Was als Kunstprojekt begann, endete bei Google Earth: Im Jahr 1994 wurde bei Art+Com in Berlin der digitale und interaktive Globus „Terravision“ entwickelt. In der fiktiven Serie „The Billion Dollar Code“ hat Netflix den Fall jetzt als Kampf digitaler Davids gegen den Goliath Google inszeniert.
Von Thomas Wagner.
Manchmal bewirkt der Blick zurück mehr als der voraus. In diesem Sinn haben die Reisen des Menschen zum Mond die Perspektive auf unseren Heimatplaneten wahrscheinlich radikaler verändert als die pure Tatsache, 1969 erstmals einen Fuß auf den Trabanten gesetzt zu haben. Von außen betrachtet, wirkte die blaumarmorierte Murmel in der lichtlosen Leere des Weltalls so zerbrechlich, dass der Architekt und Visionär Richard Buckminster-Fuller vom „Raumschiff Erde“ sprach, für das allerdings eine Gebrauchsanweisung fehle. Ein neuer Beobachtungsstandpunkt war gefunden, der Blick von außen fortan gesetzt. Bis heute spielt er auf dem Weg zu einer holistischen Selbstwahrnehmung der Gattung Mensch eine zentrale Rolle, nicht nur, was den galoppierenden Klimawandel angeht.
Plötzlich rückt das Weitentfernte ganz nah
Wie sich Beobachtungsstandpunkte verschieben und wie eng das Weitentfernte plötzlich mit dem ganz Nahen verbunden scheint, zeigen nicht nur die Echtzeitübertragungen aus jeder Ecke des Globus, sondern auch ein interaktives Programm, das in den vergangenen Wochen wiederentdeckt wurde, weil es überraschend in einer Mini-Serie der Streaming-Plattform Netflix auftauchte.
Das Programm heißt „Terravision“. 1991 zunächst als Kunstprojekt an der Berliner Hochschule der Künste konzipiert, wurde eine erste, mit Unterstützung einer Telekom-Tochter entwickelte Version 1994 bei einer internationalen Konferenz in Kyoto vorgestellt. Später wurde das Programm, da es besonderer Rechnerleistung bedurfte, auch im Silicon Valley präsentiert. 1996 beantragten sie für Terravision ein Patent.
Ausgedacht haben sich die interaktive Erdbeobachtung der vor wenigen Wochen verstorbene Joachim Sauter und seinen Kollegen Axel Schmidt, Gerd Grüneis und Pavel Mayer. Sauter war 1988 auch maßgeblich an der Gründung von Art+Com in Berlin beteiligt, einer Agentur von Menschen aus Kunst, Wissenschaft und Hacking mit engen Beziehungen zum Chaos Computer Club, die schon damals all die neuartigen Möglichkeiten ausloten wollte, die sich dank vernetztem Internet und Virtual Reality anboten, aus passiven Betrachtenden (von statischen Kunstwerken) aktive Nutzende und Mitkreierenden zu machen.
