In der dicht bebauten und stark versiegelten österreichischen Hauptstadt bekommt man längst erste Auswirkungen des Klimawandels zu spüren. Klar, dass sich die Vienna Design Week vermehrt mit zirkulären Prozessen und deren Ästhetik auseinandersetzt.
von Markus Hieke
Wer Wien jenseits seiner prächtigen Sehenswürdigkeiten wenig kennt, braucht nur jedes Jahr zur Vienna Design Week kommen. Ein Ausflug zum Festival lohnt, um einen Eindruck von der österreichischen Sicht auf die angewandte Kunst und ihre Verortung zwischen nord-, ost-, süd- und westeuropäischem Design zu gewinnen. Seit 18 Jahren gibt es das Festival. 2021 trat Gabriel Roland als Direktor in die Fußstapfen der Gründer*innen Lilli Hollein, Tulga Beyerle und Thomas Geisler, versammelt Designnachwuchs, Kunsthandwerk, öffentliche Institutionen, nationale ebenso wie internationale Positionen. Mit jeder Ausgabe sucht sich das Team einen neuen Fokusbezirk und eine neue Zentrale, die üblicherweise eine Zwischennutzung von kurz vor Abriss oder Umbau stehenden Immobilien vorsieht. 2024 war das anders.
Heuer, wie es in Österreich heißt, zog die Hauptausstellung in einen Rohbau, der Teil eines im Bau befindlichen Stadtquartiers im dritten Bezirk ist. Deckenträger aus Holz, Solardach, Holzfassade und großzügige Fensterbänder entlang des 320 Meter langen Baus kündigen eine ressourcensensible Projektentwicklung an. Nicht sichtbar ist die Erdwärmeanlage, die die „Docks“, wie das vom Wiener Architekturbüro ARTEC geplante Projekt heißt, einmal beheizen soll. Bald wird der Neubau nicht nur Ateliers, Büros, Dienstleistung und Gastronomie einen gut angebundenen Ort bieten, sondern fungiert auch als visueller Abschluss und Lärmschutz zwischen dem vielbefahrenen Landstraßer Gürtel und dem Quartier, das künftig 4.000 Menschen bewohnen werden.
Zwischennutzung im Rohbau
Die Vienna Design Week erweckte diesen Ort nun vorab zum Leben. Nackter Estrichboden und ungeweißte Wände unterstrichen den unprätentiösen Charakter, der die hiesige Design Week unkommerzieller wirken lässt als vergleichbare Festivals. Wenngleich man auf diese Art Gefahr läuft, seinem inhärenten Ziel im Wege zu stehen, nämlich die Industrie und damit auf lange Sicht die Massen zu bewegen. Anschluss zum konsumgesellschaftlichen Alltag findet die zehntägige Veranstaltung dennoch: Etwa mithilfe von Sponsoring-Partnerschaften wie mit Ikea. Oder anhand von kollaborativen Projekten wie zwischen dem Traditionsunternehmen Lobmeyr und der Designerin Flora Lechner im Rahmen des Formats „Passionswege“. Lechner entwarf ein funkelndes Mobile, die tanzende Interpretation eines Kristalllüsters. In Wien steht Lobmeyr sowohl für Luxus als auch für Identität. Und so zeigt sich darin auch ein Designverständnis, das weniger elitär besetzt ist – was die Vienna Design Week auch für ein Publikum jenseits des eingeschworenen Designdiskurses sympathisch und nahbar macht.
Vom Tunnelaushub zum Backstein
Im Headquarter selbst genau wie an weiteren Orten in der Stadt zogen sich die Themen Zirkularität, Ressourceneffizienz und Klimaverantwortung wie ein roter Faden durch die Woche. Bereits beim Betreten der Festivalzentrale wurde das sichtbar. Das Wiener Designkollektiv Studio dreiSt gestaltete hier das temporäre Café samt halbrundem Tresen und Tischen. Deren Sockel waren aus lose gestapelten Ziegelsteinen konstruiert, als Tischoberfläche dienten geflieste Platten. Aus Altholz entstanden Sitzhocker im DIY-Stil. Die Fliesen und Lehmziegel stammen aus einem Projekt, das sich in einem der nächsten Räume genauer betrachten ließ: In Kooperation mit dem Atelier LUMA in Arles stieß die Wirtschaftsagentur Wien das Pilotprojekt Biofabrique Vienna an. Studierende des Instituts für Architektur und Entwerfen an der TU Wien entwickelten darin Methoden, wie sich ungenutzte lokale Ressourcen als Materialien für Architektur und Design verwenden ließen. Zum Hauptrohstoff für das Projekt wurde der Erdaushub der aktuell im Ausbau befindlichen Wiener U-Bahnlinien 2 und 5.
„Mit der Biofabrique Vienna haben wir einen neuen Ansatz in Forschung und Entwicklung gestartet, bei dem Kreativwirtschaft, Industrie und Wissenschaft eng zusammenarbeiten“, so Elisabeth Noever-Ginthör, die das Projekt bei der Wirtschaftsagentur Wien verantwortet. Die Hoffnung ist es, dass Ergebnisse des Experiments bei der Gestaltung der U-Bahnstationen zum Einsatz kommen – wären da nicht die regulatorischen Hürden.
Müll, Trash oder trashy?
Direkt nebenan setzten sich Nina Sieverding und Anton Rahlwes (the thing magazine) in ihrer Ausstellung „Fokus: Trash“ mit der Frage auseinander, wo die Grenzen liegen zwischen Müll als Stilmittel, als Wertstoff oder als lästiger Überrest einer überindustrialisierten Gesellschaft. Eine erste Erkenntnis der Kurator*innen lautet: Müll gibt es, seit es Menschen gibt. „Die Archäologie hätte es schwer ohne den Müll: Wenn der Müll unserer Vorfahr*innen nicht wäre, dann wüssten wir heute sehr viel weniger über deren Lebensweisen“, beschreiben Sieverding und Rahlwes. Eine weitere Erkenntnis: „Ein gesellschaftlicher Konsens, der von Strukturen und Normen, teilweise sogar von Gesetzen manifestiert wird, gibt uns vor, was weg muss und was bleiben darf.“ Sieverding und Rahlwes machten sich von diesen Normen frei und präsentierten, was im weitesten Sinne als „Trash“ stigmatisiert, als „trashy“ persifliert wird oder was – zuvor Müll – anhand von Up- oder Recycling eine neue Wertschätzung erfährt. Aus 30 gezeigten Arbeiten lassen sich drei hervorheben:
Wegwerfkultur sichtbar machen
Mit „Rubbish Glazes“ entwickelte Hannah Mackaness verschiedenfarbige Keramikglasuren aus Asche, die sie durch Verbrennung bestimmter Objekte gewann. Die Designerin reflektiert mit ihrer Arbeit die Umweltauswirkungen, die die energetische Abfallverwertung mit sich bringt. Denn in den Ascheüberresten, die üblicherweise in der Natur entsorgt werden, sind oft Schwermetalle und Schadstoffe enthaltenden. Um hierauf hinzuweisen, sucht Mackaness nach einem alternativen Ansatz der Wertfindung. Auch Louis Funke nutzt Abfall als Rohstoff, jedoch ohne ihn vorab mechanisch oder thermisch zu bearbeiten. Statt sein Ausgangsmaterial, PET-Flaschen, Blechdosen oder Gurkengläser zu verbergen, inszeniert er sie in seinem Kronleuchter als bunte Gestaltungselemente und stellt damit unsere allgemein verstandene Idee von Müll in Frage. Zweifelsfrei anwendungsorientierter ist daneben „Constructive Pulp Board“, ein nach dem Prinzip von Wellpappe ausgesteiftes Plattenmaterial aus recyceltem Papierabfall und Reisleim. Entwickelt haben es Heiko Bauer, Ben Matteo Kellner und Lena Rimmel während ihres Studiums an der Hochschule Düsseldorf. Die Herkunft des Ausgangsmaterials wird dabei nicht etwa verborgen, sondern macht anhand von groben Fragmenten auf den Massenkonsum von Papiererzeugnissen aufmerksam.
Simplifizierung als Schlüssel zum Kreislauf
Im Rahmen der Gemeinschaftsschau „Specular: Emerging Design from Cologne“ präsentierte Heiko Bauer noch ein weiteres Projekt: den „Compression Stool“, der aus einem einzigen Metallblech, einem fest verspannten Drahtseil und wenigen Nieten in Form gebracht wird. Mit dem Hocker veranschaulicht der Designer, wie scheinbar mühelos sich aus einem dünnen Monomaterial ein dreidimensionales Möbel schaffen lässt. Auch Darja Malesic aus Slowenien setzt mit ihrem Projekt „Corn Dolly“, das in der Ausstellung „Crafting Futures“ gezeigt wurde, auf konsequente Materialreduktion. Eine Gummisohle und ein Geflecht aus Maishüllen bilden die Grundzutaten ihres rezyklierbaren und reparierbaren Schuhs – ein Gegenentwurf zu Fast-Fashion und Wegwerfkultur. Modedesignerin Cindy Fodor wiederum untersucht in „Metabolism“ die Potenziale von Biokunststoffen für den Einsatz als nachhaltige und ästhetische Alternative zu synthetischen Textilien im Fashion-Bereich.
Klimaresilienz fördern
Ein Erlebnisprojekt in der Stadt befasste sich schließlich mit Auswirkungen des Klimawandels, vor allem aber mit mikroklimatischen Potenzialen von Wiener Innenhöfen. Im Rahmen der „Klimahöfe“ lud Future Problems Architecture Studio zu geführten Rundgängen durch Hinterhöfe im 17. Bezirk ein, um so einen Austausch zwischen Bewohner*innen und Expert*innen zu initiieren und den Blick für Entsiegelung, Begrünung und kreative Gemeinschaftsnutzung von Freiflächen zu schärfen.
Aktiv werden, Ideen mittragen und umsetzen, muss der Appell nun an Industrie, Stadt- und Hausverwaltungen ebenso wie an die Gesetzgebung lauten – damit nachhaltige Ansätze wie die genannten nicht im Experimentierstatus enden.
Studio: Farbige Fahnen kennzeichneten die jährlich
gemessene Sonneneinstrahlung am jeweiligen Ort. /
Foto: © eSeL.at – Robert Puteanu
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