wenn sie über neuere Modelle und Betriebssysteme verfügten. Umso wichtiger ist es, zu betonen, dass eine digitale Welt mit all ihren Vorteilen, wie beispielsweise Zugang zu Informationen, besseren Dienstleistungen und digitalen Werkzeugen, nur förderlich ist, wenn sie möglichst viele Menschen nutzen können. Das hängt nicht nur an der Verfügbarkeit von Endgeräten, sondern auch daran wie Software und Apps entwickelt werden und wie inklusiv diese dann schlussendlich sind.

Technoprivilege – Wenn Technologien Privilegien sind

In dieser Hinsicht fordert Hendrik-Jan Grievink, Mitbegründer des niederländischen Next Nature Network, in einem Text auf: Check your Technoprivilege!
Auch er beobachtet, dass durch die COVID-19-Pandemie eine Kluft deutlich wurde, die zeigt welche Rolle Technologien heute für die gesellschaftliche Teilhabe spielen. Für ihn geht es dabei auch darum, einen Schritt zurückzumachen und die Folgen neuer Technologien überhaupt erst einmal zu reflektieren: „Ich denke, es wäre eine wirklich gute Idee, wenn wir anerkennen würden, dass es so etwas wie ein Technologie-Privileg gibt. Zunächst ist es wichtig, dass wir verstehen, welche Auswirkungen Technologien haben. Für manche Menschen mag dies ein vertrauter Gedanke sein. Aber ich beobachte beispielsweise in der Tech-Welt eine sehr hartnäckige Naivität in Bezug auf die Auswirkungen von Technologien. Oft heißt es dort: Das ist neu, also muss es gut sein. Aber allein die Tatsache, dass die meisten digitalen Technologien von Menschen entwickelt werden, die kaum die Vielfalt der Weltbevölkerung repräsentieren, ist meines Erachtens problematisch.“

Grievink will mit dem Begriff Technoprivilege ein Bewusstsein dafür schaffen, dass die Technologien, die einer gehobenen Mittel- und Oberschicht in den wohlhabenden Industrienationen zur Verfügung stehen, nicht nur in ihren Produktionsbedingungen gesellschaftliche Ungleichheiten manifestieren. Auch ihre Gestaltung und Nutzung können zu diesen Ungleichheiten beitragen. Dabei bezieht er sich auf den Text White Privilege: Unpacking the Invisible Knapsack von Peggy McIntosh aus dem Jahr 1989. Kernstück des Texts ist eine Checkliste von 26 Statements. Sie machen eindrücklich darauf aufmerksam, welche gesellschaftlichen Vor- und Nachteile sich allein durch die Hautfarbe ergeben, mit der man geboren wurde.

Ein Chatbot initiiert den Diskurs

Technoprivilege Tekki
Der Chatbot „Tekki“ errechnet nach einem virtuellen Gespräch, wie hoch der Anteil an Technoprivilege der/des Befragten ist, © Hendrik-Jan Grievink

Auf diesem anschaulichen Konzept baut Grievink auf. Dazu hat er einen Chatbot namens Tekki programmiert, dessen Beta-Version bereits ein gutes Gefühl für die Thematik geben kann. Er erklärt dahingehend: „Mit dem Chatbot geht es mir um einen spielerischen Umgang mit dem Thema. Tekki soll Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen. Und am Ende errechnet er, wie viel Technoprivilege man im Vergleich zu anderen Nutzer*innen hat.“

Inhaltlich bleibt Grievink damit vor allem dem Ansatz von McIntosh treu. Hierbei geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um das Initiieren eines Diskurses. Ein Diskurs um Privilegien, der sich auch in unseren technischen Gadgets und Alltagsgeräten wiederfindet. Denn ihre Verfügbarkeit sowie die Art und Weise wie sie gestaltet wurden, sagt jenseits ihrer Produktionsbedingungen viel mehr über gesellschaftliche Ungleichheiten aus, als wir zunächst meinen möchten. Aber auch jenseits der Verfügbarkeit von Technologien und der sich daraus ergebenden Vorteile, reproduzieren Geräte, Software und Apps soziale Ungleichheiten. Das zeigen beispielsweise KIs, die rassistische oder sexistische Stereotype abbilden. Dies schildert Joy Buolamwini in einem TEDxTalk über Algorithmic Bias eindrücklich. So haben Gesichtserkennungs-KIs teilweise erhebliche Schwierigkeiten nicht-weiße Menschen zu erkennen oder treffen aufgrund der genutzten Daten diskriminierende Schlüsse. Aber auch wenig inklusiv gestaltete Interfaces, UX-Journeys und Services können ganze Bevölkerungsgruppen von der Interaktion ausschließen. Dies kann aufgrund von Sprachbarrieren oder aber körperlicher Behinderungen geschehen.