Inspirationsquelle Snow Crash
Dass die Kunst das Leben inspiriert (und weniger umgekehrt), offenbart auch der (von Art+Com selbst hergestellte) Bezug zu Neal Stephensons unter Nerds und Hacker/innen berühmtem Roman „Snow Crash“ von 1992 (die deutsche Ausgabe erschien 1994, im Jahr, als Terravision präsentiert wurde). Gedacht haben die Machenden der an einer wahrhaft globalen Perspektive orientierten Erdbeobachtungsmaschine besonders an eine Stelle, in der es (nachdem der Protagonist Hiro sich via „Metaversum“ (!) in sein virtuelles Arbeitszimmer „in seinem hübschen kleinen Haus im alten Hackerviertel“ begeben hat) um ein besonderes Programm für virtuelle Globen, geht: „Da ist etwas Neues: Ein Globus, etwa so groß wie eine Grapefruit, eine perfekte Nachbildung des Planeten Erde, hängt in Armeslänge vor seinen Augen. Hiro hat schon davon gehört, aber nie einen gesehen. Es handelt sich um ein Stück CIC-Software, die schlicht und einfach Erde heißt. Es ist das Anwenderinterface, das CIC [Anm.: die „Central Intelligence Corporation“ ist im Roman die kommerzielle Nachfolgeorganisation der CIA] benutzt, um den Überblick über jede noch so winzige Information zu behalten, die es besitzt – sämtliche Karten, Wetterwerte, Baupläne und Daten von Überwachungssatelliten. Hiro hat sich schon überlegt, dass er in ein paar Jahren genügend Geld besitzen wird, dass er sich Erde leisten und so ein Ding ins Büro bestellen kann. Und plötzlich ist es da, gebührenfrei.“ (Manche werden sich bei Erde, Terravision, Google Earth und ähnlichen Programmen auch an den Film „Powers of Ten“ der Eames erinnert fühlen, der, ausgehend von einer Picknickdecke im Park, einerseits bis in ins Interstellare und andererseits bis ins mikroskopisch Kleine zoomt.)
Von der Fiktion zur Wirklichkeit zur Fiktion
Ein Kunstprojekt und eine literarische Fiktion – daraus entstand am Ende bei Art+Com eine funktionierende Software, die es jedem im Prinzip von überall aus ermöglichte, einen Blick auf die Oberfläche des eigenen Heimatplaneten zu werfen, bis hinunter in den Vorgärten der Nachbarschaft. Auf der Seite von Art+Com heißt es dazu: „Terravision ist eine virtuelle Abbildung der Erde, die auf Satellitenbildern, Luftaufnahmen, Höhen und Architekturdaten basiert. Die interaktive 3D-Anwendung macht terrestrische Informationen sichtbar, räumlich greifbar und vor allem interaktiv erlebbar. Nutzer/innen bewegen sich frei und in Echtzeit über die fotorealistische virtuelle Erde: Von der Makrosicht aus dem All bis in die Mikrosicht können sie quasi auf die Erdoberfläche zufliegen, auf der zunächst Kontinente, dann Städte und schließlich hoch aufgelöste Architekturmodelle einzelner Gebäude sichtbar werden.“
Und, nachdem die Schnittstellen genannt werden, über die sich das Ganze steuern ließ: „Mit Terravision ist zum ersten Mal die Visualisierung und die vollkommen freie Navigation innerhalb eines unendlich großen Datenraums möglich geworden. Alle zur Visualisierung benötigten Daten sind auf dezentralen Servern weltweit verteilt gespeichert und durch ein Breitbandtestnetz verbunden. Terravision ist somit ein frühes Beispiel eines kollaborativen Projektes, bei dem Nutzer/innen gemeinschaftlich zur Vervollständigung eines großen Bildes beitragen. In diesem Falle das der ganzen Erde.“ Abschließend heiß es: „Weit in die Zukunft des Internets weisend, ist Terravision sowohl Vorläufer von Google Earth als auch die Verwirklichung der Idee ,Earth‘ aus Neal Stephensons Roman ,Snow Crash‘“.
Ein Spiel um Macht
Einige Elemente der „wahren Geschichte“, glaubt man den überwiegend begeisterten Auguren, spielen denn auch in der Netflix-Serie „The Billion Dollar Code“ eine zentrale Rolle, wird in dieser doch die nun fiktive Geschichte von ein paar Freunden erzählt, die gegenüber der Übermacht von Google und des Silicon Valley nicht kleinbeigeben wollen, die ihnen ihr schönes Programm gestohlen und als „Google Earth“ auf den Markt gebracht haben sollen. War das Verhältnis von Kunst und Leben schon kompliziert genug, erweist sich sich das von Kunst und Geschäft als umso problematischer und härter. Und so beginnen sich die ohnehin schon miteinander verschränkten Fantasien und Tatsachen, allerlei Wirklichkeitsreste und Fiktionen weiter und weiter zu vermischen.
