Die Architektinnen Sofia Ceylan, Katharina Neubauer und Annabelle von Reutern bilden gemeinsam TOMAS – ein junges Büro mit höchsten Ansprüchen an sich selbst. Mit einem klaren Fokus auf die Wieder- und Weiterverwendung bestehender Bausubstanz und Materialien will TOMAS nicht nur ökologisch und ökonomisch vorbildliche Architektur schaffen, sondern auch aktiv an einer gerechteren Welt mitbauen. Ein Porträt eines Büros, das gerne grundsätzlich über das Bauen nachdenkt.
von Florian Heilmeyer

TOMAS ist kein gewöhnliches Architekturbüro. Das Team beschreibt sich selbst als „sozialverträgliche Architekturunternehmung“, die durch regeneratives und zirkuläres Bauen zu einer „sozialen und gerechten Gesellschaft“ beitragen will. Ihr zentrales Werkzeug: die Reaktivierung leerstehender Immobilien. Denn gerade dies sei der stärkste Hebel für die dringend notwendige Bauwende hin zu mehr Nachhaltigkeit und Ökologie. Schluss also mit Abriss und Neubau – doch TOMAS geht noch weiter. Es geht ihnen ebenso um sozial gerechtes, feministisches und grundsätzlich partizipatorisches und emanzipatorisches Bauen auf allen Ebenen. Die Messlatte setzen sie damit bewusst hoch. Wer steckt hinter TOMAS? Eine Gruppe idealistischer Revolutionärinnen?

Drei Frauen, eine Idee: Wie TOMAS entstand
Ein Blick hinter die Kulissen zeigt: Hinter dem maskulinen Namen in Großbuchstaben stehen drei Frauen – Sofia Ceylan, Katharina Neubauer und Annabelle von Reutern. Kennengelernt haben sie sich während ihres Architekturstudiums an der RWTH Aachen, wo sie sich zeitweise einen Arbeitsraum teilten. Nach dem Bachelor zog es alle drei nach Berlin, wenn auch nicht gleichzeitig, um an der Technischen Universität weiterzustudieren. Nach dem Masterabschluss kamen erste Gedanken an ein gemeinsames Büro auf, doch es fehlten noch Selbstbewusstsein und Erfahrung. So schlugen sie zunächst verschiedene Wege ein: Ceylan arbeitete bei Kim Nalleweg Architekten, Neubauer bei Max Dudler, und von Reutern sammelte Erfahrungen in mehreren Kölner Büros, bevor sie drei Jahre lang beim Start-up Concular tätig war, das sich auf zirkuläres Bauen und nachhaltige Immobilienwirtschaft spezialisiert hat.
2024 trafen sie sich beim Abschlusswochenende der Internationalen Architekturbiennale in Venedig wieder – ein entscheidender Moment. Alle drei waren auf der Suche nach neuen Perspektiven und griffen die Idee eines gemeinsamen Büros wieder auf. „Es ist ein großer Gewinn“, sagt Annabelle von Reutern heute in ihrem Berliner Büro, „dass jede von uns seit dem Studienabschluss zehn Jahre Berufserfahrung in unterschiedlichen Kontexten sammeln konnte.“ Jede habe sich zunächst individuell entfalten können – nun profitiere TOMAS von diesen Erfahrungen, den zusammengebrachten Netzwerken und der gemeinsamen, klaren Vorstellung, was man erreichen wolle und welche Mechanismen des Architekturgeschäfts man bewusst vermeiden möchte.
TOMAS denkt Architektur neu
„Normale” Architekturbüros beschränken sich oft auf die Rolle des Dienstleisters für Investorinnen und Investoren. TOMAS will mehr: Sie wollen selbst aktiv werden – und das in allen Phasen eines Projekts. Investition, Planung, Betrieb und Verkauf gehören ebenso dazu wie der konsequente Fokus auf die Reaktivierung von Leerstand. „Wir identifizieren unterschätzte Immobilien und entwickeln Nutzungskonzepte. Wir sind Projektentwicklerinnen und Bestandshalterinnen gleichzeitig“, erklären sie. Oder kurz: „TOMAS kümmert sich um alles – innerhalb der planetaren Grenzen.“
Gerade im Umgang mit Bestandsimmobilien sehen Ceylan, Neubauer und von Reutern eine große Lücke in der herkömmlichen Immobilienwirtschaft – oder besser gesagt: einen Mangel an Vorstellungskraft, was aus einem Gebäude noch werden kann. „Wir wollen unsere Scheinwerfer auf jene Gebäude richten, die viele pauschal als wertlos abtun“, sagen sie. Als „Schrottimmobilien“, die selbst noch im Abriss nur Kosten und Schwierigkeiten verursachen. „Wir interessieren uns mit TOMAS gezielt für Häuser aus den 1970ern, 1980ern und 1990er-Jahren, für leere Kaufhäuser, Bahnhöfe und Kirchen. Häuser, die andere als Schandfleck bezeichnen, sind uns am liebsten.“
Für TOMAS geht es um mehr als nur neue Nutzungskonzepte. Von Reutern bringt es auf den Punkt: „Ohne eine Bauwende kann die Klimawende, von der die Politik so gerne spricht, nicht gelingen.“ Deshalb setzen sie sich für eine Immobilienwirtschaft ein, die konsequent auf die ressourcenschonende Wiederverwendung von Gebäuden, Materialien und Bauteilen setzt. Genau dafür steht auch der Name TOMAS – eine Abkürzung für „Transformation of Material and Space“.


