Wie verändert Social Design die Perspektive auf Gestaltungsprozesse? Welche Kriterien sind zu beachten? Und welche Rolle spielt dabei der Begriff der Verantwortung? Wer heute Victor Papanek und Lucius Burckhardt liest, bekommt wichtige Impulse für ein Design, das sich seiner gesellschaftspolitischen Aufgabe bewusst ist.
Von Thomas Wagner
An Schlagworten herrscht kein Mangel, ob sie wohlwollend daherkommen oder in kritischer Absicht geäußert werden. Einerseits wird ganz selbstverständlich die „User Experience“ verbessert, über Nachhaltigkeit nachgedacht und Design grundsätzlich als wesentlicher Faktor bei der „Verbesserung der Welt“ gepriesen. Umgekehrt fordern Titel wie Mike Monteiros „Ruined by Design. How Designers Destroyed the World, and What We Can Do to Fix It“ aus einer aktivistischen Perspektive eine neue Ethik des Gestaltens. Gern werden dann in missionarischer Absicht, begleitet von Epitheta wie „sozial“ oder „radikal“, komplexe und arbeitsteilige Gestaltungsprozesse gelobt oder verdammt. Zum Teil liegt das daran, dass oft genug nebulös bleibt, was und vor allem wie „an die Wurzeln“ gegangen werden und was Social Design von einem Design unterscheiden soll, das seine gesellschaftliche Verantwortung angeblich fortgesetzt ignoriert. Sei der Begriff des Social Design noch so schillernd, so verweist die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren zunehmend über soziale und gesellschaftliche Aspekte, über Einflüsse und Folgen gestalterischer Prozesse diskutiert wird, auf eine Erweiterung der Perspektive auf Design.
Die Gesellschaft gestalten
Im Grunde genommen ist Design immer schon „sozial“. Die Art und Weise, wie Dinge, aber auch Arbeitsprozesse, Dienstleitungen, Institutionen und Kommunikation gestaltet werden, entscheidet naturgemäß mit darüber, wie ein Gemeinwesen sich darstellt und entwickelt, wie Ressourcen eingesetzt, welche Materialien verwendet und wie mit den sozialen Folgen von Produktion, Vertrieb und Konsumption umgegangen wird. Allerdings ist davon oft wenig zu merken. Kurz gesagt: Trotz der Vielfalt der Aspekte steht Social Design für mehr soziale Verantwortung, für ein Gestalten, das seine eigenen Folgen ebenso mitbedenkt wie die Bedingungen, unter denen es entsteht. Im weitesten Sinn betrifft es die Gestaltung der Gesellschaft und die Funktionsweise ihrer Institutionen. Weshalb es wichtiger ist als eine Definition des Begriffs zu liefern, Kriterien zu benennen, nach denen sich „gutes“, sprich seiner sozialen Verantwortung gerecht werdendes Design, von „schlechtem“ unterscheidet, das diese, ob bewusst oder unbewusst, ignoriert. Ein simples Beispiel: Geräte, die sich aufgrund ihrer Funktion, Konstruktion oder Gestalt nicht reparieren lassen, sind unter dem Aspekt des Ressourcenverbrauchs, der Langlebigkeit und der Produktion von Müll weder sozial noch nachhaltig.
Victor Papaneks Polemik
Victor Papanek (1927 bis 1998) gilt als einer der Vordenker und Propagandisten eines Designs, das soziale und gesamtgesellschaftliche Perspektiven bewusst in den Vordergrund rückt. Papanek stammt ursprünglich aus Wien, von wo aus er 1939 in die USA emigrieren musste. Als er dort 1971 „Design for the Real World. Human Ecology and Social Change“ veröffentlicht (die erste Ausgabe war 1970 auf Schwedisch erschienen), greift er die Designer-Zunft frontal an: „Es gibt Berufe, die mehr Schaden anrichten als der des Industriedesigners, aber viele sind es nicht. Verlogener ist wahrscheinlich nur noch ein Beruf: Werbung zu machen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie Dinge kaufen müssen, die sie nicht brauchen, um Geld, das sie nicht haben, damit sie andere beeindrucken, denen das egal ist, – das ist vermutlich der schlimmste Beruf, den es heute gibt.“
In polemischem Furor fügt er hinzu: „Die industrielle Formgebung braut eine Mischung aus den billigen Idiotien zusammen, die von den Werbeleuten verhökert werden, und landet damit gleich auf Rang 2. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass erwachsene Menschen sich hinsetzen und ernsthaft elektrische Haarbürsten, strassbesetzte Schuhlöffel und Nerzteppichböden für Badezimmer entwerfen, um dann komplizierte Strategien auszuarbeiten, wie man diese erzeugen und an Millionen Menschen verkaufen kann.“ Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten: Victor Papaneks provokante Thesen führen prompt zu seinem Ausschluss aus der Industrial Designers Society of America (IDSA), machen ihn aber international berühmt. Als Schlüsselwerk der kritischen Designbewegung der 1970er-Jahre gefeiert, wird sein Buch, das im ersten Teil analysiert „Wie es ist“, um im zweiten zu beschreiben „Wie es sein könnte“, in zahlreiche Sprachen übersetzt und avanciert zu einer der meist gelesenen Designpublikationen aller Zeiten.