An Lobeshymnen auf die fiktive, hollywoodkompatibel inszenierte und in der üblichen Einheitsästhetik dargebotenen Geschichte hat es in den vergangenen Wochen nicht gemangelt. „Was für eine großartige Geschichte“, jubelte Adrian Kreye in der Süddeutschen Zeitung schon im ersten Satz. Das Terravision-Programm selbst geriet bei all der Faszination oft zum Anlass, die alte Geschichte von David gegen Goliath („David gegen Googliath“ titelte die F.A.Z.), Gut gegen Böse, idealistische Jungs gegen skrupellosen Konzern (inklusive Verhandlung vor einem amerikanischen Geschworenengericht) in zeitgenössischem Gewande wieder einmal, jetzt aber publikumswirksam mit Digitalisierung gewürzt, erzählen zu können. Glaubt man den Rezensenten, so scheint die Serie (wir haben sie nicht gesehen) alles das zu enthalten, was solche „Fälle“ zu erfolgreichen Seifenopern werden lässt. So schreibt etwa Oliver Jungen in der F.A.Z., es gelinge der Serie „den rauschhaften Idealismus der Gründerjahre im Silicon Valley in bombastischen Bildern zu evozieren und zugleich anzudeuten, dass darunter längst neoliberalistisches Marktdenken rumorte. Dem gegenüber steht die Berliner Naivität, die es nicht fassen kann, dass der angehimmelte Weltmarktführer ihr kaltschnäuzig die Tür vor der Nase zuschlägt. Ein deutsches Trauma.“
Dass die Protagonisten von Art+Com den Prozess vor einem amerikanischen Gericht verloren haben, ist nicht schön – aber muss der Fall deshalb gleich wie die berühmte Mücke zum Elefanten zu einem „deutschen Trauma“ aufgeblasen werden? Dazu passt für Oliver Jungen und Netflix die Erzählung von Konrad Zuse („der genialische deutsche Kauz“), dem von seiner Erfindung auch nicht mehr geblieben sei als der Mythos „Vater des Computers“. Um dann hinzuzusetzen: „Es sieht so aus, als habe sich diese Geschichte auf anderem Level jüngst wiederholt, und zwar inklusive der Mythisierung, zu der die Serie „The Billion Dollar Code“ selbst gehört.“
Traumatische Wiederholung oder kapitalistische Verwertungslogik?
Lauter (traumatische) Wiederholungen? Nichts als tragische Reenactments? Vielleicht ist das Ganze aber auch ein Lehrstück in einer ganz anderen Hinsicht. Macht der Fall, wie gut oder schlecht er in der Serie erzählt sein mag, nicht deutlich, welch große Lücke nach wie vor zwischen vielversprechenden Entwicklungen (oder, wenn man so will, veritablen Erfindungen) und einer erfolgreichen Innovation klafft? Inklusive der rauen Sitten und aller Hürden des Time-to-Market? Interessanter als die Asymmetrie der Macht und der juristisch ausgetragene Kampf der Underdogs gegen die miesen Praktiken der (trotzdem) viel bewunderten Tech-Konzerne wäre dann im Designkontext vielmehr der sich wie ein Virus inmitten des Begriffs der Kreativität ausbreitende Widerspruch zwischen Ideenreichtum und kapitalistischer Verwertungslogik. In dieser Logik sind es, auch wenn das unseren Idealismus kränkt, selten die Pioniere, die den Topf voller Gold am Ende des Regenbogens finden. Anders gesagt: Nicht die Vorhut, nicht die Avantgarde, gewinnt die Schlacht; sie schafft lediglich die Informationen bei, damit die längst bereitstehenden Divisionen nachrücken und die Macht übernehmen können.
Mehr über Terravision
Terravision auf der Website der ART + COM Studios.
Auf der Homepage von Entwickler Joachim Sauter gibt es weitere Infos und eine Video-Präsentation.
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