Mehr als ein Büro
Warum braucht es für all das den etwas sperrigen Begriff der „Architekturunternehmung“? Annabelle von Reutern schmunzelt – und findet ihn dennoch passend. „Wir wollen innerhalb des Architekturfeldes ein breites Spektrum an unterschiedlichen Unternehmungen verbinden: Planung, Beratung und Lehre sind unsere Grundpfeiler. Aber auch Projektentwicklung, Verbands- und Lobbyarbeit, Veranstaltungen, Crowdfunding und Aktivismus in jeder Form gehören für uns dazu.“
Auch hier zahlt sich aus, dass jede von ihnen über Jahre eigene Netzwerke aufgebaut hat. Nebenberufliches Engagement gehörte für alle drei schon immer zum Selbstverständnis: Von Reutern engagiert sich im Verband für Bauen im Bestand, Ceylan im Verband für Nachhaltigkeitsmanagement im Bauwesen, Neubauer bei der Architektinnen Initiative Nordrhein-Westfalen – womit auch das breite Tätigkeitsfeld von TOMAS einigermaßen abgesteckt ist.
„Wir interessieren uns gezielt für Häuser aus den 1970ern, 1980ern und 1990er-Jahren, für leere Kaufhäuser, Bahnhöfe und Kirchen. Häuser, die andere als Schandfleck bezeichnen, sind uns am liebsten.“
– Annabelle von Reutern, Architektin und Gründerin von TOMAS
Erste Projekte: Bestand statt Abriss
Aktuell transformiert TOMAS eine Gründerzeitwohnung in Berlin, die jahrelang als Künstleratelier mit Depot und Mikroapartment genutzt wurde, in eine barrierefreie Familienwohnung – ausschließlich mit 100 % ökologischen Naturbaustoffen. In Wolfsruh nördlich von Berlin planen sie den Umbau eines Dreiseithofs mit Stall und Scheune, bei dem die vorhandenen Strukturen maximal erhalten bleiben sollen. Und in Celle beteiligten sie sich an einem Wettbewerb für die Umnutzung eines leerstehenden Karstadt-Kaufhauses. Ihr Vorschlag: eine Serverfarm, die die vorhandene Bausubstanz nutzt und durch die innerstädtische Lage von einer effizienten Abwärmenutzung profitieren würde. Ein Statement gegen die aktuelle Praxis, große Innenstadtbauten abzureißen, während auf der „grünen Wiese“ immer neuen Containerboxen für die Infrastruktur unserer Konsumgesellschaft entstehen. Die Idee wurde mit einer Anerkennung gewürdigt. TOMAS zeigt damit: Ihre Entwürfe setzen Themen, üben Kritik an bestehenden Prozessen – und eröffnen neue Perspektiven für die Zukunft des Bauens.

Mintrop Female-Focused
Es ist aber vielleicht das aktuell laufende Projekt „Mintrop Female-Focused“, das die vielen Ideen von TOMAS am Besten vereint. Hier hat TOMAS ein Mehrfamilienhaus in Essen 2024 selbst erworben und baut es nun mit lokalen Handwerksbetrieben behutsam, ressourcenschonend und minimalinvasiv um. Das Ziel der verschiedenen kleinen Eingriffe ist eine „flickenhafte“ Modernisierung, die den Bestand bewusst erhält und die Spuren der Vorbesitzenden sichtbar lässt. Auch der Obst- und Gemüsegarten des Hauses soll als Gemeinschaftsgarten genutzt werden, wie es früher im Ruhrgebiet üblich war. Nach der Sanierung soll sich die „eigentümerinnengeführte Vermietung“ speziell an Frauen mit Kindern richten und verschiedensten Patchwork-Modellen eine sichere und gemeinschaftsorientierte Umgebung bieten.


TOMAS: Ein Name gegen die Ungleichheit
Bleibt die Frage: Warum wählten die drei bei all ihren Ansprüchen einen konventionellen Männernamen wie „TOMAS“? Annabelle von Reutern lacht – die Antwort darauf hat sie schon oft gegeben. „Tomas ist ein Name, der Erfolg verspricht“, schmunzelt sie. „Die Allbright-Stiftung hat in einer Studie herausgefunden, dass es in den Vorständen der deutschen DAX-Unternehmen mehr Thomasse gibt als Frauen. Zudem gibt es den sogenannten Thomas-Kreislauf, der besagt, dass sich Menschen bei der Besetzung einer neuen Stelle immer jemanden suchen, der so ähnlich ist wie sie. Ein Thomas holt also eher noch einen Thomas an seine Seite.“
Dass ihr Büroname damit subtil auf diese systemische Ungerechtigkeit hinweist, hat sie in ihrer Entscheidung nur bestärkt. In ihrem Studium hätten Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Klimawandel oder Bauwende kaum eine Rolle gespielt. Heute prägen genau diese Themen ihr berufliches Handeln.
Architektur als Motor für gesellschaftlichen Wandel
Insofern kann man die drei Gründerinnen von TOMAS tatsächlich als Revolutionärinnen bezeichnen. Sie wollen in einem sich dramatisch verändernden Berufsfeld neue Akzente setzen. Je intensiver sie sich mit Patriarchat und Kapitalismus auseinandergesetzt habe, sagt von Reutern, desto wütender sei sie geworden. Diese Wut versteht sie heute als Antrieb.
„Insgesamt möchte ich nicht gegen etwas sein, sondern für etwas“, sagt sie. Für eine sozial und ökologisch gerechtere Welt, in der eine vielfältige, demokratische Gesellschaft das Sagen hat. Mit den Mitteln der Architektur will TOMAS dazu beitragen.

Annabelle von Reutern ist Architektin, Speakerin und Expertin für Zirkuläres Bauen. Von Reutern ist Mitglied bei Architects for Future, Beirätin im Verband für Bauen im Bestand sowie außerordentliches Mitglied des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA). 2024 hat sie mit zwei Kolleginnen die sozialverträgliche Architekturunternehmung TOMAS – Transformation of Material and Space gegründet. Sie ist zudem eine der Jurorinnen der diesjährigen ICONIC AWARDS.


Über die ICONIC AWARDS 2025
Mehr Sichtbarkeit, mehr Chancen – die neuen ICONIC AWARDS bieten eine Bühne für die Ideen und Projekte von morgen. Entfalten Netzwerk- und Business-Möglichkeiten und ebnen Wege zu neuen Märkten. Sie richten sich an Architekt*innen, Designer*innen und Unternehmen, die mit visionären Projekten, innovativen Produkten und nachhaltigen Konzepten die Zukunft mitgestalten.
Letzter Einreichungstag: 16. Mai 2025

Über den Autor
Florian Heilmeyer, geboren 1974, lebt und arbeitet mobil, aber überwiegend in Berlin. Er studierte Architektur in Berlin und Rotterdam, und veröffentlichte während des Studiums erste Texte. Er arbeitet seitdem als Kritiker, Journalist, Redakteur, Berater und Kurator am Forschungsfeld Architektur Gesellschaft und Stadt. Er schreibt für die Fach- und Tagespresse weltweit, ist Herausgeber und Mitherausgeber zahlreicher Fachbücher und war an zahlreichen Ausstellungen beteiligt, darunter zweimal am deutschen Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig. Aktuell begleitet er die Ausstellung „Umbau“ von Gerkan Marg und Partner auf ihrer Welttournee.”
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