Je deutlicher Klimaveränderung, Digitalisierung und Wandel der Arbeitswelt die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft buchstäblich notwendig machen, umso mehr haben Papaneks Thesen das Nachdenken über die soziale Verantwortung des Designs wieder angefacht. Einiges von dem, was er vor einem guten halben Jahrhundert kritisiert hat, ist heute zwar fest im Designdiskurs verankert; die Praxis indes bleibt vielfach in alten Mustern gefangen. Gestaltung wird als zweitranging betrachtet oder auf kosmetische Eingriffe beschränkt. Dass ein Design, das sich dezidiert dem Sozialen in seiner Vielfalt und Komplexität verpflichtet fühlt, angesichts anhaltender Debatten über Ökologie versus Ökonomie, Nachhaltigkeit und Green Design größeren Widerhall findet, liegt nicht zuletzt daran, dass viele der Fragen, die Victor Papanek aufgeworfen hat, bisher entweder ignoriert wurden oder unbeantwortet geblieben sind.
Design muss Probleme erkennen, aufgreifen, definieren und lösen
Gerade weil nebulös bleibt, was unter die Bezeichnung Social Design fällt, schreiben es sich viele auf ihre Fahnen – vom konzeptuellen Autorendesign bis zum Critical Design, vom Design Thinking bis zur Do-it-yourself-Bewegung und einem bunten Design-Aktivismus. Victor Papanek selbst hat sich, was die Aufgabe des Designs angeht, eindeutig positioniert: „Die wichtigste Fähigkeit, die ein Designer in seine Arbeit einbringen kann, ist die Fähigkeit, Probleme zu erkennen, sie aufzugreifen, zu definieren und zu lösen.“ Dabei müsse das Design den existierenden Problemen entsprechen, wobei die „Anzahl der Probleme und ihre Komplexität“ in einem solchen Maße gestiegen seien, „dass neue und bessere Lösungen notwendig sind“. Die Welt solle nicht hübscher gemacht, sondern substantiell verbessert werden. Was genau das heißen und wie das geschehen soll, lässt sich nur konkret von Fall zu Fall beurteilen.
We are all handicapped
Papanek geht, jenseits der heute oft üblichen Überlegenheitsgesten, gerade nicht vom Menschen als einem omnipotenten Gestalter aus. Für ihn ist er kein Halbgott, sondern ein Mängelwesen. Um seine physischen, geistigen und sozialen Defizite zu kompensieren, erschaffe der Mensch eine Kultur und gestalte die Welt auf eine ihm angemessene Weise. „Design for the Real World“, der Titel von Papaneks Hauptwerk, trägt dem Rechnung. Die „reale“ Welt ist eine, in der alle „handicapped“ sind. In einem Diagramm hat Papanek aufgelistet, wie er das meint: „Handicapped“ bezeichnet weniger das im Deutschen problematische „behindert sein“, als die Tatsache, dass der Mensch in vielerlei Hinsicht physisch und psychisch-geistig nicht perfekt an seine Umwelt angepasst ist. In diesem Sinn physisch, psychisch, emotional, sozial, kulturell, ökonomisch, politisch und mehr eingeschränkt oder in bestimmter Weise beschränkt sind Babys und kleine Kinder, Soldaten und Gefängnisinsassen, Ausländer, Minderheiten und überhaupt alle jungen und alle erwachsenen Menschen, ganz gleich, ob sie in mehr oder weniger entwickelten Ländern leben.
Das Soziale der Gestaltung bedingt die Gestaltung des Sozialen
Da das Soziale der Gestaltung die Gestaltung des Sozialen bedingt, bringt jede Gesellschaft das Design hervor, das ihr entspricht. Je irreparabler die Schäden sind, die eine globale Wachstumsökonomie verursacht, und je bedrohlicher die Notlagen, in die sie immer mehr Gemeinwesen stürzt, desto schriller, aber auch dringlicher werden die Rufe nach Umkehr: „Designer und Planer“, so Papanek, „teilen sich die Verantwortung für fast alle unsere Produkte und Werkzeuge, und damit auch für fast alle Fehler, die wir an unserer Umwelt begangen haben. Sie sind entweder wegen der schlechten Gestaltung verantwortlich oder wegen ihrer Passivität: weil sie ihre verantwortungsbewusste Kreativität verschleudert haben, weil sie nicht involviert sein wollten, weil sie ,sich durchschummelten‘“.
Design ist unsichtbar
Während Papanek als Teil einer Hippie-Moderne für viele eine umstrittene Figur bleibt, macht Lucius Burckhardt (1925 bis 2003) unter dem Titel „Design ist unsichtbar“ 1980 ebenfalls deutlich, dass, wer gestaltet, über die Form der Dinge hinaus auch all die sozialen Kontexte, Einflüsse und Folgen einzubeziehen habe. Für Burckhardt ist es „die institutionell-organisatorische“ Komponente, „über welche der Designer ständig mitbestimmt, die aber durch die gängige Art der Einteilung unserer Umwelt im Verborgenen bleibt. Indem nämlich die Welt nach Gegenständen eingeteilt wird und das Unsichtbare dabei als Randbedingung auftritt, wird die Welt auch gestaltet. Auch das Nicht-Verändern der Institutionen ist ja – bei sich entwickelnder technischer Gegenstandswelt – eine Gestaltung: Der Röntgenapparat wird für die Bedienung durch die Röntgenschwester ausgestattet.“ Während das konventionelle Design seine Sozialfunktion nicht bemerkt (oder ignoriert), könnte, so Burckhardt, mit unsichtbarem Design auch „ein Design von morgen“ gemeint sein, „das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist“. Auch darin steckt jede Menge Sprengstoff.
Victor Papanek – zum Propheten einer Gegenkultur stilisiert, die im Konsumparadies aus den Träumen der Moderne erwacht war und verärgert auf deren Ambivalenzen reagierte –, zielte in seiner Kritik zuallererst auf die amerikanische Konsumkultur und die Mentalität des „One-size-fits-all“ der Massenproduktion. Dem Design, das ihr dient, schreibt er die Schuld an der Zerstörung der Umwelt ebenso zu wie am Heraufziehen einer globalen kulturellen Homogenität. Seinen Realitätscheck nennt er „Anleitung für eine humane Ökologie und sozialen Wandel“. Burckhardt hingegen spricht mehr über das, was Designerinnen und Designer nicht sehen oder was ihrer Gestaltung entzogen wird. Seit Begriffe wie Wachstum und Fortschritt angesichts von Erderwärmung, Klimakrise und Artensterben selbst bei notorischen Konsumverfechtern an Strahlkraft eingebüßt haben, klingen beide Ansätze plötzlich selbstverständlich.
Gestaltung soll allen Menschen dienen
In guter humanistischer Tradition postuliert Victor Papanek, Gestaltung solle dem Menschen dienen – unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Handycap oder sozialer Stellung. Den meisten Designern und Planern wirft er vor, isoliert vorzugehen und mit Scheuklappen durch die Gegend zu laufen: „Damit sehen sie auch nicht, ob nicht ähnliche Probleme anderswo oder früher schon einmal einer intelligenten Lösung zugeführt wurden.“ Solle Design, so fasst Papanek seine Analyse zusammen, „ökologisch verantwortungsbewusst und sozial verträglich sein“, müsse es „ein Maximum an Vielfalt mit einem Minimum an Inventar schaffen“, ein Maximum mit Hilfe eines Minimums erzielen: „Das bedeutet, weniger konsumieren, Dinge länger benutzen und sparsam mit wiederverwertbaren Materialien umgehen.“ Ganz gleich, ob man solches Denken ganzheitlich, vernetzt, ökologisch, systemisch, nachhaltig oder sozial nennt, nur wenn es konsequent verfolgt wird, kann es mehr Probleme lösen als schaffen. Willkommen in der Gegenwart!
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