„Design spielt eine fundamentale Rolle, wenn es darum geht eine Schnittstelle zwischen Menschen und Technologie zu schaffen, damit Nutzer*innen mit ihr besser umgehen und arbeiten können.“

— Hendrik-Jan Grievink


Gesellschaftliche Teilhabe in neuen Technologien gestalten

Gerade dem Design kommt in diesem Kontext eine wichtige Rolle zu, wie Grievink hervorhebt: „Design will Reibungen und Unannehmlichkeiten in unserem Leben reduzieren. Es spielt eine fundamentale Rolle, wenn es darum geht eine Schnittstelle zwischen Menschen und Technologie zu schaffen, damit Nutzer*innen mit ihr besser umgehen und arbeiten können.“ Design wird aber dann problematisch, „wenn es die negativen Auswirkungen von Technologien auf Menschen sowie den Planeten unsichtbar macht“, erläutert er weiter. Womit er auf eines der grundlegenden Spannungsfelder des Designs verweist, dem zwischen verführerischer Gefälligkeit und sinnvoller Funktionalität.


„Die Technologie, insbesondere die digitale Technologie, ist in die Hände einer sehr kleinen Gruppe extrem mächtiger Tech-Unternehmen und derjenigen, die diese Unternehmen leiten, gefallen. Dies hat Auswirkungen auf die Menschen und den Planeten in einem noch nie dagewesenen Ausmaß.“

— Hendrik-Jan Grievink


Gerade das Design, welches an der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik arbeitet, nimmt auch eine wichtige Rolle beim Konstituieren und Reproduzieren von gesellschaftlichen Ungleichheiten ein. Dies macht Grievink an einem Blick in die Technikgeschichte fest: „Meiner Meinung nach sind wir Menschen von Natur aus technologische Tiere. In dem Moment, in dem unsere frühen Vorfahren begannen, Werkzeuge aus den ihnen direkt zur Verfügung stehenden Ressourcen wie Feuerstein und Holz herzustellen, versetzten sie sich in eine fortschrittliche Position im Vergleich zu anderen Tieren. Unsere Geschichte ist eng mit der Entwicklung von Technologien verknüpft. So gibt es im Laufe der Geschichte zahllose Beispiele dafür, wie die Technik von Menschen eingesetzt wird, um andere Menschen zu kontrollieren, zu entmenschlichen und zu töten.

Was dieses Thema gerade heute so dringlich macht, ist die Tatsache, dass sich eine wichtige Sache geändert hat: Die Technologie, insbesondere die digitale Technologie, ist in die Hände einer sehr kleinen Gruppe extrem mächtiger Tech-Unternehmen und derjenigen, die diese Unternehmen leiten, gefallen. Dies hat Auswirkungen auf die Menschen und den Planeten in einem noch nie dagewesenen Ausmaß.“

Technologien nutzbar und verfügbar machen

Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, wie oft vergessen wird, welch weittragende Rolle Technologien für das Geschick von Nationen und Individuen spielt. Insbesondere mit der Digitalisierung geht es einmal mehr darum, ob Gesellschaften inklusiver werden, oder sich soziale Ungerechtigkeiten manifestieren und verschärfen. Dabei stehen viel weniger die neuesten und modischsten Geräte im Fokus, wie wir es zu Zeiten der COVID-19-Pandemie erlebt haben. Vielmehr entscheiden Nutzung und Verfügbarkeit von Technologien über gesellschaftliche Teilhabe und Anschluss in einer sich digitalisierenden Welt, was Bildung, Gesundheit und Wohlstand angeht. Designer*innen sollten bei der Gestaltung neuer Geräte und Schnittstellen prüfen, ob sie diese Technologien möglichst viele Nutzer*innen zugänglich machen können. Manchmal geht es dann nicht nur um die Grundsätze des Universal Designs. Sondern es geht auch darum, dass Geräte günstig bleibenn Geräten eingesetzt werden können.


Mehr auf ndion

Weitere Artikel zum Thema Design, Nachhaltigkeit und Digitalisierung.



Diese Seite auf Social Media teilen: