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NEOO
NEOO, der erste hundertprozentig zirkuläre Teppichboden © OBJECT CARPET GmbH

Zwischen Sustainability-Versprechen und CO2-Zertifikaten auf Websites und in Werbekampagnen der Möbelindustrie könnte der Eindruck aufkommen, als hätte diese sich in den letzten Jahren in eine wahre Vorzeige-Branche verwandelt. Doch wie nachhaltig ist sie eigentlich? Laut eines EU-Reports aus dem Jahr 2018 beläuft sich der Müll der Möbelbranche innerhalb der Europäischen Union auf knapp 11 Millionen Tonnen. Diese Zahl entspricht auch der Menge an Möbeln, die in Europa neu gefertigt werden. 80 bis 90 Prozent davon werden verbrannt oder auf Mülldeponien entsorgt, nur etwa 10 Prozent werden recycelt (Quelle: European Environmental Bureau). Nachhaltig? Von wegen! Ein Umdenken und eine ökologisch verantwortungsbewusstere Haltung sind dringend notwendig.

Von Sofia Wrede

Strengere Vorgaben durch EU-Taxonomien sollen auch bei dieser Branche endlich zu mehr Nachhaltigkeit entlang der Produktionsprozesse führen. Hersteller müssen CO2-Emissionen senken und Informationen zu ihrer Klimabilanz veröffentlichen – und versuchen zeitgleich, ihre Wettbewerbsfähigkeit in einem umkämpften Marktumfeld zu steigern. Zu einer echten Trendwende ist es noch nicht gekommen. Dennoch beobachten wir immer mehr Unternehmen, die intelligent Ressourcen sparen und sich so als Vorreiter in dem Feld präsentieren.

Wie sie das machen – und wie die gesamte Möbelindustrie Verantwortung übernehmen könnte? Stichwort: zirkuläre Wertschöpfung. Unternehmen und Forschungsinstitute arbeiten zunehmend daran, Materialströme zu lenken und regional verfügbare Wertstoffe wieder in den Kreislauf einzuspeisen. Insbesondere sind Recycling, der sparsame Einsatz von Materialien und Komponenten sowie das Reduzieren der aufgewendeten Energie und des Müllaufkommens einer der wichtigsten Hebel für eine effektive unternehmerische Nachhaltigkeitsstrategie.  

Ressourcen einsparen: Intelligentes Design erhöht die Nutzbarkeit

J*GAST
J*GAST ist das Produkt der Entwicklungsarbeit des Interior Design Studios Holzrausch in Zusammenarbeit mit den Designer*innen Ana Relvão, Gerhardt Kellermann und Jan Heinzelmann, © Holzrausch GmbH

Inspirierendes Beispiel für konsequente Materialeinsparung, intelligente Verarbeitungsprozesse und höchste Qualitätsstandards ist die Küche J*GAST. Das Produkt ist die Entwicklungsarbeit des Interior Design Studios Holzrausch – bekannt für seine Schreinerkunst und Maßanfertigungen – in Zusammenarbeit mit den Designer*innen Ana Relvão, Gerhardt Kellermann und Jan Heinzelmann. Sie kombinierten für die Küche einen innovativen Systemansatz, ein wohnliches, raumübergreifend überzeugendes Möbeldesign und Elemente feinsinnigen Schreinerhandwerks.

© Holzrausch GmbH

Mit ihrem Entwurf für die Küche hat sich das Designkollektiv bewusst von der klassischen Korpusform der Küche gelöst. Eine Standardküche besteht aus mehreren boxförmigen Korpora, die aneinander befestigt eine Reihe doppelter Seitenwände aufweist. Anders bei J*GAST: Diese Küche erklärt einen flachen Rahmen, der an der Wand befestigt wird, zum Ausgangspunkt individueller Gestaltung. Die patentierte Struktur aus Holz ist Träger für Schubladen, Arbeitsflächen und Stauräume, die daran durch ein Stecksystem angebracht werden. Weil doppelte Wände durch dieses Prinzip vermieden werden, spart das System im Vergleich zu anderen Küchen 45 Prozent an Ressourcen ein.

Nach Aussage des J*GAST-Kollektivs basiert die Philosophie auf einer „hedonistischen Nachhaltigkeit“. Dabei handele es sich um eine Nachhaltigkeit, „die sich durch Design und Intelligenz auszeichnet und so Raum für mehr Lebensfreude schafft.“ Individuell nach den Wünschen der Kunden konfiguriert, löst der Entwurf bewusst bisherige Maßstäbe der Küchenrezeption auf: Ob Sideboard, Schrank oder Regal, als vielseitig wandelbares Möbelstück ergibt sich seine Funktion nicht immer auf den ersten Blick. Stattdessen besticht die J*GAST-Küche durch ihre hochwertige Ausgestaltung und viele handwerkliche Details wie zarte Fugen und runde Ausformungen. J*GAST beweist, dass die Reduktion von eingesetzten Materialien keinesfalls die Ästhetik eines Designs beeinträchtigt: Aus Echtholz und Echtholzfurnier gefertigt, ist die Küche elegant und dank einer Vielfalt ästhetischer Oberflächen auch für jede stilistische Einrichtungssprache individualisierbar.

Monomaterialität: Reduktion als Schlüssel zur Kreislaufwirtschaft

Bei ihren Prozessoptimierungen rund um die eigenen Fertigungsabläufe orientieren sich Unternehmen auch an der EU-Richtlinie für Ökodesign. 2009 erstmals als „europäischer Rechtsrahmen für die Festlegung von Anforderungen an eine umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte“ verabschiedet, werden die Bestimmungen nun immer konkreter und fordern mehr von den Unternehmen ein.

Im Mittelpunkt der Richtlinie steht die Circular Economy: Dieses Produktions- und Nutzungsmodell sieht vor, dass bestehende Produkte und Materialien so lange wie möglich wiederverwendet, geteilt und repariert werden, um ihren Lebenszyklus zu verlängern. Wie das möglich ist? Ein Objekt muss vollständig in seine einzelnen Bestandteile trennbar sein – nur die Reinheit der Materialien ermöglicht die bestmögliche Wiederverwendung. Unternehmen gestalten ihre Produkte kreislauffähig, wenn sie in ihre Einzelteile aufteilbar sind. Dafür sollten sie frei von Klebstoffen sein und keine Schadstoffe beinhalten, wenn diese zum Beispiel aus rechtlichen Gründen die Weiterverarbeitung unmöglich machen könnten.

Im Fokus der Hersteller sind deswegen Produkte, die monomateriell sind und sortenrein weiterverarbeitet werden können: Dadurch fallen kostenintensive Trennverfahren weg, Produkte können dem Kreislaufverfahren ohne aufwendige Zwischenschritte und stoffliche Verluste zugeführt werden.

NEOO
© OBJECT CARPET

Ein beeindruckendes Beispiel ist NEOO von OBJECT CARPET: der erste hundertprozentig zirkuläre Teppichboden. Aus reinem, teilweise recyceltem Polyester gefertigt, setzt NEOO einen Kontrapunkt zu regulären Teppichböden, die aus einer Kombination verschiedener Materialien hergestellt und untrennbar verklebt oder verwebt sind. Teppiche dieser Art können nur noch der Müllverbrennung zugeführt werden. Für NEOO setzen die Produktentwickler auf einen Kleber aus Polyester: So ist der Teppichboden monomateriell und kann vollständig recycelt werden. Allerdings reicht die Möglichkeit, ein Objekt in den Kreislauf einzuspeisen, heute kaum noch aus. Ein Unternehmen, das authentisch mit der Kreislauffähigkeit seiner Produkte wirbt, definiert den Prozess der Rückführung eigenständig. Es organisiert wie OBJECT CARPET, der Hersteller von NEOO, die Rücknahme von Produkten und auch die Weiterverarbeitung. Oder es arbeitet in einem Netzwerk, welches die Überreste der Möbel recycelt, statt sie zu verbrennen. NEOO-Teppiche sind zudem mit einem Tag versehen, welches die Materialzusammensetzung erklärt und auf die Zirkularität hinweist, damit der Teppich nicht versehentlich verbrannt wird.

NEOO
Für NEOO setzen die Produktentwickler auf einen Kleber aus Polyester: So ist der Teppichboden monomateriell und kann vollständig recycelt werden, © OBJECT CARPET

Möbelindustrie und Produktdesigner*innen arbeiten an kreativen Prozessen, um althergebrachte Produktionsmethoden produktspezifisch zu hinterfragen und im Sinne einer nachhaltigen Verarbeitungskette neu zu gestalten. Hier geht es nicht nur um politische Regelwerke und unternehmerische Positionierungen. Im Fokus steht auch eine Zielgruppe, die ihre Produktauswahl im Kaufprozess an neue Kriterien knüpft:  Beide Projekte – J*GAST und NEOO – zeigen eindrucksvoll, wie die Reduktion von Materialien ein Designobjekt nicht nur objektiv umweltfreundlicher macht, sondern auch die Produktidentität aufwertet, es innovativ und attraktiver macht.

Einfach wird es deswegen nicht für die Möbelbranche: Die neuen Aufgaben machen Investitionen nötig– von der Forschung und Entwicklung über die neuen Produktionsprozesse und veränderte Lieferketten, die aufgebaut werden müssen.


Im Juni 2023 findet die offizielle Preisverleihung und exklusive Gewinner-Ausstellung im Rahmen der imm cologne 2023 sowie der PASSAGEN Interior Design Week 2023 vom 4. bis 7. Juni in Köln statt. Branchengäste und Designinteressierte sind herzlich eingeladen zur Ausstellungseröffnung am 3. Juni in die Design Post Köln zu kommen.

Info: 3. Juni 2023, Ausstellungseröffnung um 19:30 Uhr Get-Together mit Drinks & Flying Dinner, Design Post Köln, Deutz-Mülheimer Str 22A, 50 67 Köln

Die vorgestellten Produkte wurden 2023 mit den ICONIC AWARDS: Innovative Interior ausgezeichnet. Alle Preisträger*innen des Wettbewerbs finden Sie unter www.innovative-interior.de/gewinner.


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